28.10.1998



Ein Kessel Buntes

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Jungle World

*   Ein Kessel Buntes
Von Pascal Beucker und Markus Bickel

Draußen Regen und Bambule, drinnen Sekt und Eintracht: Während sich Grüne und SPD zu Parteitagen trafen, marschierte die NPD durch Bonns Straßen.

Zum Schluß geht es ganz schnell. Vierzig Minuten früher als geplant beendet Oskar Lafontaine am Sonntagnachmittag in Bonn den Sonderparteitag der SPD im Schnellverfahren. "Euer Beifall sagt alles, liebe Genossinnen und Genossen. Geht hinaus und vertretet die neue Politik", setzt der Parteivorsitzende fünf Stunden sozialdemokratischer Einigkeit ein vorzeitiges Ende.

Es ist auch alles gesagt. Zwei Stunden Zeit haben die Terminplaner den Abgesandten zur Aussprache gegeben, ehe über die Vereinbarung mit den Bündnisgrünen abgestimmt werden soll. Die reichen völlig: Als der Parteitagsleiter nach etwas mehr als einer Stunde wenig kontroverser Diskussion vorschlägt, die Redeliste zu schließen, regt sich kein Widerspruch. Unter dem Parteitagsmotto "Innovation und Gerechtigkeit. Deutschland erneuern" stehen alle zusammen.

Fast alle. Eine der 512 anwesenden Delegierten stimmt gegen die Annahme der in der letzten Woche mit den Bündnisgrünen geschlossenen Koalitionsvereinbarung. Weil ihr eine klare Aussage zur Ausbildungsplatz-Umlage in dem Vertrag fehlt, hebt die 25jährige Dagmar Schmidt als einzige das Nein-Kärtchen. Drei Delegierte enthalten sich der Stimme.

Vierundzwanzig Stunden vorher in der Beethovenhalle: Das hat sich der stellvertretende Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens anders vorgestellt. Statt mit seinen Parteifreundinnen und -freunden auf dem Grünen-Parteitag gemeinsam den rot-grünen Koalitionsvertrag zu feiern, steht Michael Vesper schon seit über einer Stunde im Bonner Regen. Seine Versuche, die Polizei dazu zu bewegen, rund 300 autonome Antifaschisten endlich ziehen zu lassen, zeigen keinen Erfolg. Seit dem Nachmittag werden die Demonstranten im Polizeikessel festgehalten. Inzwischen ist der Abend angebrochen. Die NPD, gegen deren Aufmarsch sich der Protest richtet, ist schon längst abgezogen. Sie hatte ihre Kundgebung von Polizeikräften gut gesichert ungestört auf einer Rheinwiese abhalten können. Am nächsten Tag wird die rheinische Boulevardzeitung Express titeln: "Rechte protestieren in Bonn - Autonome sorgen für Randale". Ausgerechnet bei diesen "Krawallmachern" steht nun der grüne Minister - statt im Scheinwerferlicht an der Seite Joseph Fischers.

Eröffnet hat die Debatte um den Koalitionsvertrag der designierte Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Peter Struck. Seinen Beitrag stellt er - wie auch die ihm nachfolgenden Rednerinnen und Redner - ganz in den Dienst der neuen Regierung: "Ich bin stolz, euch eine Bundestagsfraktion vorstellen zu können, die noch nie in ihrer Geschichte größer war." Für Kritik an den Beschlüssen hat Struck, auch da gleicht er seinen Nachfolgern auf dem Podium, keinen Platz: Die Angst davor, daß die rot-grüne Regierung noch vor ihrem Amtsantritt unter Beschuß geraten könnte, bestimmt die Reden.

Einigkeit auf der ganzen Linie - und als großer Integrator mittendrin: Oskar Lafontaine. "Wir haben in den letzten Tagen wieder erlebt, wie versucht wurde, durch viele tiefenpsychologische Artikel Zwietracht zwischen dem zukünftigen Bundeskanzler und dem Parteivorsitzenden zu säen. Laßt mich hier vor dem Parteitag dazu klare Worte finden: Wer tatsächlich der Auffassung ist, daß Zusammenarbeit nur in den Kategorien von Rivalität, von Eitelkeit, von hinterhältigem Denken und so weiter möglich ist, den möchte ich auch hier im Grunde genommen nur bedauern." Macht Rudolf Scharping wahrscheinlich auch.

Die Parteitagsregie hat dem geschaßten Fraktionsvorsitzenden den letzten Redeplatz vor der Abstimmung über den Koalitionsvertrag zugewiesen, die Kongreßhalle des Maritim-Hotels in Bonn füllt sich gerade wieder, als Scharping ans Redepult tritt. Die Genossen danken dem ins Verteidigungsministerium abgeschobenen ehemaligen Kanzlerkandidaten und Ex-Parteichef für seine Dienste immerhin mit dem kräftigsten Beifall. Als auch noch "Rudolf! Rudolf!"-Rufe aufbrausen, bietet sich Scharping die Gelegenheit, die Arme beschwichtigend zu heben - und wenigstens einmal im Mittelpunkt zu stehen.

