02.12.1998



Onkelchen als Sprengsatz

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*   Onkelchen als Sprengsatz
Von Pascal Beucker

Keiner will Abdullah Öcalan - außer der Türkei. Aber die wird ihn wohl nicht kriegen. 

Massimo D'Alema konnte seine Verstimmung nur schwer verbergen: "Ganz gleich, was ich denke, was Deutschland tun sollte, ist es an Deutschland zu entscheiden, was es tun wird", formulierte er diplomatisch bemüht. Denn das, was ihm der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder am Freitag in Bonn mitgeteilt hatte, war nicht nach dem Geschmack des italienischen Ministerpräsidenten gewesen. "Wir haben uns für den Schutz des Rechtsfriedens entschieden", verkündete Schröder. Will heißen: Dem in Rom unter Hausarrest stehenden PKK-Führer Abdullah Öcalan soll trotz eines deutschen Haftbefehls unter anderem wegen mehrerer Morde nicht in Deutschland der Prozeß gemacht werden. Bei einer Verurteilung in Deutschland hätte Öcalan eine lebenslange Haftstrafe gedroht.

Zwar müsse sowohl nach den Interpol-Regelungen als auch nach dem Schengen-Abkommen ein Verdächtiger festgenommen werden, wenn ein internationaler Haftbefehl ausgestellt sei, erläuterte Jurist Schröder am Freitag. Aber jede Regierung habe die Freiheit zu entscheiden, ob sie im Falle einer Festnahme auch die Auslieferung wolle. "Wenn sie es nicht tut, muß sie gute Gründe haben", so Schröder. Die gebe es in diesem Fall. Immerhin sei Deutschland "das Land mit den meisten kurdischen Flüchtlingen und den meisten türkischen Mitbürgern", und "wir wollen nicht, daß die zu befürchtenden Konflikte auf deutschem Boden ausgetragen werden".

Er könne die Entscheidung der deutschen Regierung nur "zur Kenntnis nehmen", erklärte D'Alema. Es sei nicht seine Aufgabe, "Probleme des Rechtsfriedens in Deutschland zu beurteilen". Allerdings kämen auch in Italien "täglich Hunderte kurdischer Flüchtlinge" an. Nun muß Italien also den kurdischen Sprengsatz behalten. Noch bis zum 22. Dezember, so D'Alema, werde Öcalan sich "in der Obhut unserer Polizeikräfte in Italien" befinden. Danach sei er ein freier Mann, da in Italien nichts gegen ihn vorliege. Für diesen Fall dürften sich die Beziehungen zwischen Italien und der Türkei weiter verschlechtern. D'Alema hofft daher, daß bis dahin "ein Ausweg gefunden" werde.

Aber das schert die Bundesregierung wenig, die Öcalan zwar jahrelang mit internationalem Haftbefehl hat suchen lassen, ihn nun jedoch nicht haben will. Der Feststellung des italienischen Außenministers Lamberto Dini, Deutschland habe "die moralische Pflicht", die Auslieferung zu beantragen, kann sie nichts abgewinnen. Schließlich, so gab Bundesinnenminister Otto Schily vergangene Woche in Interviews und Talkshows zum besten, habe sich Italien das Öcalan-Problem selber eingebrockt. Sei "Apo" nicht von 50 italienischen Parlamentariern, Rechten wie Linken, nach Italien eingeladen worden? Sie hätten das "Onkelchen" im Land gewollt, nun dürften sie ihn auch behalten.

Mitte letzter Woche hatte sich der Außenpolitische Sprecher der Rifondazione Comunista (RC), Ramon Mantovani, dazu bekannt, Öcalan bei seinem Flug von Moskau nach Italien am 12. November sogar begleitet zu haben. Über Mittelsleute habe der PKK-Chef einen Tag zuvor Kontakt zur RC aufgenommen. Die italienische Regierung sei darüber nicht unterrichtet gewesen, und es habe gegenüber Öcalan keine Zusicherungen für seinen Aufenthalt in Italien gegeben, so Mantovani. Er habe ihm nur versichert, daß das italienische Recht die Auslieferung an die Türkei verhindere. "Wir wollten den Kurden lediglich helfen, einen Weg für Friedensgespräche zu finden", begründete Mantovani sein Handeln. Die oppositionelle RC fordert ebenso wie die an der Regierungskoalition beteiligte Demokratischen Partei der Kommunisten Italiens (PDCI), Öcalan Asyl zu gewähren. Dies aber lehnen sowohl D'Alema als auch Außenminister Dini zur Zeit noch ab. Der rechte Oppositionsführer Silvio Berlusconi hat Öcalans unverzügliche Ausweisung gefordert.

