07.11.1997
 



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junge Welt

*  Der Göktepe-Prozeß - exemplarisch für den Zustand der Türkei
Von Pascal Beucker

Angesichts der immer noch ungebrochen großen öffentlichen Aufmerksamkeit, die der »Fall Göktepe« in der Türkei erregt, schlug Staatspräsident Süleyman Demirel am »Tag der Presse« starke Töne an: »Die türkische Ehre« stünde auf dem Spiel. Der Prozeß gegen die elf des Mordes an dem Journalisten Metin Göktepe angeklagten Polizisten habe sich zu einem »Problem« entwickelt, »das gelöst werden muß«. Der Eindruck, hier solle etwas vertuscht werden, müsse schleunigst beseitigt werden. Doch Demirels Intervention vom 24. Juli dieses Jahres verhallte ungehört. Auch zweiundzwanzig Monate nach der Ermordung Göktepes und dreizehn Monate nach der Eröffnung des Prozesses gegen seine mutmaßlichen Mörder ist ein Ende nicht in Sicht.

Am 18. Oktober 1996 begann der Prozeß gegen die mutmaßlichen Mörder Metin Göktepes. Eigentlich sollte er bereits am 15. Juli eröffnet werden. Doch das oberste Gericht verfügte eine Verlegung in die Kreisstadt Aydin. Offiziell aus »Sicherheitsgründen« - eine in der Türkei beliebte Variante, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu reduzieren. Dort wurde nur einmal verhandelt, dann wurde der Prozeßort auf Intervention des Justizministeriums erneut verlegt: in die zentralanatolische Garnisonsstadt Afyon - wie Aydin rund 800 Kilometer vom Tatort Istanbul entfernt. Hier schleppt sich der Prozeß nun seit Februar dieses Jahres dahin. Elf Polizisten sind des gemeinschaftlichen Mordes an dem Reporter der linken Tageszeitung Evrensel angeklagt. Das Verfahren gegen 37 weitere Polizeibeamte, denen Beihilfe vorgeworfen wird, ist inzwischen von der Hauptverhandlung abgetrennt worden und wird wohl irgendwann sang- und klanglos eingestellt werden.

Eine Verurteilung der Angeklagten erscheint ungewisser denn je. So ist die am letzten Prozeßtag, dem 11. Oktober, vor dem Schwurgericht im südanatolischen Afyon durchgeführte Gegenüberstellung der Beschuldigten mit drei Tatzeugen eineinhalb Jahre nach dem am 8. Januar 1996 verübten Mord nur noch von begrenztem Aussagewert. Nur vier Polizisten konnten von einem der Zeugen, Deniz Özcan, eindeutig identifiziert werden. Die Verteidigung zieht diese Identifizierung in Zweifel. Seit Selcuk Bayraktaroglu, Saffet Hizarci, Fikret Kayacan, Burhan Koc, Seydi Battal Köse, Sedai Korkmaz, Metin Kusat, Suayip Mutluer, Murat Polat, Ilhan Sarioglu und Tuncay Uzun das erste Mal im August dieses Jahres vor Gericht erschienen sind, wurden ungezählte Bilder von ihnen in den türkischen Medien veröffentlicht. Das macht eine Gegenüberstellung inzwischen in der Tat fragwürdig.

Erst Anfang August waren neun der Angeklagten nach persönlicher Intervention des gerade inthronisierten Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz in Untersuchungshaft genommen worden - vier von ihnen nur für einen Monat. Ihre Entlassung erfolgte ohne Begründung. Als die Freigelassenen das Gerichtsgebäude verließen, warteten bereits Anhänger der faschistischen Partei MHP auf die vier Polizisten. »Die Türkei ist stolz auf euch«, skandierten die Anhänger des im April verstorbenen Alparslan Türkes. Sie schwenkten türkische Fahnen und schlachteten auf der Straße ein »Opferlamm« zu Ehren der uniformierten Mörder.

Am 15. September, dem achten Verhandlungstag, widerriefen die Angeklagten alle sie belastenden Aussagen, die sie vor einer Untersuchungskommission des türkischen Innenministeriums und in einer nicht öffentlichen gerichtlichen Vernehmung im Sommer 1996 gemacht hatten. Damals »begründeten« auch einige der Tatbeteiligten zynisch die Notwendigkeit der »Bestrafung« Göktepes: Er habe die türkische Nationalhymne nicht singen wollen und den islamischen Gebetsruf auf arabisch nicht auswendig aufsagen können. Nun behaupten die Polizisten, sie seien zu diesen Aussagen von den Polizeibehörden zum Teil unter Folter gezwungen worden. Sie seien jedoch unschuldig.

Die Verteidigung präsentierte eine neue Mordtheorie: Nicht Polizisten, sondern die auch in der BRD verbotene linksterroristische DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), besser bekannt unter ihrem früheren Namen Dev-Sol (Revolutionäre Linke), sei für die Ermordung Göktepes verantwortlich. Sie habe damit den Mord an dem Großunternehmer Özdemir Sabanci vertuschen wollen. Das gibt jedoch wenig Sinn: Zum einen wurde Sabanci zusammen mit dem Vorsitzenden des türkischen Toyota-Konzerns, Haluk Görgün, sowie der Sekretärin Nilgün Hasefe erschossen, als Göktepe bereits tot war. Zum anderen bekannte sich Dev-Sol unmittelbar nach den Anschlag zu dieser Tat. Auch die bisherigen Ermittlungsergebnisse im Göktepe-Prozeß widersprechen der Theorie der Verteidigung, ebenso die Ergebnisse einer Untersuchungskommission des Innenministeriums und einer Parlamentskommission.

