08.07.1998



Eine Handgranate unterm Sofa

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Jungle World

*   Eine Handgranate unterm Sofa
Von Pascal Beucker und Anja Krüger

Ärzten in der Türkei, die Patienten unabhängig vom Ansehen der Person behandeln, wird immer häufiger der Prozeß gemacht.

Die Urteilsverkündung wartete Seyfettin Kizilkan in sicherer Entfernung ab. Als das Kassationsgericht in Ankara - oberstes Berufungsgericht der Türkei - Ende Juni einen Prozeß gegen den Chirurgen an das Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir zurückverwies, befand sich der ehemalige Ärztekammerpräsident in Deutschland. Er fürchtete, nach dem Urteilsspruch inhaftiert zu werden.

Dr. Seyfettin Kizilkan arbeitete bis Mai 1996 als Chirurgischer Chefarzt eines Krankenhauses in der südostanatolischen Provinzhauptstadt Diyarbarkir, wo seit 1987 mit Notstandsrecht regiert wird. Erst Ende Juni hat sich der von Militärs dominierte Nationale Sicherheitsrat für eine Verlängerung dieses Sonderrechts, das eigentlich Ende Juli ablaufen sollte, ausgesprochen: Es gilt nun - vorläufig - bis November.

Wer sich in Diyarbakir als Anwalt, Journalist oder Arzt für Menschenrechte einsetzt, wird schnell als PKK-Sympathisant verfolgt. So erging es auch Seyfettin Kizilkan: Er war Vorstandsmitglied der Ärztekammer von Diyarbakir, später sogar ihr Vorsitzender. Zudem gründete der Arzt Ende der achtziger Jahre eine Menschenrechts-Plattform, die auf Übergriffe des Staates gegen die Zivilbevölkerung in den kurdischen Gebieten aufmerksam machte.

Erstmals geriet Kizilkan 1993 ins Visier des türkischen Staates, nachdem eine Krankenschwester unter Folter ausgesagt hatte, der Arzt unterstütze und behandle Mitglieder der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt, obwohl die erpreßte Aussage im Prozeß widerrufen wurde. Immerhin hatten die Anschuldigungen in der Berufung keinen Bestand: Das Kassationsgericht in Ankara hob das Urteil auf.

Neben seiner Tätigkeit als Krankenhausarzt betrieb Kizilkan eine Praxis in Diyarbakir. Dort entfernte er 1995 einem Mann die Hämorrhoiden. Der Patient wurde kurze Zeit später wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in der PKK festgenommen. Die staatlichen Einsatzkräfte fragten den vermeintlichen PKKler, wer ihm die frische Operationsnarbe beigebracht habe. Wieder wurde Kizilkan vor Gericht gestellt. "Ich erklärte, daß es für mich als Chirurg keine Rolle spielt, ob der von mir behandelte After von der PKK oder jemand anderem ist", berichtet Kizilkan. Vor Gericht hatte seine Argumentation Erfolg - er wurde abermals freigesprochen.

Anfang Mai 1996 kam Kizilkan mit seiner Familie von einem Picknick nach Hause. Darauf hatten Polizisten nur gewartet, sie stürmten die Wohnung, wo sie eine Handgranate und zwei Flugblätter zum kurdischen Newrozfest fanden. Kizilkan forderte die Polizisten auf, Fingerabdrücke von den beschlagnahmten Gegenständen zu nehmen. Dies wurde verweigert. Der Arzt hat nur eine Erklärung dafür, wie Handgranate und Flugblätter in seine Wohnung gelangen konnten: Sie wurden von den Sicherheitskräften dort deponiert.

Insgesamt 45 Tage mußte der Chirurg in Untersuchungshaft verbringen. Dann verurteilte ihn das Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir wegen Unterstützung der PKK und Separatismus zu drei Jahren und neun Monaten Haft. Der Arzt legte Berufung ein, womit das Urteil nicht rechtskräftig wurde. Dennoch darf er seitdem nicht mehr in Diyarbakir oder einem anderen kurdischen Ort der Region tätig sein. Immer wieder wurde er versetzt - zuletzt an ein Provinzkrankenhaus in Urfa.

