11.12.1997



Ab untern Weihnachtsbaum

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Jungle World

*   Ab untern Weihnachtsbaum
Von Pascal Beucker

Die Streik-Front an den Unis beginnt zu bröckeln. Enttäuschung ist dennoch fehl am Platz.

"Im Gegensatz zur 'Alten Studentenbewegung' betrat die neue eine bereits gut ausgeleuchtete Bühne vor einem ergriffen wartenden Publikum (...). Endlich eine Studentenbewegung, wie man sich den Schwiegersohn wünscht: zielstrebig und brav, das Machbare stets im Blick, großen Theorien abhold, selbstbewußt und dabei heiter. Und dann noch Hand in Hand mit den Herren Professoren! Herzerquickend. Erst als zu den artigen Forderungen nach mehr Professoren und größeren Hörsälen auch solche nach einer Veränderung der Paritäten in den Gremien kamen, hob die FAZ leitartikelnd ihren Zeigefinger: Kinder, folgt nicht den linken Verführern!" So stand es in der Zeit - jedoch nicht 1997, sondern 1989. Wie sich die Bilder gleichen.

Bei den gegenwärtigen Studierendenprotesten gab es für die Zeit allerdings noch keinen Anlaß für mahnende Zeigefinger: Noch kann in dem ansonsten so betulichen Hamburger Wochenblatt ein "Creativ-Direktor" der Werbeagentur Scholz & Friends die protestierenden Studierenden beraten: "Seid radikal!" Sie werden ihm den Gefallen vermutlich nicht tun. Die Bewegung bröckelt. Schluß mit lustig: den Lucky Streik erfaßt Ausgang des Jahres bereits die Schwindsucht. Ganz so, wie es die FAZ vorausgesagt hat: "Es hat lange gedauert, bis die Studenten protestierten, und alle, die so 'normal' sind, wie es der Bundeskanzler sagt, also die meisten, werden auch nicht lange auf die Straße gehen: Sie wollen durch Demonstrationen nicht erreichen, daß sie im Studium zurückfallen und die Not noch vergrößern." Ob der studentische Streik bis Weihnachten andauern wird, ist fraglich.

Ein untrügliches Indiz dafür, daß der studentische Protest seinen Zenit überschritten hat: Der selbsternannte ASten-Dachverband "freier zusammenschluß von studentInnenschaften" (fzs) markiert seit dem letzten Wochenende die bundesweite "Streikzentrale". Wenn sich Funktionäre einer Bewegung bemächtigen, steht es stets schlecht um sie. Bisher hatte der fzs, für den sich bisher kaum jemand interessierte, den Protest an den Hochschulen verschlafen. Auf der bundesweiten Demonstration am 27. November in Bonn beispielsweise fehlten die institutionalisierten Studentenbeweger. Ihr Vorstand könne leider nicht kommen, so zwei Grußwort-Abgesandte des fzs, da parallel Mitgliederversammlung in Wilhelmshaven sei. Jetzt bombardiert der Verband als "Studentische Agitations- und Propagandazentrale c/o fzs" die Faxgeräte der Republik mit "Streikinfos", in denen neue "Höhepunkte" versprochen werden.

Dabei sind die ersten Hochschulen bereits wieder zu Tagesordnung übergegangen - unter ihnen die Uni Gießen. Weitere werden in den nächsten Tagen folgen. Auf wohlfeile Erklärungen, wie die eines Gießener Aktivisten, der Boykott der Vorlesungen sei nur "ausgesetzt" und ihre "weiter stattfindenden Proteste" würden sich "radikalisieren", ist dabei nicht viel zu geben. Hat erst mal der alltägliche Scheinerwerb wieder angefangen, ist nicht mehr viel mit "Radikalisierung".

