04.12.1997



Streik nicht nur für Kohle

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Jungle World

*   Streik nicht nur für Kohle
Von Pascal Beucker und Niels Holger Schmidt

Im Ruhrgebiet wird sogar die verschlafene Essener Universität-Gesamthochschule bestreikt.

Die Besatzung im Essener Streikbüro wirkt übermüdet, tiefe Ringe unter den Augen zieren die Gesichter. Ihre krächzende Stimme erklärt Alexa so: "Die kommt von meinem Redemarathon in den letzten zehn Tagen." Überall protestieren Studierende, nur in Essen nicht? Das geht doch nicht, hatte sich eine kleine Gruppe von FachschafterInnen und AktivistInnen der lokalen Hochschulpolitik-Szene gesagt und zwei Wochen unermüdlich gerödelt, um auch die Uni-GH Essen "streikfähig" zu machen. Jetzt sind erstmal alle geschafft - aber, da sind sich Alexa und ihre MitstreiterInnen einig: Die Mühe hat sich gelohnt!

Seit dem 26. November, 16 Uhr, wird auch in Essen gestreikt: Jubel und donnernder Applaus erfüllen die Mensa, nachdem über 3 000 Studierende den Streikbeschluß gefaßt haben. Eigentlich sind es noch mehr: Über 1 000 müssen vor der Tür den Diskussionen der Vollversammlung folgen, können nicht mitstimmen. Für sie ist kein Platz mehr in der Mensa - aber streiken wollen auch sie. Jetzt ist Organisation angesagt, doch noch läuft vieles durcheinander. Wo kommen die Bettlaken her, die man für Transparente benötigt? Wer kann die Streikzeitung machen? Teams für Streikposten und Straßenaktionen müssen her. Wer holt das von der örtlichen Brauerei gestiftete Bier ab?

Essen ist die dritte Uni im Ruhrgebiet im Ausstand. Die Studierenden in Duisburg und Bochum waren einen Tag früher dran. Mit Dortmund sind die EssenerInnen gleichauf.

Einen Tag später nimmt der studentische Protest langsam Konturen an. Ein großer Streikmarkt hat im Hörsaalzentrum seinen Betrieb aufgenommen. Dort gibt es neben Glühwein und Kaffee eine Infobörse, an der die neuesten Presseartikel zum Streik aushängen und die nächtens erstellte Streikzeitung erhältlich ist. Über Monitore flimmern Fernsehbeiträge und Politiker-Interviews zum Streik. Kohl erklärt seine "Sympathie und Unterstützung" - und erntet höhnisches Gelächter. Es gibt einen riesigen "Stundenplan", auf dem alle Aktions- und Demotermine veröffentlicht werden. In einer Ecke werden Plakate und Transparente gemalt, ein Sarg für einen "Bildungs-Leichenzug" durch die Essener Innenstadt gebaut, Streikbuttons gestanzt und die Streikshirts mit dem leicht abgewandelten Logo einer amerikanischen Zigarettenmarke an die Studierenden gebracht: Lucky Streik. An einem "Koordinationsstand" können sich die Streikposten und die "Schlepperkommandos" über den Stand der Dinge informieren.

Die "Schlepperkommandos" sind wichtig. Denn noch finden einige Vorlesungen statt, ist der Streik nicht überall durchgesetzt. "Wenn wir das so laufen lassen, erledigt sich der Streik innerhalb von drei Tagen", erklärt Christoph. "Deshalb werden Lehrveranstaltungen, die trotz des Streiks stattfinden sollen, von uns gestört und aufgelöst." Dafür braucht man die "Schlepperkommandos": "Wir gehen in die Veranstaltungen, versuchen, Diskussionen über den Streik anzuzetteln und die 'Streikbrecher' zu einer Beteiligung am Streik zu bewegen." Bisher mit einigem Erfolg, weiß Christoph zu berichten: "Sogar hypermotivierte BWLer ließen sich überzeugen und wechselten von ihrer Vorlesung zum Streikmarkt."

Doch nicht immer funktioniert das so einfach, berichtet Ökologie-Erstsemesterin Martina: "Es ist total paradox: Teilweise sind die Studis viel ablehnender und aggressiver als die Profs. Die haben unsere Kommilitonen dazu aufgefordert, sich den Protesten anzuschließen und für Verbesserungen zu kämpfen. Einige Studis wollten lieber tausend Mark pro Semester bezahlen, als durch den Streik ein Semester zu verlieren. Unglaublich!"

Alle wichtigen Stellen und Eingänge auf dem Campus sind mit Streikposten besetzt. Der eine oder andere Professor versucht, seine Vorlesung in das benachbarte Großkino zu verlegen. Das ist wegen Raummangel bereits seit einigen Jahren als plüschgepolsterter Aushilfshörsaal von der Uni angemietet worden. Doch solche Versuche unterbinden die "Schlepperkommandos" gnadenlos. Nur eine Ausnahme machen sie doch. Christoph: "Studis, die Prüfungen haben, werden natürlich in die Gebäude gelassen. Es soll nicht destruktiv werden, das bringt nichts."

Nicht alle sind so streikmotiviert, wie sich die AktivistInnen das wünschen: "Einigen Leuten aus meinem Studiengang geht das hier offenbar völlig total am Arsch vorbei. Die bleiben einfach zu Hause, statt sich am Streik zu beteiligen. Das ist total asozial", ärgert sich Streikposten Markus, der im zweiten Semester Betriebswirtschaftslehre studiert. Für einige der vermeintlichen "Laumänner" hat Markus allerdings Verständnis: "Viele gehen auch in der Streikzeit arbeiten. Die brauchen halt die Kohle. Das zeigt doch erst, wie pervers die ganze Situation ist und wie dringend eine soziale Grundsicherung ist."

Insgesamt sind die Streikenden jedoch mit der Beteiligung zufrieden, wie Martin vom "Zentralen Koordinationsteam" betont: "Durch die ganze Streikbewegung engagieren sich viele Studis, die hier bisher nichts mit Hochschulpolitik zu schaffen hatten." Trotz offenkundigen Schlafentzugs merkt man ihm die Begeisterung an: "Die Uni wird zwar bestreikt, aber das bedeutet nicht, daß nichts läuft, im Gegenteil. Hier herrscht ein kreatives Chaos, sehr viele klinken sich ein, wollen Infos und kommen mit eigenen Ideen." "Wir bieten alternative Veranstaltungen an, die sich um den Streik und unsere Forderungen drehen", ergänzt Roland von der AG "Alternative Seminare".

Die Erfolgsaussichten des Streiks schätzen die Protestierenden realistisch ein. "Zwar bekommen wir von allen Seiten Solidaritätsbekundungen, aber ob man sich in Bonn und Düsseldorf wirklich zu Verbesserungen aufrafft, bleibt abzuwarten", erläutert Martin.

Nicht einverstanden ist er mit der öffentlichen Darstellung der Proteste: "Was uns vor allem stört ist, daß unsere Forderungen auf die Geldfrage reduziert werden. Aber es geht genauso um die Demokratisierung der Hochschule und ein Ende des Sozialabbaus", so der Streikaktivist. Trotz alledem - umsonst wird der studentische Protest auf keinen Fall gewesen sein, ist sich Martin sicher: "Selbst wenn wir in Bonn und Düsseldorf nicht alles durchsetzen können, glaube ich, daß es in der Studierendenschaft eine Politisierung gibt. Das bietet die Chance, daß auch längerfristig politisches Denken an die Uni zurückkehrt und die bisherige Lethargie vertreibt."


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