Gerhard Schröder ließ seinen Amtskollegen D'Alema die Heimreise allerdings nicht mit ganz leeren Händen antreten. Man solle doch versuchen, Öcalan vor ein internationales Gericht zu stellen, schlug der deutsche Kanzler vor. Ein solches Gericht gibt es allerdings bisher nicht. Die Details müßten noch von Experten ausgearbeitet werden, sagte Schröder. Nach Angaben aus Regierungskreisen wird an ein eigens für Öcalan zu schaffendes Tribunal gedacht, das international oder auch rein europäisch besetzt sein könnte. Alle Beteiligten, auch die Türkei, müßten sich verpflichten, einem entsprechenden Urteil zu folgen. Allerdings lehnte die türkische Regierung postwendend jegliche Vorschläge, den PKK-Chef vor ein internationales Gericht zu bringen, strikt ab. Öcalan solle entweder an die Türkei ausgeliefert werden oder in der Bundesrepublik seinen Prozeß bekommen. Wenn Bonn nicht die Auslieferung Öcalans beantrage, sei Deutschland ein "Rechtsstaat mit Angst vor dem Terrorismus", polterte der stellvertretende türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit. Vor diesem Hintergrund bezeichnete D'Alema die Pläne für ein internationales Verfahren gegen den PKK-Chef distanziert als eine "interessante Arbeitshypothese".

Zur Zeit arbeiten zwei Internationale Strafgerichtshöfe mit genau umrissenem Zuständigkeitsbereich: Das Tribunal in Den Haag ist für die Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien zuständig, der Strafgerichtshof in Arusha, im Norden Tansanias, behandelt den Massenmord in Ruanda. Auf europäischer Ebene gibt es noch den Europäischen Gerichtshof in Straßburg. Der ist jedoch nicht für Strafverfahren zuständig. Der im Juli beschlossene UN-Strafgerichtshof wird erst in einigen Jahren seine Arbeit aufnehmen. Zur Lösung dieses Problems hat Bundesinnenminister Schily vorgeschlagen, ein "Ad-hoc-Tribunal" für Öcalan zu konstituieren. Das wäre ein Novum in der Rechtsgeschichte. Am Samstag reiste der deutsche Außenminister Fischer trotzdem extra nach Rom, um seinem italienischen Amtskollegen Dini die deutschen Überlegungen noch einmal näherzubringen. Es soll schließlich keiner sagen können, die rot-grüne Regierung habe sich nicht ernsthafte Gedanken gemacht.

Der Verzicht auf eine Auslieferung Öcalans ist nicht nur im rot-grünen Regierungslager auf Zustimmung gestoßen. Auch CDU-Chef Schäuble spendete Beifall und erklärte, seine Partei trage die Entscheidung der Bundesregierung grundsätzlich mit. Ebenso lehnte der bayerische CSU-Innenminister Günther Beckstein eine Auslieferung in die BRD ab, weil die PKK gerade hier viele Sympathisanten habe.

Im der bundesdeutschen Presse ist die Entscheidung, auf die Auslieferung zu verzichten, kontrovers aufgenommen worden. Die Berliner tageszeitung warf der neuen Regierung Feigheit vor dem Feind vor. Der vergangene Freitag sei "ein schwarzer Tag für das Rechtsempfinden" gewesen, kommentierte das Blatt. "Noch selten hat ein Rechtsstaat im modernen Westeuropa so vor der Gewalt kapituliert." Wenn schon ein Land wie Deutschland vor einem Öcalan kneife, so die taz, "wie sollten dann etwa die lateinamerikanischen Länder den Mut fassen, sich ihrer eigenen Verbrecher anzunehmen, wo diese tatsächlich mit Staatsstreich drohen können"? Eine Einstellung, die die Zeit nicht teilt: "Politische Vernunft geht vor", urteilte die Hamburger Wochenzeitung. Auch wenn das Verhalten der Bundesregierung durchaus als "rechtsstaatlich fragwürdig" zu bewerten sei, handle sie doch richtig: "Die möglichen Konsequenzen eines Prozesses für die innere Sicherheit sind nicht einfach von der Hand zu weisen."


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