30.10.1997



Friedenspreis und Folterzellen

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*   Friedenspreis und Folterzellen
Von Pascal Beucker

Der blinde Anwalt und Schriftsteller Esber Yagmurdereli wurde in der Türkei verhaftet. Er hat noch gut 22 Jahre Haft offen.

"Bis dieser Mann aus dem Gefängnis entlassen wird, werde ich nicht mehr weiterschreiben." Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Yasar Kemal, läßt keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen, als er zum Abschluß seines Deutschlandbesuches am Freitag im Großen Sendesaal des WDR in Köln über den Umgang des türkischen Staates mit dem Rechtsanwalt und Schriftsteller Esber Yagmurdereli spricht. Ihn getroffen zu haben, sei ein "Glücksfall" in seinem Leben gewesen. Überschwenglich sind die Worte Kemals über "meinen Freund": Er sei "ein Mann, der obwohl er im Dunkeln lebt, voller Hoffnung ist für die Liebe zwischen den Menschen." Kemal lernte den Menschenrechtler Ende 1991 kennen. Yagmurdereli war gerade aus der Haft entlassen worden. Fast vierzehn Jahre hatte der heute 52jährige im Gefängnis sitzen müssen - etwa die Hälfte der Zeit in Einzelhaft. Wegen vermeintlicher Unterstützung einer illegalen linksradikalen Organisation und des "Versuchs zur Veränderung der verfassungsmäßigen Ordnung mit Waffengewalt" verurteilte ein türkisches Gericht 1978 den seit seinem zehnten Lebensjahr blinden Yagmurdereli zunächst zum Tode. Die Verurteilung gründete auf einem durch Folter erzwungenen "Geständnis". Die Strafe wurde später in lebenslange Haft umgewandelt. Das bedeutet in der Türkei 36 Jahre. 1991 kam er im Rahmen einer Amnestie auf Bewährung frei.

Jetzt ist Yagmurdereli wieder eingekerkert. In einer Live-Sendung des Privatsenders "Kanal-D" hatte sich der Menschenrechtler am vergangenen Montag einmal mehr kritisch über die türkische Justiz und die mangelnde Meinungsfreiheit in der Türkei geäußert. Außerdem rief er die Menschen in der Türkei dazu auf, für mehr Demokratie zu kämpfen. Als er das Studio kurz nach Mitternacht verließ, wartete schon Polizei auf ihn. Nach einer mehr als 48stündigen Irrfahrt lieferte sie ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis in Cankiri in der Zentraltürkei ein. "Ich werde das der türkischen Regierung bis zu meinem Tod nicht verzeihen", erklärte Yasar Kemal verbittert am Freitagabend in Köln. Er kündigte an, "wieder den Kampf aufnehmen" zu wollen und sich mit all seiner Kraft dafür einzusetzen, daß der Sprecher der Kampagne "Eine Million Unterschriften für den Frieden" freikommt.

Geht es jedoch nach den türkischen Justizbehörden, wird Esber Yagmurdereli die nächsten zweiundzwanzigeinhalb Jahre im Gefängnis verbringen. Sein Verbrechen: Fünf Wochen nach seiner Haftentlassung war Yagmurdereli am 8. September 1991 auf einer Kundgebung des Istanbuler Menschenrechtsvereins aufgetreten. Dort forderte er eine friedliche Lösung des Kurdistankonflikts. Der Staat reagierte umgehend. Der Rechtsanwalt wurde wegen "separatistischer Propaganda" angeklagt und zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt. Das Urteil bestätigte im Mai dieses Jahres das Kassationsgericht in Ankara. Damit war auch seine Bewährung hinfällig. Ein halbes Jahr später vollstreckte die Polizei den Haftbefehl.

Nicht mal einen Tag nach der Verhaftung Yagmurderelis befand ein Gericht in Ankara den Präsidenten des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal, für schuldig, "die Bevölkerung unter Hervorhebung von Klassen- und Rassenunterschieden zum Haß und zur Feindschaft provoziert" zu haben. Birdal hatte auf einer Kundgebung zum internationalen Weltfriedenstag am 1. September 1996 erklärt, in der Türkei würden Kurden unterdrückt und seien einer Vernichtungspolitik ausgesetzt. Mit ihm wurden sechs weitere Angeklagte zu Haftstrafen zwischen einem und zwei Jahren verurteilt.

Am Donnerstag verurteilte das Militärgericht von Eskisehir den Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke zu einer Haftstrafe von zehn Monaten. In zwei anderen Verfahren war er bereits zu insgesamt elf Monaten Haft verurteilt worden. Ülke ist Leiter des "Vereins der Kriegsdienstgegner Izmir". Neben Desertion wurde ihm "Distanzierung des Volkes vom Militär" und "wiederholte Befehlsverweigerung" vorgeworfen.

Die Verhaftung Yagmurderelis und auch die Verurteilung von Birdal und Ülke hat international für Empörung gesorgt. Amnesty international (ai) fordert die Revidierung der Urteile. Während die türkische Regierung stolz darauf sei, daß Yasar Kemal der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, versuche sie gleichzeitig kritische Stimmen mundtot zu machen, kritisierte ai auf einer Pressekonferenz am Donnerstag in Bonn.

Sogar der deutsche Außenminister Klaus Kinkel sah sich zu einer scharfen Stellungnahme genötigt: "Dieses Vorgehen türkischer Behörden ist absolut unverständlich für diejenigen, die sich für Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit in der Türkei einsetzen." Kinkel erklärte: "Die Türkei weiß: Der Weg nach Europa führt nur über eine deutliche Verbesserung der Situation der Menschenrechte in der Türkei. Ohne das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung bleibt dieser Weg versperrt."

Der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel reagierte prompt. Er sei zu einer umgehenden Begnadigung Yagmurderelis bereit. "Wenn mir eine abgeschlossene Begnadigungsakte vorgelegt wird, werde ich sie sofort unterzeichnen. In der Akte muß ein Arztbericht und die Bestätigung durch das gerichtsmedizinische Institut sein", so Demirel gegenüber der konservativen Tageszeitung Hürriyet.

Doch bei Yagmurdereli ist das nicht so einfach zu machen. Denn er hat in Erwartung seiner Verhaftung eine notariell beglaubigte Erklärung bei seinem Sohn hinterlegt, in der er eine Amnestie durch den Staatspräsidenten oder eine Haftverschonung auf der Basis einer gerichtsmedizinischen Untersuchung kategorisch ablehnt. Er wolle die Freilassung aller politischer Gefangener. Schließlich sei er nicht der einzige, der in der Türkei aus politischen Gründen verfolgt und verhaftet würde, so Yagmurdereli. Wenn die Aufregung über seine Inhaftierung zu einer Verbesserung der Menschenrechtssituation führte, würde er es vorziehen, im Gefängnis zu bleiben. Bereits 1990 hatte er ein Angebot des Justizministeriums abgelehnt, wegen seines schlechten Gesundheitszustandes aus der Haft entlassen zu werden.


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