Wieder einmal hält der Außenminister in spe eine flammende Rede. Geschickt ist Fischer in der Beratung des Koalitionsvertrages die Schlußrede überlassen worden. Eine unnötige Vorsichtsmaßnahme: Die Partei will sich und ihren anstehenden Regierungseintritt feiern, niemandem steht der Sinn nach Bambule. Angesagt ist vor allem: Klatschen bis zum Abwinken. Und natürlich erntet der informelle Maximo L'der der Bündnisgrünen standing ovations, als er seine immer wieder von Applaus unterbrochene Ansprache gegen halb sieben am Samstagabend beendet.

Neben Scharping auf dem Podium sitzt Gerhard Schröder - und schwelgt bei jeder Gelegenheit in Siegerpose. In seiner Rede überläßt der künftige Kanzler das Inhaltliche weitgehend seinem kommenden Finanzminister - und beschränkt sich auf allseits Bekanntes: "Wir sind die Regierung - und die anderen die Opposition. Das soll so bleiben in den nächsten vier Jahren - und darüber hinaus. Daran müssen wir arbeiten." Der unumstrittene Chef des Parteitags hatte schon vorgelegt: "Ich wäre ein schlechter Parteivorsitzender, wenn ich zuließe, daß die Autorität des zukünftigen Bundeskanzlers in irgendeiner Form in Frage gestellt würde. Denn unser Wahlsieg, den wir in vier Jahren anstreben, steht und fällt mit dem Erfolg des Bundeskanzlers Gerhard Schröder."

Die Aussprache über die Annahme der Regierungsvereinbarung könnten sich die Delegierten getrost sparen. Bis auf die Juso-Vorsitzende Andrea Nahles, die "Widerspruch" zur geplanten Flüchtlingspolitik der rot-grünen Regierung ankündigt, gefallen sich die Debattierer im Abklatschen der Verhandlungsbeschlüsse. Bloß keine Gefährdung des gemeinsamen rot-grünen Projekts - erst einmal alle einbinden. 

Nach Fischer betritt Wolfgang Klemer das Redepult - und Michael Vespers Schicksal nimmt seinen Lauf. Denn Klemer will gar nicht mitfeiern. Er rede hier für die Antifa-Inis, teilt er dem verdutzten grünen Auditorium mit. Den ganzen Tag hätten Demonstranten versucht, mit Straßenblockaden den Marsch der Faschisten durch Bonn friedlich zu stoppen. Doch nun sei "die Situation eskaliert". Nicht einmal zehn Minuten vom Grünen-Parteitag entfernt haben Einsatzkräfte mehrere Hundert antifaschistische Demonstranten seit Stunden auf einer Kreuzung im Regen eingekesselt und beginnen gerade mit dem Abtransport in Polizeigewahrsam. "Wir wissen jetzt nicht mehr weiter und brauchen eure Hilfe", ruft der Antifaschist den Delegierten entgegen. Gerade die grünen Parlamentarier und Minister könnten etwas tun, auf sie würden die Polizisten vielleicht hören. Zehn Minuten, und das ist erledigt, wird sich Realo Vesper denken, als er zum Mikrofon schreitet und erklärt, daß er selbstverständlich den Bedrängten beistehen wird. Während der Parteitag weiter tagt, eilt er mit einem Troß von mehreren Dutzend grünen Landtags-, Bundestags- und Europaabgeordneten den Eingekesselten zu Hilfe.

Lafontaines Integrationswut kann keiner entkommen: "Ich appelliere auch - ich erlaube mir das - an eine große Tageszeitung, die früher einmal eine Kampagne mit dem Slogan 'Ein Herz für Kinder' gemacht hat. Habt jetzt mal ein Herz für Kinder und veröffentlicht, was wir alles für die Kinder in diese Steuerreform hineingeschrieben haben! Das wäre dann in sich schlüssig und konsequent." Daß der Springer-Konzern auch bei Rot-Grün gut lachen hat, war dem Parteivorsitzenden ein Herzensanliegen. Deshalb wird, neben der Bonner Korrespondentin der Frankfurter Rundschau, Charima Reinhardt, und dem Schröder-Vertrauten Uwe-Karsten Heye der frühere Bild-Chefreporter Bela Anda neuer Regierungssprecher. Wie es heißt, soll Anda vor allem für Kontakte zur Boulevardpresse zuständig sein.

Dafür, daß es in der Aussprache doch noch einen Zwischenruf gibt, sorgt der parteirechte nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement. "Ich will ja niemanden enttäuschen, der 1968 und früher bei den Jusos war. Nur, ich sag euch: Mit den Konzepten zur Verstaatlichung der Banken, die ihr vorgelegt habt, und allem was dazugehört, wird man die internationalen Finanzmärkte nicht in den Griff bekommen", erregt Clement den Widerspruch des Parteilinken Detlev von Larcher - und weist ihn gleich in die Schranken: "Stimmt, Detlev, du hast die Enttäuschung deines Lebens ja noch vor dir."

