27.11.1997



Glücklicher Streik

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*   Glücklicher Streik
Von Pascal Beucker

Die Studierenden freuen sich der Unterstützung aus Politik und Professorenschaft. Doch manchmal kann man auch mit den falschen Freunden das Richtige tun.

"Wer die Rechte der Studenten gegen die Studenten ausnutzt oder Studierwillige gewaltsam am Studium hindert, muß künftig seinen Studienplatz verlieren. Es ist nicht länger hinzunehmen, daß Straftäter Studienplätze blockieren." Der Ring Christlich-demokratischer Studenten (RCDS) und der Hochschulbeirat des CDU-Bundeskulturausschusses fordern in einer gemeinsamen Resolution die Exmatrikulation der "Rädelsführer" der derzeitigen studentischen Streikwelle. 143 bundesdeutsche Hochschulen sind im Streik. Rund eine halbe Million Studentinnen und Studenten beteiligen sich an dem Kampf gegen zunehmende Restriktionen und für bessere Studienbedingungen.

An der Uni Bielefeld finden die Veranstaltungen der juristischen Fakultät unter Polizeischutz statt. Der Präsident der Uni Kiel erwirkt eine gerichtliche Verfügung, die dem Asta Urabstimmungen und Streikvorbereitungen bei einer Strafe von 10 000 Mark verbietet. Der Stuttgarter Asta muß seine Urabstimmung abbrechen, da das Verwaltungsgericht "alle Maßnahmen, die gegen die Durchführung des Lehrbetriebs gerichtet sind", für illegal erklärt. Der Präsident der Universität München schreibt an die Dozenten: "Weisen Sie bitte darauf hin, daß Störungen, welche die Durchführung einer Lehrveranstaltung verhindern, als Hausfriedensbruch gewertet werden müssen. Sollten die Störer nicht nachgeben, bitte ich Sie, diese, soweit möglich, zu identifizieren und mir die Namen der Störer sowie deren Vergehen schriftlich mitzuteilen, damit ich gegebenenfalls Strafanzeige erstatten kann." Lucky Streik vor zwanzig Jahren, im Wintersemester 1977/78.

Lucky Streik im Wintersemester 1997/98: An die zwanzig Hochschulen befinden sich im Streik. Beinahe täglich werden es mehr. Der Präsident der Gießener Uni, Heinz Bauer, spielt Klavier beim "Streikkonzert" an der Uni: den 6. Ungarischen Tanz von Brahms - und erklärt stolz: "Wir sind in den Zeitungen, das Fernsehen ist dabei." Überall bekunden Uni-Rektoren und -Präsidenten Sympathie für die streikenden Studierenden. Der Chef der Frankfurter Börse, Werner Seifert, verspricht studentischen Demonstranten, zehn zusätzliche Praktikanten einzustellen und dem Uni-Rechenzentrum 26 PCs zur Verfügung zu stellen, die für den Gebrauch der Studierenden bestimmt sind. "Ich bin mir aber bewußt, daß das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Ihre Probleme sind damit nicht gelöst", betont der Börsianer. Es sei richtig, daß die jungen Menschen an den Hochschulen laut und deutlich für eine bessere Lehre und Forschung einträten, erklärt Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU). Die Studenten wollten "nicht die Weltrevolution, sondern bessere Studienbedingungen", so Rüttgers. Ein studentischer Streik - und alle sind dafür. Verkehrte Welt?

Ihren Anfang nimmt die studentische Streikbewegung in der hessischen Provinz. An der Justus-Liebig-Universität (JLU) in Gießen treffen sich am 29. Oktober eintausend Studierende zu einer Vollversammlung, um über ihre katastrophalen Studienbedingungen zu beraten - und sie beschließen, zu streiken, "um ihren Protest gegen den Zustand an der Universität und gegen die hessische und bundesdeutsche Sparpolitik im Bildungs- und Sozialbereich zum Ausdruck zu bringen, die zu unerträglichen Studien- und Lebenssituationen führt". Noch am selben Tag werden das Haupt- und andere Uni-Gebäude besetzt. In der folgenden Woche wird ein Fachbereich nach dem anderen vom Streikfieber gepackt. Zunächst bleiben die Gießener Studierenden mit ihrem Streik alleine. Es dauert bis zum 4. November, bis sich auch an einer anderen Hochschule etwas rührt. Dann kommt es an der Uni Bremen zu ersten Protestaktionen. Einen Tag später tritt der erste Fachbereich an der Uni Marburg in den Streik. Am 12. November demonstrieren 10 000 Studierende unter dem Motto "Seminarleiter statt Eurofighter" in Wiesbaden. Immer mehr hessische Hochschulen fassen Streikbeschlüsse. Am 18. November schwappt die Protestwelle nach Nordrhein-Westfalen über. Die Erziehungswissenschaftliche und die Heilpädagogische Fakultät der Uni Köln beschließen, in einen "Warnstreik" zu treten. Am 19. November entscheidet die studentische Vollversammlung an der Uni Bonn, zu streiken. In Berlin befindet sich seit dem 25. November die Freie Universität im Ausstand. Überall an den bundesdeutschen Hochschulen bereiten Studierende Protestaktionen vor. Donnerstag dieser Woche findet in Bonn eine bundesweite "Demonstration gegen Bildungs- und Sozialstaatsabbau" statt.

