02.12.1998



Außenpolitische Abseitsfalle

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*   Außenpolitische Abseitsfalle
Von Pascal Beucker

Die Uefa hat zum ersten Mal selbständig ein Fußballspiel aus politischen Gründen verlegt - in der Türkei wird das als Affront gesehen.

Es war ein Champions-League-Spieltag des Grauens: Barcelona ist 'raus, für den PSV Eindhoven ist's ebenso vorbei wie für Arsenal London. Ajax hat nur noch eine theoretische Chance, die Münchener Bayern haben es dagegen fast geschafft. Und ausgerechnet der FCK steht als erste Mannschaft bereits vor dem letzten Spiel der Vorrunde als Viertelfinalist fest. Kaiserslautern statt Eindhoven - ungerechte Fußballwelt.

"Es gibt halt solche schrecklichen Tage im Fußball", kommentierte Ajax-Trainer Morten Olsen den Spieltag. Dabei ist der Spieltag noch gar nicht vorbei, es kann noch schlimmer kommen, denn das spannendste Match steht noch bevor: Galatasaray Istanbul gegen Juventus Turin - bei einer Niederlage ist der Wettbewerb für Juve vorbei. Doch um Fußball geht es bei dieser Partie inzwischen nur noch am Rande: Die Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan machte aus dem sportlichen ein politischen Ereignis.

Eigentlich hätte das Spiel ebenso wie die anderen Begegnungen in der vergangenen Woche ausgetragen werden sollen. Doch nach den tagelangen antiitalienischen Demonstrationen in der Türkei erreichte Juventus eine Verlegung des Spiels auf diesen Mittwoch. Die angespannte politische Situation zwischen Italien und der Türkei wegen des Streits um die Auslieferung Öcalans ließe diesen Schritt ratsam erscheinen, urteilte die Europäische Fußball-Union Uefa. Dabei hatte der türkische Innenminister Kutlu Aktas nachdrücklich für die Sicherheit der Turiner garantiert und zu ihrem Schutz einen riesigen Polizeistaatseinsatz versprochen: 20 000 Soldaten und Polizisten sollten das Spiel sichern.

Vorbeugende Spielverlegungen wegen drohender Ausschreitungen hatte es bisher noch nicht gegeben. Bisher reagierte die Uefa immer erst, nachdem es zu Zwischenfällen gekommen war, wie im Fall von Wisla Krakaw. Im Uefa-Cup-Spiel zwischen Wisla und Parma war der italienische Nationalspieler Dino Baggio von einem Messer am Kopf getroffen worden und mußte mit fünf Stichen genäht werden, konnte aber anschließend weiterspielen. Am vergangenen Mittwoch wies nun der Verband den Protest des polnischen Klub gegen die daraufhin verhängte einjährige Sperre zurück.

Galatasaray fühlt sich indes von den europäischen Fußballfunktionären verschaukelt. Sprecher Ali Dürüst mutmaßte, Juve habe die türkisch-italienische Krise nur "künstlich hochgespielt", um seine verletzten Spieler in Ruhe behandeln und am 2. Dezember in Bestbesetzung antreten zu können. Galatasaray-Trainer Fatih Terim wittert eine bösartige Intrige: "Die Europäer tun wirklich alles, um uns die Gruppenführung mit unsportlichen Mitteln streitig zu machen." Terim weiter: "Das uns angetane Unrecht ist grenzenlos."

Auch der in der letzten Woche abgewählte türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz ging mit der Uefa hart ins Gericht. "Das fundamentale Prinzip der Uefa lautet, Politik nicht mit dem Sport zu vermischen." Genau gegen dieses Prinzip habe sie nun verstoßen, erklärte Yilmaz. In der Tat hat der Europäische Fußballverband mit seiner Entscheidung einen Präzedenzfall geschaffen: Noch nie wurde ein Spiel der Champions-League aus politischen Gründen verlegt.

Allerdings hat sich Juventus Turin nur teilweise bei den Uefa-Gewaltigen durchsetzen können. So hatte der Juve-Ehrenpräsident Gianni Agnelli gefordert, daß das Spiel nicht nur terminlich, sondern auch räumlich verlegt werden sollte, die rumänische Hauptstadt Bukarest war als neutraler Austragungsort vorgeschlagen worden. Darauf ließ sich die Uefa jedoch nicht ein. Auch eine erneute Verschiebung lehnte sie am vergangenen Donnerstag ab.

Nun kommen die Tifosi jedoch in Bedrängnis, denn die Spieler rebellieren. Sie wollen in der gegenwärtigen Situation nicht in die Türkei, wie Kapitän Angelo Di Livio erklärte: "Es kann nicht sein, daß wir unser Leben riskieren." Die Verlegung um eine Woche nütze da nichts, weiß Di Livio: "Die Angst war da, und sie wird auch in einer Woche da sein, wenn sich die Situation nicht grundlegend ändert."

Juves Superstar, der französische Weltmeister Zinedine Zidane, hat angedroht, auf keinen Fall nach Istanbul mitfahren zu wollen. Auch Trainer Marcello Lippi will eher nicht in Istanbul antreten: "Ich wünschte, wir müßten dort nicht spielen." Für Juve-Manager Luciano Moggi steht jedenfalls fest: "Wir werden nur nach Istanbul fahren, wenn unsere Sicherheit hundertprozentig gewährleistet ist."