Am 24. Juni folgte nun die Urteilsverkündung des Kassationsgerichts, die jedoch kein Freispruch ist. Der Fall wurde wegen formaler Fehler nach Diyarbakir zurückverwiesen. Dr. Hüseyin Nazlikul, der den Prozeß im Auftrag der Berliner Ärztekammer beobachtet hat, rechnet damit, daß es dort zu einer Verurteilung kommt. Zwar hätten die Richter in Ankara festgestellt, daß die Sicherung von Fingerabdrücken fehlerhaft gewesen sei, erläutert er gegenüber Jungle World, doch habe "das Gericht den Vorwurf der Separation als richtig unterstellt". Falls der Chirurg in Diyarbakir wieder verurteilt werde, sei eine nochmalige Berufung ausgeschlossen. "Unsere eigentliche Arbeit für Kizilkan beginnt erst jetzt", erklärt er.

Seyfettin Kizilkan nahm das Urteil mit gemischten Gefühlen auf. "Ich freue mich, daß ich zu meiner Familie zurückkehren und einige Zeit wieder in meiner Heimat leben kann", sagte er nach der Urteilsverkündung in Köln. Solange keine endgültige Entscheidung vorliege, könne er zwar in der Türkei weiter arbeiten, dennoch sei das Ergebnis der Verhandlung negativ: "Ich habe keine Hoffnung, daß das Staatssicherheitsgericht bei einer neuen Verhandlung anders urteilen wird." Kizilkan muß nicht nur damit rechnen, inhaftiert zu werden. Nach Verbüßung der Strafe dürfte er drei Jahre nicht in einer öffentlichen Einrichtung tätig werden.

Die Verfolgung von Kizilkan ist kein Einzelfall. Daß der Arzt zu Recht eine Inhaftierung fürchtet, zeigt das Beispiel seines Kollegen Sakir Kakalicoglu. Auch er war im Vorstand der Ärztekammer Diyarbakir und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der türkischen Menschenrechtsstiftung. Und auch ihm werfen Sicherheitsbehörden die Unterstützung der PKK und Separatismus vor. Von November 1995 bis zum Juni 1996 war der Arzt deswegen in Haft. Zudem wurde er zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Obwohl auch Kakalicoglu Berufung einlegte, verlor er seine Anstellung als Krankenhausarzt. Der Arzt eröffnete eine Praxis in der kurdischen Stadt Batmanann und engagierte sich in der legalen kurdischen Partei Hadep. Am 16. Mai wurde er erneut festgenommen und sitzt seitdem in Haft.

"Jeder Arzt in der Türkei kann schon bei der normalen Ausübung seines Berufs mit der Staatsmacht in Konflikt kommen", sagt Dr. Gisela Penteker, Vorstandsmitglied der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) gegenüber Jungle World. Die Medizinerin war mehrmals in der Türkei und hat dort Prozesse gegen Ärzte beobachtet, darunter die gegen Kizilkan und Kakalicoglu. "Viele ähnliche Fälle sind auch aus anderen Landesteilen der Türkei dokumentiert", berichtet sie. Ärzte brächten sich in Gefahr, wenn sie Patienten unabhängig vom Ansehen der Person behandelten. Das gelte besonders für Mediziner, die Folteropfer versorgen.

Folterungen sind in türkischen Gefängnissen - besonders in den kurdischen Gebieten - nicht selten und werden nur in Ausnahmefällen staatlich geahndet. Mit Verweis auf das offizielle Verbot der Folter fordern die Behörden von Ärzten häufig, Namen und Akten der behandelten Folteropfer zu übergeben. Die Mediziner verweigern dies, legt Nazilkul dar: "Sie fürchten, daß der Staat die Menschen erneut verfolgt."


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