25.06.1997



Marginalien zu Harald Wessel

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Jungle World

*   Marginalien zu Harald Wessel
Von Pascal Beucker

Über einen Vordenker der neuesten "jungen Welt" und seine "Post aus der Provinz".

Es hätte doch noch alles gut werden können: Damals, als der Genosse Ulbricht noch "die neue Melodie" singen wollte und Reden hielt, die mit dem Rat an die jungen Leute endete(n), ihr Blauhemd anzuziehen und den Bürokraten "auf die Bude zu rücken". Damals, als Harald Wessel noch "Mitglied des Redaktionskollegiums und Leiter der Abteilung Wissenschaft der Redaktion Neues Deutschland" war, obwohl Erich Honecker aus Bosheit auch schon mal die im SED-Schriftverkehr vorgeschriebenen Funktionsbezeichnungen "vergaß".

Ja damals, als Wessel und Kurt Turba am FKK-Strand von Heiligendamm ... das berühmte Jugendkommuniqué vom September 1963 im Sommer 1963 zuerst "angedacht" hatten, und die "Dreiundsechziger" (wie man den Forum-Kreis, die NÖS- und Jugendkommuniqué-Leute in Analogie zu den "Achtundsechzigern" im Westen nennen könnte) die Verhältnisse in der DDR für zwei Jahre zum Tanzen gebracht haben sollen. Da sah die realsozialistische Zukunft noch gülden aus. Denn das Jugendkommuniqué "Der Jugend Vertrauen und Verantwortung" folgte unverkennbar dem "Lustprinzip" – das groovte, da ging jeder mit. Wenn denn bloß nicht Honecker und seine moskowitischen Hintermänner gewesen wären! Und das 11. Plenum des ZK der SED 1965, das "das Ende einer Reform, das auch der Anfang vom Ende der DDR gewesen sein könnte" ("junge Welt"), bedeutete. Was hätte nur alles noch aus dem ND-Journalisten Harald Wessel werden können? Wahrscheinlich würde der heute 67jährige als Ehrenmitglied "der Jugendkommissiom beim Politbüro des ZK der SED" die diesjährige "Loveparade", sorry: den "Liebesumzug" in Berlin persönlich abnehmen. Welche Vision: Hunderttausende von Jugendlichen aus ganz Deutschland tanzen zu Techno-Rythmen von der Schlaggitarre im Blauhemd!

Es hat nicht sollen sein. Harald Wessel kann sich eigentlich bis heute nicht richtig erklären, warum das Schicksal ihm und dem deutschen Volk so übel mitgespielt hat: Es muß eine große Verschwörung gewesen sein. Sogar in die Sowjetunion, da ist er sich inzwischen sicher, schickte man ihn 1966 nur deswegen zu einer Reportage, damit er nicht eigenhändig das Schlimmste abwenden konnte. Als er zurückkam, war alles vorbei und der Untergang der DDR besiegelt. Dabei war er so mutvoll gewesen und hatte "Deutschland einig Vaterland" – natürlich als sozialistisches Paradies – doch schon im August 1965 klar vor seinen Augen gehabt. Damals, so zitiert er sich heute selber aus der Erfurter Bezirkszeitung "Das Volk", wagte er die "Prognose", "spätestens im Jahre 2000" werde die "nationale Frage gelöst sein". Doch die Russen (KGB!) und ihre Honeckerschen Helfershelfer (MfS!) haben alles kaputt gemacht. Ja, so war das – alles nachzulesen in Harald Wessels 17teiliger Reihe in der jungen Welt vom Oktober 1995 bis Februar 1996: "Das 11. Plenum – Anfang vom Ende der DDR?"! Da bleibt nur noch Verbitterung.

