05.03.1998



Symbolisch abgewertet

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Jungle World

*   Symbolisch abgewertet
Von Pascal Beucker und Anja Krüger

Mit Strichlistenvordrucken, Videokameras und anderem Equipment aus der Schatztruhe der empirischen Sozialforschung haben Heerscharen WissenschaftlerInnen nachgewiesen, daß Unterrichtende zwei Drittel ihrer Aufmerksamkeit den Schülern widmen und Jungen viel öfter aufrufen als Mädchen, daß die kleinen Männer im Computerraum ihre Klassenkameradinnen nicht an den PC lassen, und daß Schülerinnen bewußt zur Befriedung der Klassen neben renitente Schüler gesetzt werden - kurz: daß auch in Schulen, in denen Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet werden, das Patriarchat herrscht.

Der oberflächliche Schluß aus diesen Studien: Mädchen entwickelten ihre Stärken in naturwissenschaftlichen Fächern ohne Jungen besser, sie gewännen an Selbstbewußtsein und seien eher dazu bereit, sich für ein naturwissenschaftliches Studium zu entscheiden. Die Koedukation ganz abschaffen wollen wenige, sie jedoch "reformieren" viele.

Die Teiltrennung und ihre Propagierung hat einen klassischen patriarchalen Ansatz: Tatsächliche oder vermeintliche Defizite von Mädchen werden genau benannt und zu soziologischen Determinanten, für die eine klassisch paternalistische Lösung gefunden wird, bei der keine Rolle spielt, ob die Schülerinnen sie überhaupt wollen. Weil sie "anders", nämlich "schwach" sind, müßten sie isoliert werden - früher in eigenen Schulen, heute in einigen Fächern.

Die Defizite der Jungen bleiben im Diffusen. Es bleibt offen, wie Jungen ein "besseres Sozialverhalten" beigebracht werden soll. Es gebe "ein paar hübsche Beispiele, daß sich auch Viertklässler ganz normal verhalten können, wenn sie, mangels anwesender Nachwuchsschönheiten, mal nicht balzen müssen", fabulierte die taz in ihrem Kommentar zur "reflexiven Koedukation" in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Ein Blick in Fußballjungenmannschaften aller Altersklassen reicht aus, um festzustellen, daß die Nachwuchs-Mehmet-Scholls keine Mädchen brauchen, um sich aufzuplustern. Dabei gibt es bei den Schülern auch klar benennbare schulische Defizite, die in den diversen Koedukationsstudien nachlesbar sind, in der Diskussion um die "Reformkoedukation" trotzdem gerne unterschlagen werden, weil sie ihre Logik durchbrechen: Jungen schneiden in den Sprachen und den musischen Fächern deutlich schlechter ab als Schülerinnen. Konsequenterweise müßte also auch hier getrennt werden.

Trotz patriarchalem Schulsystem sind die Schulabschlüsse der Mädchen im Durchschnitt besser als die der Jungen und auch ihr Anteil an weiterführenden Schulabschlüssen ist höher. Mittlerweile beginnen mehr junge Frauen als junge Männer ein Hochschulstudium. Sie sind also im Sinne des bürgerlichen Leistungsdenkens erfolgreicher als Jungen. Trotz besserer Abschlüsse finden Frauen jedoch schlechter als Männer einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Es nützt Mädchen und jungen Frauen offenbar nicht viel, besser zu sein als ihre männlichen Gegenstücke. Sie getrennt zu unterrichten, wird dieses Phänomen verstärken. Zu den patriarchalen Lieblingskunststückchen zählt, die Leistungen von Frauen disqualifizieren und Gründe dafür zu finden, warum sie denn eigentlich gar nicht so gut sind, wie sie sind.

Zu Recht haben die Wiener Sozialwissenschaftlerinnen Cheryl Benard und Edit Schlaffer festgestellt, daß die Koedukation nicht gescheitert, sondern bis heute gar nicht erst verwirklicht worden ist. Nicht wegen, sondern trotz gemeinsamen Unterrichts werden Mädchen immer noch wie Mädchen und Jungen wie Jungen behandelt. Traditionelle Rollenmuster werden weiterhin eingeübt. Und genau hier müßte tatsächlich angesetzt werden: Rollenmuster in Verhaltensweisen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen und unter den SchülerInnen müssen genauso durchbrochen werden wie die Geschlechtsstereotypen in den Köpfen. In der Schule müssen zuallererst die Schülerinnen gezielt gestärkt werden. Sie brauchen Strategien, um ihre Handlungsspielräume zu erweitern, und entsprechende Angebote, diese kennenzulernen und auszuprobieren. In Mädchenkursen erweitert sich ihr Handlungsspielraum nur scheinbar. Vielleicht lernen sie tatsächlich, sich beim Kampf um einen Computerplatz gegen ihre Geschlechtsgenossinnen durchzusetzen. Für den Verteilungskampf mit den kleinen Machos können sie sich dort nicht fit machen.

Es gibt ein breit gefächertes Instrumentarium, um die Position der Mädchen subjektiv und objektiv in gemischtgeschlechtlichen Klassen zu stärken. Das beginnt vielleicht tatsächlich mit der Kontrolle, ob Mädchen und Jungen gleich häufig zu Wort kommen und geht weiter mit vernünftigen, nicht-sexistischen Schulbüchern und Lehrinhalten und der Veränderung der LehrerInnenrolle. Wenn Schülerinnen lernen, Zurücksetzung und Diskriminierung zu erkennen, zu thematisieren und auf Änderung zu bestehen, hat das für die LehrerInnen unangenehme Folgen: Mehr Arbeit, und schlimmer: Massive Kritik an ihrem Unterricht, die sie nicht wie gewohnt mit den zur Verfügung stehenden repressiven und autoritären Instrumentarien abblocken könnten.

Es gehören wieder Konzepte auf die Agenda der Bildungspolitik, die auf Miteinander statt auf ein Gegeneinander setzen. Dazu gehörte an erster Stelle die Verabschiedung vom hierarchischen dreigliedrigen Schulsystem. Doch das ist schon lange kein Thema mehr. Diesen Kampf gegen die reaktionären Bastionen auch in ihren eigenen Reihen haben sozialdemokratische und die meisten bündnisgrünen BildungspolitikerInnen schon längst für verloren erklärt.


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