Ob mit oder ohne Zidane - Juventus Turin wird wohl gegen Galatasaray spielen müssen, denn die Konsequenzen im Falle des Nichtauflaufens wird sich der italienische Klub ebenso wenig leisten wollen wie Bayern München bei seinen Qualifikationsspielen zur Champions-League im Sommer gegen den Belgrader Verein FC Obilic. Damals hatte es Proteste gegen die Teilnahme des jugoswlawischen Vereins gegeben, weil Obilic von dem vermeintlichen serbischen Kriegsverbrecher Zeljko Raznatovic alias "Arkan" geführt wird.

Die Bayern-Oberen reagierten schließlich diplomatisch: Mit dem Hinweis, es handele sich um Sport und nicht um Politik, ließen sie spielen, denn Bayern, so argumentierten sie weiter, dürfe keinen Ausschluß aus der Champions-League - und den damit verbundenen Verlust von Millionen-Einnahmen - riskieren. Allerdings vermieden sie jede Begegnung mit "Arkan". Beim Hinspiel in München half ihnen dabei ein Interpolsteckbrief, der Raznatovic am Besuch des Olympiastadions hinderte. Zum Rückspiel in Belgrad reisten Bayern-Präsident Beckenbauer und sein Vize Rummenigge dann "aus Termingründen" nicht an.

Noch 1992 hätten die Bayern-Vorständler auf solche Verrenkungen verzichten können. Damals schlossen sich der Fußballweltverband Fifa und die Uefa den vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Sanktionen gegen Serbien und Montenegro an, die einen Sportboykott umfassen. Die jugoslawischen Vereine durften an internationalen Wettbewerben nicht mehr teilnehmen. Opfer dieser Maßnahme wurde vor allem die Fußballnationalmannschaft Jugoslawiens. Obwohl sportlich qualifiziert, konnte sie nicht zur Europameisterschaft in Schweden antreten. Auch von der darauffolgenden Qualifikation zur Weltmeisterschaft war das Team ausgeschlossen. Unter sportlichen Gesichtspunkten, erklärte der damalige Fifa-Generalsekretär und heutige Chef des Fußballweltverbandes, Joseph Blatter, sei die Entscheidung zwar nicht leicht gefallen, "doch der Sport muß sich nun einmal den Entscheidungen der Politik beugen". Immerhin: Für Jugoslawien rückte seinerzeit die Mannschaft Dänemarks nach - und die wurde mit wunderbarem Fußball Europameister gegen Bertis Knüppelbuben. Ausgleichende Gerechtigkeit.

Politisch motivierte Ausschlüsse von Sportmannschaften eines Landes hatte es zuvor nur gegenüber Deutschland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und gegenüber dem Apartheid-Regime in Südafrika gegeben. Auch bei diesen Entscheidungen folgte der Fußball der internationalen Politik. Eigenständige Beschlüsse des internationalen Fußballverbände, Länder aufgrund der dortigen politischen Verhältnisse zu sanktionieren, gab es hingegen bisher nicht. Sie üben sich vielmehr bis heute bewußt in systemstabilisierender politischer "Neutralität".

So gab es keine Diskussionen über die Teilnahme beispielsweise Nigerias oder des Irans an der letzten Weltmeisterschaft. Die Fifa schreckte in der Vergangenheit nicht einmal davor zurück, ihre WM in einem von einer Militärjunta beherrschten Land stattfinden zu lassen: Trotz internationaler Proteste stand 1978 eine Verlegung der WM in Argentinien nie zur Debatte.

Ebensowenig nahmen die Verwalter des runden Leders am Chile Pinochets Anstoß. Im Gegenteil: Als sich die Nationalmannschaft der Sowjetunion 1973 weigerte, zur Weltmeisterschaftsqualifikation ausgerechnet im erst kurz zuvor von den Leichen gesäuberten Stadion von Santiago anzutreten, lehnte die Fifa jede Verlegung des Spielortes ab. Die Sowjetunion trat daraufhin nicht an. Für Chile erwies sich der Skrupel des Vize-Europameisters von 1972 als Glücksfall: Es erreichte so kampflos die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik.

Auch um die politischen Verhältnisse in der Türkei hat sich die internationale Fußballgemeinschaft zuvor noch nie gekümmert. Und nun verlegte die Uefa einfach aus politischen Gründen das Champions-League-Spiel Galatasarays? Nur wegen ein paar antiitalienischer Demonstrationen und einiger verbrannter italienischer Fahnen? "Skandalentscheidung", zürnte die türkische Tageszeitung Hürriyet.

Galatasaray-Trainer Fatih Terim fehlt ebenfalls jedes Verständnis für dieses Politikum: "Wenn Juventus aus angeblicher Angst vor Ausschreitungen nicht zu uns kommt, dann brauchen türkische Mannschaften überhaupt nicht mehr ins Ausland zu reisen, weil wir ständig Ziel von anti-türkischen Kampagnen sind und auch oft attackiert werden." Dabei könnte ihm eigentlich nichts Besseres passieren, als daß Juve am heutigen Mittwoch nicht antritt. Denn dann würde Galatasaray als Sieger gewertet. Und hätte die nächste Runde erreicht.


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