Es ist nunmal das Schicksal der Deutschen, immer wieder von fremden Mächten unterjocht zu werden: Erst die Wall Street, dann die Russen und – jetzt sogar in der verblichenen DDR – die Amis. Wie ungemütlich ist es doch geworden! Wieso lernen Brandenburger Schulanfänger überhaupt noch "deutsche Muttersprache"? Müßten sie nicht zuerst verballhorntes Englisch lernen? Und keiner liest mehr Wessel, denn der schreibt immer noch deutsch, deutscher geht‘s kaum. Nur gut, daß es wenigstens seit dem 22. Mai eine Tageszeitung gibt, die auch wieder wert aufs Deutsche legt. Die druckt jetzt jeden Freitag seine "Post aus der Provinz", "persönliche Ansichten, wie er sie zwischen 1975 und 1985 allmonatlich in der beliebten DDR-Monatszeitschrift Das Magazin veröffentlichen durfte". Und zwischendurch auch noch andere Erzeugnisse aus der Wessel-Produktion – zum Beispiel seinen flammenden Appell an den gleichaltrigen Kollegen Friedrich Karl Fromme: Abgewickelte aller Bundesländer, vereinigt euch! Denn dem Friedrich Karl ist bei der FAZ auch übel mitgespielt worden, die schickt ihn einfach aufs Altenteil. Dabei hat er auch immer was gegen Russen und Amis gehabt, weswegen im Büro des alten FAZ-Leitartiklers auch die Reichskriegsflagge hing. Er ist, wie Wessel, deutscher Nostalgiker: "Das ist die Flagge, die meiner Zeit, der Zeit, in der ich gerne gelebt hätte, entspricht." Fromme, der in der Blüte seiner Schaffenskraft in dem Verbot der Auschwitz-Lüge "Gesinnungsstrafrecht" heraufziehen sah, ist somit für Wessel jemand mit einer durchaus wertkonservativen Vita.

Da wächst im Alter zusammen, was zusammengehört. Der Fromme ist bestimmt auch empört über die widerwärtigen Auswüchse des Yankee-Kulturimperialismus, die Wessel in seiner kleinen Ortschaft südlich von Berlin heutzutage erleben muß und in seiner "Post aus der Provinz" mit aller Entschlossenheit anprangert: Was für ein schreckliches Land, wo ein Supermarkt-Neubau an die schnell verschleißenden Konsumbaracken nordamerikanischer Vorstädte erinnert und auf Reklameblättern nicht mehr für Hautmilch, sondern für Plasteflaschen mit "Baywatch Aloe Vero Gel", "Baywatch Aftersun Lotion", "Baywatch Sunguard Lotion" ferner für "Young Care Soft Body Lotion", "Young Care Soft Shower Cream" geworben wird! Da kommt man ohne das amerikanisch-deutsche Wörterbuch gar nicht mehr zurecht! Schon die Kinder werden versaut: Die "Märkische Allgemeine" druckte dieser Tage Kinderkleidung-Reklame von C&A zum Schulanfang. Überschrift in bester "Landessprache": "Kid´s World"! Klingt fast so bescheuert wie "Jungle World". "Highlight" der von C&A (Filiale Brandenburg, Jacobstraße/Am Steintor) geschalteten Annonce: "3-teiliges Legging Set" für 89 Deutsche Mark. Schlimm, daß man ein Hemd, eine Weste und eine Hose für Schulmädchen gefälligst "3-teiliges Legging Set" zu nennen hat. Armes Deutschland.

Wenigstens gibt es jetzt wieder die gute alte "junge Welt" als Insel der deutschen Vernunft in einem Meer der Verschwörung. In ihr wird wieder Tacheles geredet, wenn es um "die Hysterie zu kurz gekommener Altlinker über die ‘deutschen Verhältnisse’, die nur durch eine ‘kleine radikale Minderheit’ aufzubrechen seien", geht. Hier weiß man noch, daß schon Rudi Dutschke die historische Notwendigkeit der Weltrevolution nur "aus seinen und anderer Orgasmus-Schwierigkeiten ableitete" (Werner Pirker). Endlich wieder eine deutsche Tageszeitung, in der auch die "unangenehmen Seiten der Geschichte" nicht mehr ausgeblendet werden – beispielsweise, daß der Marshall-Plan "maßgeblich zur Teilung Deutschlands" beitrug (Holger Becker). Eben eine Zeitung nach Harald Wessels Geschmack.

Über Irene Runge wesselte "Heinrich von Grauberger" – sich per Pseudonym zu adeln, das hat doch was! – in der "jungen Welt" vom 3. Juni: Wäre diese Dame etwas jünger, könnte man sie als Nachwuchsdichterin durchgehen lassen. Als was könnte man wohl Harald Wessel heute durchgehen lassen? Früher, in seinen besseren Tagen, soll er mal anders gewesen sein: Vorlaut und respektlos – genauso wie die "junge Welt" für kurze Zeit. Jetzt ist er nur noch der deutsche Spießer, den er selber mal bekämpft haben will. Schade.

Die kursiv gesetzten Passagen stammen aus "junge Welt"-Artikeln von Harald Wessel bzw. Heinrich von Grauberger.


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