12.02.1998



Ermittlungen gegen den Staat

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*   Ermittlungen gegen den Staat
Von Pascal Beucker

Susurluk-Affäre: Die türkische Kontraguerilla hat ihre Schuldigkeit getan.

Eigentlich war alles nur ein Unfall: Nahe der westtürkischen Stadt Susurluk raste Anfang November 1996 ein gepanzerter Mercedes 600 in einen Lastwagen. Drei der vier Insassen waren sofort tot, einer überlebte. In dem Wagen befanden sich neben dem Parlamentsabgeordneten Sedat Bucak, der Schönheitskönigin Gonca Uz und dem hochrangigen Polizeifunktionär Hüseyin Kocadag auch Abdullah Çatli - ehemaliger Funktionär der paramilitärisch-faschistischen "Idealistenverbände" und gesuchter Killer.

Nur Bucak- ein Mitglied der damals regierenden Tansu Çiller-Partei DYP, der in seinem Herkunftsort Siverek eine 10 000 Mann starke Privatarmee gegen die PKK aufgebaut hatte - überlebte. Am Unfallort fand die Polizei unter anderem einen vom damaligen Innenminister Mehmet Agar unterzeichneten Ausweis, der den Verbrecher Çatli als "Polizeiexperten" auswies.

Das Fazit einer Untersuchung, die Ministerpräsident Mesut Yilmaz in Auftrag gegeben hatte und deren Ergebnisse er nun in weiten Teilen der Öffentlichkeit präsentierte, beweist: Im Kampf gegen seine Gegner war dem türkischen Staat jedes Mittel recht. Er hat Todesschwadrone gegen die kurdische Opposition eingesetzt, ließ kritische Journalisten ermorden, arbeitete eng mit der türkischen Mafia zusammen und beteiligte sich am internationalen Drogengeschäft.

Sonderermittler Kutlu Savas ließ in seinem Susurluk-Untersuchungsbericht fast nichts aus. Er stellte fest, daß Çatli nicht der einzige Killer gewesen ist, mit dem staatliche Stellen Kontakte pflegten. Auch der bis heute flüchtige Mahmut Yildirim soll eine zentrale Rolle bei unzähligen Morden gespielt haben. Der Mann mit dem Decknamen "Grün" arbeitete im Auftrag des Militärs, des Geheimdienstes und des Polizeiapparates. Daneben kassierte er Provisionsgelder aus dem Drogengeschäft. "Es ist schwierig zu erklären, warum die staatlichen Autoritäten mit Grün zusammenarbeiteten, obwohl sie wußten, daß Grün in Fällen von Erpressungen, Vergewaltigungen, Raub, Mord, Folter und Entführung der Täter war."

Etliche politische Morde in Türkisch-Kurdistan können nun als aufgeklärt gelten, beispielsweise jene an dem kurdischen Schriftsteller Musa Anter, dem kurdischen Abgeordneten Mehmet Sincar, dem Parteivorsitzenden der "Arbeitspartei des Volkes", Vedat Aydin. Alle drei sind von Killern im Staatsauftrag umgebracht worden. "Die Entscheidungsbefugnis für Morde im Gebiet des Ausnahmezustandes war in den Händen von Unteroffizieren, stellvertretenden Kommissaren und den übergelaufenen Terroristen", heißt es in dem Bericht.

Auch der Bombenanschlag auf die pro-kurdische Tageszeitung Özgür Ülke im Dezember 1994 war eine Auftragsarbeit. Der Finanzier der Zeitung, Behcet Cantürk, sollte "gewarnt" werden: "Der Staat wurde mit Rechtsmitteln mit Cantürk nicht fertig. Folge war, daß die Zeitung Özgür Ülke mit Plastikbomben in die Luft gejagt wurde", stellte der Sonderermittler fest. "Während erwartet wurde, daß Cantürk sich nunmehr dem Staat fügt, plante dieser eine neue Zeitung. Der türkische Sicherheitsapparat beschloß seine Ermordung, und dieser Beschluß wurde exekutiert."

Offenbar existierten zwischen der Polizei unter Führung des ehemaligen Polizeipräsidenten und späteren Innenministers Mehmet Agar und dem türkischen Geheimdienst MIT Unstimmigkeiten. Über 100 Informanten des Geheimdienstes seien zwischen 1992 und 1997 von der Polizei entführt und verhört, fünfzehn umgebracht worden.

Kredite staatlicher Banken sollen direkt in die Hände mächtiger Drogenbosse geflossen sein, heißt es in dem Bericht. Diese hätten sich dafür erkenntlich gezeigt. So sei der Wahlkampf von Mehmet Agar von dem Drogenbaron Mehmet Ali Yaprak finanziert worden, dessen Hauptgeschäft die Produktion und der Schmuggel des Aufputschmittels Captagon in arabische Länder ist. Die Blütezeit der Kollaboration staatlicher Instanzen mit kriminellen Banden lagen nach dem Urteil des Sonderermittler Kutlu Savas die Jahre 1993 bis 1996, die Regierungszeit der Ministerpräsidentin Tansu Çiller.