Die letzte größere studentische Protestwelle liegt schon acht Jahre und eine Wiedervereinigung lang zurück. Damals machten sich die Studierenden selber "UNiMUT", um danach in einen desto längeren Dornröschenschlaf zu fallen. Die Studienbedingungen haben sich seitdem weiter verschärft. Über alle politischen Lager hinweg werden die Zustände an den deutschen Hochschulen als katastrophal eingeschätzt. Eine grundlegende Reform, da sind sich alle einig, ist dringend geboten. Das vermeintliche Patentrezept: Den chronisch unterfinanzierten Hochschulen und den Studierenden soll mehr Wettbewerb und Leistungsorientierung verordnet werden - ohne daß es den Staat mehr kosten soll. Immer noch dabei in der Diskussion: Die Einführung von Studiengebühren. So stellt der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, fest: "Von dem derzeitigen Studienangebot zum Nulltarif gehen weder Anreize zum Leistungswettbewerb zwischen den Hochschulen aus, noch wird die Eigenverantwortung und Selbstkontrolle der Studierenden ausreichend gefördert. Deshalb ist es notwendig, daß die Studierenden an den Kosten der Hochschulausbildung beteiligt werden. Eine Studiengebühr von 1 000 bis 1 500 DM je Semester erscheint mir durchaus angemessen."

Jetzt melden sich die Studierenden zu Wort. Die große Schar der Solidarisierer aus Politik, Professorenschaft und Wirtschaft achtet sehr gezielt darauf, wem und was sie ihre Unterstützung anbietet. Sie pickt sich die Forderungen der Studierenden heraus, die in ihr Konzept passen. So haben auch die Professoren ein großes Interesse daran, daß die Hochschulen besser finanziell ausgestattet und beispielsweise Uni-Bibliotheken besser bestückt werden. Schwieriger wird es mit der geforderten Demokratisierung der Hochschulen, also der Brechung der Professorenallmacht in den Gremien, und nach einem politischen Mandat für die Asten, wie es in fast allen bislang aufgestellten studentischen Wunschlisten steht. Auch Forderungen nach einem "gleichberechtigten Hochschulzugang für alle und die Verwirklichung des Rechts auf ein freies und selbstbestimmtes Studium" oder "einer sozialen Grundsicherung für alle hier lebenden Menschen", wie es die Marburger Studierenden beschlossen haben, dürften auf wenig Gegenliebe stoßen. Die Studierenden werden sich in Acht nehmen müssen, die demonstrative Unterstützung ihrer Aktionen durch Uni-Präsidenten und -Rekorate nicht mit der Unterstützung ihrer Forderungen zu verwechseln.

Noch ist unklar, wie sich die studentischen Protestaktionen weiterentwickeln werden. Die Motivation der Studierenden, sich gegen die herrschenden Verhältnisse an den Hochschulen zu wehren, ist groß. Wie lang jedoch der Leidensdruck trägt, ob die Proteste eine einsemestrige Episode bleiben werden, nach der wieder zum studentischen Alltag zurückgekehrt wird, bleibt abzuwarten. Unklar ist ebenfalls der Charakter der Proteste. Die bisher aufgestellten Forderungskataloge tragen meist Warenhauscharakter wie mehr Geld für bessere Tutorien, mehr Lehrmittel, bessere Ausstattungen in Laboren oder Bibliotheken und die Ablehnung von Studiengebühren. Auf den Wunschlisten mit den punktuellen Einzelverbesserungsmaßnahmen stehen Forderungen, die über den ständischen Rahmen hinausgehen, etwa die nach der Grundsicherung für alle. Systemkrititische Studierende, die die Existenz des Kapitalismus nicht als naturgesetzliche Notwendigkeit ansehen, sind an bundesdeutschen Hochschulen eine vom Aussterben bedrohte Art. Das wird natürlich auch in dieser Streikbewegung deutlich. Aber besser als gar nichts.


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