Enttäuschung ist trotzdem fehl am Platz. Was kann von einer studentischen Protestbewegung anno 1997 erwartet werden? Schon die Bereitschaft, kollektiv gegen miserable Studienbedingungen aufzubegehren, hat nicht nur die bürgerlichen Medien völlig überrascht. Noch vor zwei, drei Monaten wäre jeder ausgelacht worden, der es gewagt hätte, bundesweite Hochschulstreiks für dieses Semester vorauszusagen. Doch inzwischen boykottieren zwischen 500 000 und 700 000 Studierende an rund 100 Hochschulen ihre Vorlesungen. Allein in der letzten Woche waren an die 130 000 Studierende auf den Beinen, um in den Landeshauptstädten ihren Unmut über die katastrophalen Zustände an den bundesdeutschen Akademikerausbildungsfabriken laut werden zu lassen. Vielleicht werden noch mal ein paar Zehntausende zur angekündigten zweiten bundesweiten Demonstration am 18. Dezember nach Bonn reisen. An diesem Tag trifft sich Helmut Kohl mit den Ministerpräsidenten der Länder. Einer der Tagesordnungspunkte soll die zwischen der Bundesregierung und den Sozialdemokraten bislang ungelöste Frage der Reformierung des Bafög sein.

Es ist nicht allzu lange her, daß die Zeit die Ergebnisse ihrer Umfrage "Student '95" veröffentlichte. 83 Prozent der bundesdeutschen Studentinnen und Studenten hielten sich danach für "leistungsorientiert", 77 Prozent verstanden sich als "karrierebewußt" und 68 Prozent als "angepaßt". Als "politisch interessiert" bezeichneten sich gerade mal 38 Prozent. Vom politischen System der BRD waren zwei Drittel der Studierenden "völlig" oder "ziemlich" überzeugt. Die Zeit konstatierte eine "optimistische Generation": "Die Welt ist o.k., muß aber besser werden: Kohls Kinder mögen die Republik und glauben an die Zukunft." Das sind diejenigen, die in den letzten eineinhalb Monaten ihre Unis dichtmachten. Ihre Welt scheint nicht mehr ganz so in Ordnung zu sein. Die FAZ befürchtet gar Schlimmeres. An einigen Hochschulen würden sich schon wieder linke "Drahtzieher" bemerkbar machen, denen es nicht nur um "eine andere Universität geht, sondern um einen anderen Staat". Ihnen könnte nur das Wasser abgegraben werden, wenn sich die Studienbedingungen verbesserten. "Aber was", so fragt die FAZ besorgt, "wenn sie sich, wie abzusehen, weiter verschlechtern?"

Kurz bevor die studentische Protestwelle sich von Gießen aus über die Republik ergoß, formulierte der inzwischen zum prominentesten Langzeitstudierenden des Landes avancierte Kölner Dieter Asselhoven in Uni-konkret auf die Frage "Was ist oder kann heute noch linke Politik an der Hochschule sein?": "Anlässe wie die Einführung von Studiengebühren geben linken Kernen an den Hochschulen die Chance, sozialen Protest loszutreten und ihn in eine gesamtgesellschaftliche antikapitalistische Mobilisierung und Aufklärung einzubetten." Er hat recht. Die gegenwärtige studentische Bewegung birgt die Chance, daß mehr Studierende als bisher anfangen, über die gesellschaftlichen Verhältnisse nachzudenken. Immerhin.

Gleichwohl haben etliche Gruppen der studentischen Restlinken Orientierungsprobleme. In beeindruckender Eintracht mit den bürgerliche Medien zeichnen sie das Bild einer "unpolitischen" Bewegung, nutzen ihre Chancen nicht und fallen dabei auch noch auf die Rhetorik von Kohl, den Rektor der Hochschulrektorenkonferenz Landfried & Konsorten herein, die ihre "Sympathie und Unterstützung" (Kohl) lautstark bekunden und dabei ebenso wie einige "Linke" die von den Studierenden aufgestellten Forderungen schlichtweg ignorieren. Denn die weisen überall über das platte "Mehr Bücher - mehr Geld" hinaus: Die Protestierenden wollen die Verwirklichung des Grundrechtes auf Bildung, lehnen jegliche Form von Studiengebühren ab und treten für mehr Demokratie an den immer noch weitgehend demokratiefreien deutschen Hochschulen ein. Sie fordern eine verstärkte Frauenförderung und die Abschaffung aller Gesetze und Regelungen, die ausländischen Studierenden eine Gleichstellung mit ihren deutschen KommilitonInnen verwehren. Das bleibt alles noch innerhalb des Uni-Horizonts, ist aber trotzdem mehr, als von der heutigen Studierendengeneration in ihrer Mehrheit zu erwarten war.