Während seine Partei Rot-Grün ins Trockene bringt, steht Vesper im Regen. Denn irgendwie läuft sein Einsatz nicht so, wie er sich das gedacht hatte. Schon die Begrüßung fällt kühl aus. "Hier ist der Vesper mit Konsorten", hört ein Abgeordneter einen Polizisten in sein Walkie Talkie sprechen. Ein anderer Beamter weiß: "Den haben wir mal in Düsseldorf verhaftet." Allein den Einsatzleiter ausfindig zu machen, dauert beinahe eine halbe Stunde. Als er endlich gefunden ist, interessiert er sich gar nicht dafür, was der Herr stellvertretende Ministerpräsident ihm zu sagen hat. Also direkt beim nordrhein-westfälischen Innenministerium anrufen. Hier ist man zwar Vespers Meinung, daß die Demonstranten freigelassen werden sollten - aber wenn die Polizeileitung das nun mal nicht will? Es seien Straftaten von der Gruppe ausgegangen, beharrt die Einsatzleitung auf ihrem Festnahmewillen. Das Ministerium könnte einfach den polizeilichen Rückzug und die Freilassung anweisen. Macht es aber nicht - es fürchtet schlechte Presse: "Rot-Grün läßt Straftäter laufen!" Die Verhandlungen gehen weiter. Nächste Station: die Staatsanwaltschaft. Die schickt zwei Abgesandte zur Beurteilung. Über zwei Stunden sind mittlerweile verstrichen, und Vesper ist - nur im dünnen Jakett - wie die Demonstranten völlig durchnäßt. Um 20.40 Uhr endlich die Entscheidung: Alle Eingekesselten werden freigelassen. "Laßt uns jetzt alle zur Beethoven-Halle gehen und feiern, daß die Nazis wieder aus Bonn weg sind", lädt Michael Vesper die Menge ein. Mit dem stellvertretenden Ministerpräsident an der Spitze zieht schließlich ein wilder autonomer Haufen, laut "Hoch die internationale Solidarität" und "Kein Fußbreit den Faschisten" rufend, zum Grünen-Parteitag. Der war gerade beendet worden.

Auch zwischen dem "Traditionalisten" von Larcher und dem "Modernisierer" Clement weiß Lafontaine rhetorisch zu schlichten. Den einen bedient er mit Klassenkampfparolen: Die Bekämpfung der illegalen Beschäftung, "der Ausbeutung in modernen Zeiten", stehe an erster Stelle der künftigen Regierungsarbeit, verkündet Lafontaine: "Es ist so viel von Organisierter Kriminalität die Rede: bei Drogen, bei Schlepperbanden, bei Banden von Autodieben und so weiter. Wer Menschen in brutalster Form organisiert ausbeutet, begeht für Sozialdemokraten ebenfalls organisierte Kriminalität, die mit Gefängnis bestraft werden muß."

Den "Modernisierern" schließlich gibt Lafontaine - ganz präsidial - eine Parodie auf Roman Herzog mit auf den Weg ins sozialdemokratische Regierungszeitalter: "Mit Modernisierungsangeboten nach dem Motto 'Es muß sich endlich mal was ändern', 'Es muß endlich einmal ein Ruck durch die Gesellschaft gehen', 'Wir müssen die Besitzstände überwinden' - dabei denkt der eine oder andere an die Rentnerin mit 900 Mark - und 'Unsere Gesellschaft ist viel zu starr geworden' kann ich leider nichts anfangen. Das ist hohles Geschwafel, das nicht weiterführt: Wir sind gerne bereit, in die konkrete Auseinandersetzung zu gehen. Es hat sich nach der Wahl am 27. September sehr viel geändert. Es ist ein Ruck durch die Bevölkerung gegangen, und wir sollten stolz darauf sein, daß wir alle diesen Ruck in unserem Lande bewirkt haben, an erster Stelle Gerhard Schröder."

Michael Vesper hat den historischen Beschluß seiner Partei verpaßt. Dabei ist es so schön gewesen: "Ist Applaus ein Gradmesser für Regierungsfähigkeit? Wenn ja, dann sind bei den Grünen alle Zeiger im grünen Bereich. Denn so viel Beifall wie am Sonnabend ließen die Delegierten der einstigen Protestpartei noch nie aufbranden", urteilt treffend die Hannoversche Allgemeine. Ein Parteitag ohne Streit, sieht man von einer zehnminütigen Einlage von etwa 40 Frauen ab, die sich gegen die Besetzung der grünen Ministerämter mit zwei Männern und nur einer Frau wenden. Ansonsten stehen viele schöne Fensterreden auf dem Programm - und zum Abschluß auch noch eine derartig überwältigende Mehrheit für den rot-grünen Koalitionsvertrag, wie sie nur die SPD toppen konnte. Man ist mit sich und der Welt zufrieden. Nur Vesper nicht, der ist naß - und nicht vom Sekt.


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