Ihr Nachfolger Mesut Yilmaz setzte den Sonderermittler auch aus Eigennutz ein: Yilmaz hoffte, daß die Untersuchungsergebnisse seine Intimfeindin Çiller endgültig politisch erledigen würden. Für sie wird es nun eng: Yilmaz hat angekündigt, eine weitere Ermittlungskommission aus Reihen der Polizei, des Geheimdienstes, des Finanz- und des Zollministeriums bilden zu lassen, die weitere Einzelheiten staatlicher Kriminalität zur Zeiten der Çiller-Regentschaft erforschen soll.

Für den türkischen Staat war Çillers Handeln jedenfalls äußerst effektiv. Im Kampf gegen die kurdische Opposition haben die von ihr bestellten Auftragskiller im Verein mit dem Militär ganze Arbeit geleistet. Die PKK hat ihren Guerilla-Kampf gegen den türkischen Staat verloren. Der Traum eines eigenen Staates scheint ausgeträumt. Mittlerweile lebt die Mehrheit der türkischen Kurden im Westen der Türkei und nicht mehr in den kurdischen Gebieten - Folge der Vertreibung von Millionen Kurden aus den ländlichen Regionen. Der PKK wurde ihre territoriale Basis entzogen. Das türkische Militär beherrscht heute die kurdischen Städte und Berge. Hinzu kommen die militärischen Niederlagen der PKK im Nordirak. Die "separatistische Bedrohung" gilt inzwischen in Kreisen der türkischen Militärspitze nicht mehr als Hauptgefahr. An deren Stelle steht nun die "Bedrohung durch die religiöse Reaktion".

Inzwischen hat auch PKK-Führer Abdullah Öcalan das Scheitern seiner Guerilla-Strategie erkannt. Es sei für ihn "eine große Freude, Politik für die Türkei zu machen", erklärte er in einem Interview mit dem PKK-nahen Fernsehsender Med-TV: "Damit habe ich keinerlei Schwierigkeiten, wenn es eine rechtliche Garantie und Sicherheit in der Türkei geben würde, und man sich gegenseitig vertraut." Er wünsche sich "eine Neustrukturierung des Staates innerhalb der bestehenden Grenzen" und erstrebe die Legalität der PKK, notfalls auch unter anderem Namen.

Seit Monaten schickt Öcalan Verhandlungsangebote in Richtung des türkisches Staates - Angebote, die einer Selbstaufgabe gleichkommen. So erklärte er der liberalen türkischen Tageszeitung Radikal Ende Dezember, die Zeit für einen "umfassenden Frieden" sei gekommen und rühmte ausdrücklich die "fortschrittliche Rolle der türkischen Armee": "Die Armee ist sich im klaren, daß die Zeit gekommen ist, die kurdische Frage zu lösen. Sie weiß, daß sie deshalb intervenieren muß. Diesmal kommt die Intervention mit einem zivilen Putsch."

Öcalans umfassende Friedensbereitschaft ist aus der Not geboren. So heißt es in einem Artikel in der Dezember-Nummer von Özgür Halk, einer inoffiziellen PKK-Zeitschrift: "Wir stehen kurz vor einer Niederlage." Auch wenn demnächst "weitere Schritte in Richtung auf einen Sieg" unternommen würden, könne man die in den vergangenen Jahren entstandene "Verspätung nicht einholen". Weiter heißt es in dem zwölfseitigen Artikel: "So kann man den Krieg nicht weiterführen, alles andere wäre Lüge." Unterschrieben ist der Beitrag mit "Ali Firat" - ein Pseudonym Öcalans.

Zudem soll es in der letzten Zeit zunehmend zu heftigen Meinungsverschiedenheiten über den weiteren Kurs zwischen dem bislang unumschränkt herrschenden Führers Öcalan und einem Teil seiner engsten Mitarbeiter gekommen sein. Türkische Zeitungen berichten unter Berufung auf Geheimdienstquellen, daß Öcalans Stellvertreter Semdin Sakik dem PKK-Chef schwere Versäumnisse und Fehler vorgeworfen hat.

Die Regierung Yilmaz wird voraussichtlich nicht auf das Angebot Öcalans eingehen. Für sie ist und bleibt er der Kurdenführer "Staatsfeind Nummer eins". Doch der Druck des Militärs auf die Regierung, eine politische Lösung des "Kurdenproblems" zu finden, wird sich verstärken.


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