Fast zwei Jahre sind inzwischen seit der Ermordung Metin Göktepes vergangen. Sein Tod löste eine landesweite Protestwelle aus - er wurde zum Symbol für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der Türkei. An der Beerdigung Göktepes nahmen über 50 000 Menschen teil. Die Journalistenverbände machten mobil, es kam zu Massenprotesten. Besonders erregte die Menschen, daß der türkische Staat wieder einmal versuchte zu vertuschen, wo es nichts mehr zu vertuschen gab. Der Sprecher des Außenministeriums, Nuretin Nurkan, beschuldigte die ausländischen Medien der Falschinformation und drohte Korrespondenten, die weiter über den »angeblichen Foltertod« des Journalisten berichteten, mit Strafverfahren.

Sowohl der Polizeipräsident von Istanbul als auch der türkische Innenminister leugneten schlichtweg, daß sich Göktepe zum Zeitpunkt seines Todes überhaupt in Haft befunden habe. Die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller schloß sich ihrer Sichtweise an: Göktepe sei nie festgenommen worden, und falls doch, sei er vor seinem Tod wieder freigelassen worden. Im Polizeibericht hieß es, der junge Mann sei »von einer Mauer gefallen« und habe sich dabei tödlich verletzt - einer Mauer, die gerade mal einen halben Meter hoch ist.

Als nächste Variante bot die Polizei an, Göktepe sei in einem an die Sporthalle angrenzenden Teehaus plötzlich und unerklärlich »tot vom Stuhl gefallen«. Unhaltbare Theorien: Die Verhaftung war gefilmt worden. Und Dutzende Augenzeugen hatten gesehen, wie und wo Göktepe gestorben war. Çiller sah sich aufgrund des enormen öffentlichen Drucks gezwungen, eine Untersuchung anzuordnen. Der Polizeichef von Eyüp und dreizehn seiner Beamten wurden vorläufig vom Dienst suspendiert. Das Innenministerium setzte eine Kommission ein, die zu dem Ergebnis kam, das schon jeder kannte: daß Göktepe von Polizisten zu Tode gefoltert worden ist. Den über tausendseitigen Ermittlungsbericht veröffentlichte die liberale Tageszeitung Yeni Yüzel in Auszügen Ende April 1996. Er enthält Aussagen von etwa vier Dutzend Polizisten.

Monat für Monat pilgern zwischen tausend und zweitausend Menschen aus allen Teilen der Türkei in das entlegene Afyon, um den Prozeß gegen die Mörder Metin Göktepes zu verfolgen. Länger als einen Tag wird am Stück nicht verhandelt. Dafür nehmen die Demonstranten Fahrtzeiten von bis zu zehn Stunden, ein Großaufgebot von Polizisten und Jandarma, dem Militär unterstellte Sicherheitskräfte, und auf den Dächern postierte Scharfschützen in Kauf. Längst gilt der Göktepe-Prozeß als exemplarischer Fall für den Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Er sei »Ausdruck dafür, daß man der Presse und den Journalisten in der Türkei keinen freien Raum lassen möchte«, so der Vorsitzende des türkischen Journalistenverbandes und Kolumnist der Tageszeitung Milliyet, Nail Güreli. Auch er hat bisher an keinem Verhandlungstag gefehlt. Der Rechtsanwalt und Strafrechtsprofessor an der Uni Bremen Bernd Wagner bilanziert: »Mit zunehmender Dauer liefert dieses Verfahren den Beweis, daß in der heutigen Türkei weder die große Politik noch die Justiz genügend Macht besitzen, um die allgegenwärtige Polizeiwillkür zu bekämpfen.« Wagner ist Mitglied einer bundesdeutschen Menschenrechtsdelegation, die den Göktepe-Prozeß beobachtet.

Kurz vor seinem Tod schrieb der laizistische Journalist und Schriftsteller Turan Dursun in seiner Kolumne für die türkische Zeitung 2000e Dogru: »Wir versuchen die Welt zu verändern. Natürlich werden Drohbriefe kommen. Doch sie werden den Gang der Zeit nicht aufhalten können. Die im Gestrüpp der Dunkelheit verborgenen Lügen werden aufgedeckt werden. Für eine schöne Welt, eine helle Welt, eine Welt, in der Freiheit und Vernunft regieren, sind die Anstrengungen so notwendig wie Wasser und Luft.«

Am 4. September 1990 durchlöcherten sieben Kugeln seinen Körper. Die Mörder entkamen unerkannt. Nicht anders erging es Kemal Kilic. Er wurde am 18. Februar 1993 auf offener Straße von unbekannten Tätern erschossen. Oder Ugur Mumcu, der nicht einmal einen Monat vorher, am 24. Januar, Opfer eines Sprengstoffanschlages geworden war. Als kritischer Journalist lebt es sich in der Türkei gefährlich. Die internationale Journalistenvereinigung »Reporter ohne Grenzen« spricht von 154 gewaltsamen Übergriffen alleine 1996. 25 Journalisten wurden in den neunziger Jahren ermordet. Das bislang letzte Opfer war Metin Göktepe.

Fadime Göktepe, die Mutter des ermordeten Journalisten, kämpft für eine Bestrafung der Täter: »Ich und der Druck der Öffentlichkeit werden alles daran setzen, daß die verantwortlichen Mörder gerecht verurteilt werden.« Der Prozeß wird auch im nächsten Jahr noch fortgesetzt werden.


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