Was diese Bewegung explizit nicht ist: "links". Daß systemkritische Studierende, die die Situation an den Hochschulen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen und die Existenz des Kapitalismus nicht als naturgesetzliche Notwendigkeit begreifen, an den Hochschulen in einer krassen Minderheit sind, ist hinlänglich bekannt. Das hat sich innerhalb von eineinhalb Monaten nicht radikal geändert.

Von '68ff. blieb bei Lichte betrachtet - neben kleineren angenehmen gesellschaftlichen Veränderungen - vor allem ein Modernisierungsschub übrig. Den Hochschulen und den Studierenden haben die kurzen Jahre der Rebellion den Ruf eingebracht, links oder wenigstens progressiv zu sein. Ein Mythos, an den Studierende selbst lange geglaubt haben. Damit ist es aber spätestens seit den Achtzigern vorbei. Wenn seitdem von den Hochschulen in die Gesellschaft hineingewirkt wurde, dann von rechts - ohne nennenswerte linke Gegenwehr an den Unis. Einige linke Studierendengruppen treiben - in der Regel mit kleinem AktivistInnenenstamm - noch ihr Unwesen. An manchen Hochschulen bestimmen Linke die Politik der studentischen Selbstverwaltung. Wenn sie gut sind, können sie einige Jahre politisch arbeiten, ohne sich an den entpolitisierten Mainstream anzupassen. Eine wie auch immer gestaltete "linke Hegemonie", wie sie in den siebziger bis Anfang der achtziger Jahre an den Hochschulen in der Regel gab, wird man allerdings überall vergeblich suchen. Vor diesem Hintergrund muß man fast froh sein, daß sich keine rechte Bewegung formiert hat - was bei deutschen Studierenden geschichtlich gesehen das Naheliegendste gewesen wäre.

Die studentische Bewegung der sechziger und siebziger Jahre, so Dieter Asselhoven in "Privatfernsehen", war zu einem großen Teil auch eine "Luxusbewegung". Man konnte es sich als kommende Elite leisten, "links" zu sein. Die Lebens- und Arbeitsrealitäten auch und gerade für Studierende haben sich in den neunziger Jahren jedoch gegenüber den vorhergehenden Jahrzehnten gravierend verändert. Erfahrbar wird dies durch eine latente oder offene soziale Bedrohung (Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot usw.), einer mittels Konformitätsdruck erzwungenen zunehmenden Fremdbestimmung und wachsender Repression vor allem gegenüber "Undeutschen". Zu einem politischen Vorgehen gegen wahrgenommene Mißstände kommt es aber selten. Die Suche nach einer Gesellschaft, die Menschen nicht auf ihre marktwirtschaftliche Verwertbarkeit reduziert, findet zur Zeit zumindest in einer nennenswerten Öffentlichkeit nicht statt. Daß die Studierenden trotzdem dem "Streikfieber" verfallen sind, ist erstaunlich und erfreulich. Der Streik bietet neue Möglichkeiten, sich zu politisieren, die es im Hochschulalltag nicht gibt. Viele von den Hundertausenden, die in den letzten Wochen demonstrierten oder streikten, haben zum ersten Mal in ihrem Leben an politischen Aktionen teilgenommen.

Der Protest der Studierenden unterscheidet sich in seiner fehlenden Radikalität nicht von Kämpfen in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Bei den anstehenden Streiks der Journalistinnen und Journalisten beispielsweise werden gesamtgesellschaftliche Forderungen ebenfalls keine Rolle spielen. Nicht mal für die Verhinderung des "Großen Lauschangriffes" wird gestreikt werden, obwohl er die journalistischen Arbeitsbedingungen verschlechtern wird. Dabei gilt die IG Medien schon als "linkeste" der bundesdeutschen Gewerkschaften. Warum sollten die Studierenden besser sein?


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