09.12.1998



Frei, gleich und mißbraucht

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*   Frei gleich und mißbraucht
Von Pascal Beucker

Als Reaktion auf die Nazi-Barbarei wurde vor 50 Jahren die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der UN verabschiedet. 

Am 10. Dezember vor 50 Jahren verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal". Sie zog damit eine entscheidende Lehre aus der Barbarei des deutschen Faschismus: Die Staatengemeinschaft postulierte mit dieser Deklaration, daß der Mensch, eben weil er Mensch ist, unveräußerliche Rechte hat, die ihm niemand nehmen darf - auch keine Staatsgewalt.

Die Sieger über und die Befreiten von Nazi-Deutschland wollten gemeinsame Zielvorstellungen für eine Welt formulieren, "in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen". Der Leitgedanke der Deklaration war nicht weniger, als Verhältnisse zu schaffen, in denen das Individuum weder politisch noch kulturell, noch sozial unterdrückt wird.

Den Zeitungen in Deutschland war die Menschenrechtsdeklaration vor 50 Jahren nicht mehr als eine Kurzmeldung wert. Die meisten Deutschen empfanden sie als Ohrfeige. Schließlich stellte die Erklärung eine der Lehren der internationalen Staatengemeinschaft aus dem gerade bezwungenen Nationalsozialismus dar. Auf ein rechtlich bindendes Regelwerk konnten sich die UN-Staaten allerdings nicht verständigen. So erhielt die Menschenrechtsdeklaration nur "empfehlenden Charakter".

Der Erklärung waren zähe Verhandlungen vorausgegangen. Mit einem Berg von Papier hatten sich die Abgesandten u.a. aus China, Frankreich und der Sowjetunion am 9. Juni 1947 ins ruhige US-amerikanische Lake Success zur Beratung zurückgezogen. Die Regierungen Großbritanniens und der USA hatten den Ausschußmitgliedern ebenso eigene Entwürfe zugesandt wie auch Chile, Kuba und Panama.

Von über 50 Organisationen lagen detaillierte Empfehlungen vor, und auch Privatpersonen aus neun Ländern baten darum, daß ihre Vorschläge doch Berücksichtigung finden. Es folgten monatelange heftige Diskussionen - vor allem darüber, wo der Schwerpunkt der Erklärung liegen sollte: auf den bürgerlichen Freiheitsrechten, wie es die USA wollten, oder auf den sozialen Anspruchsrechten, wie es die Sowjetunion forderte.

Am 10. Dezember hatten sich die Staaten in der Generalversammlung einen Kompromiß gefunden, indem die Vorstellungen beider Seiten gleichberechtigt festgeschrieben wurden. Den historischen Moment beschreibt der Berliner Emigrant Stephane Hessel, der als französischer Diplomat dem Ereignis im Palais Chaillon beiwohnte, in seinen Lebenserinnerungen: "Als der Präsident die Abstimmung eröffnete, überkam uns ein beklemmendes Gefühl. Würde die UdSSR dagegen stimmen? Würde sie sich der Stimme enthalten? Was würde Saudi-Arabien tun? Der Präsident verkündete 43 Stimmen dafür, 0 dagegen, 8 Enthaltungen." Es sei "vielleicht einer der bewegendsten Augenblicke meines Lebens" gewesen, so der Überlebende von Buchenwald. Und: "Gewiß einer der letzten Momente des Konsenses innerhalb der internationalen Gemeinschaft." Herausgekommen war ein Papier mit einer Präambel, 30 Artikeln und vielen guten Absichten.

Aus der damaligen Deklaration sind bis heute rund 60 Abkommen zum Schutz der Menschenrechte abgeleitet worden - Verstöße der Unterzeichnerstaaten können sanktioniert werden. So verabschiedete die UN 1965 die Konvention über die Beseitigung aller Formen von rassischer Diskriminierung. Weiter kodifiziert wurden die Menschenrechte 1966 in zwei internationalen Pakten über die bürgerlichen und politischen Rechte sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Mit diesen beiden Abkommen wurde aus Teilen der Erklärung erstmals verbindliches Völkerrecht. Allerdings: Die 1948 erreichte Vereinigung politischer und wirtschaftlicher Menschenrechte wurde aufgespalten. Damit oblag die Definitionsgewalt darüber, ob die Rechte, die dem Menschen aus seinem bloßen Menschsein entspringen, politischer oder sozialer Natur sind oder beides, den einzelnen ratifizierenden Staaten.

Auf das Verbot der Diskriminierung von Frauen einigten sich die UN 1979. Das Verbot der Folter, grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe führte 1984 ebenfalls zum Abschluß einer internationalen Konvention. Die Konvention über die Rechte des Kindes wurde 1989 beschlossen - es hat die höchste Ratifizierungsrate: Als einzige sind die USA und Somalia dem Vertragswerk nicht beigetreten.

Mit den Jahren ist so ein System von Konventionen entstanden. Dazu gehört auch die einen Tag vor der Menschenrechtserklärung von der UN-Vollversammlung verabschiedete Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords. Auch diese war eine Konsequenz aus den Naziverbrechen. Die Konvention sah ein internationales Tribunal vor, doch der aufziehende Kalte Krieg verhinderte seine Einrichtung. Ein halbes Jahrhundert später, am 17. Juli 1998, stimmten 120 Staaten in Rom für die Gründung eines ständigen Weltgerichtshofs. Er soll in Zukunft legitimieren, was die Weltpolizei exekutiert - scheinbar objektiv. Dieser Gerichtshof soll für die temporären Sieger der Gegenwartsgeschichte ein Forum sein, um die jeweiligen Verlierer vor der Weltöffentlichkeit am Nasenring durch die Arena zu ziehen - ein Hohn angesichts der vor mehr als einem halben Jahrhundert vor dem Hintergrund der Barbarei des deutschen Faschismus entstandenen Idee.

Menschenrechte finden sich heute in fast allen Verfassungen auf der Welt. Sie sind zu einem zentralen Begriff der internationalen Politik geworden. Ihre inflationäre propagandistische Instrumentalisierung steht in einem krassen Gegensatz zur materiellen Verwirklichung. In vollem Umfang realisiert worden ist die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" bislang in keinem Land - schon alleine, weil es keinen Staat ohne Armut gibt.

"Die schrecklichen Erfahrungen zeigen, daß die Realität von einer Verwirklichung der Ideale der 1948 verabschiedeten Erklärung noch weit entfernt ist", konstatiert die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson. "Selbst in diesem Jubiläumsjahr", stellt sie fest, "wurden Verteidiger der Menschenrechte in zahlreichen Ländern barbarisch ermordet". Alleine für das Jahr 1997 stellte amnesty international (ai) in 141 von 190 Staaten Verstöße fest. Und ai zählt "nur" die schlimmsten Kategorien von Menschenrechtsverletzungen wie extralegale Hinrichtungen, Folterungen oder Gefangennahme gewaltfreier Widerständler.

Das Eintreten für Menschenrechte ist nach wie vor ein Kampf gegen die Herrschenden geblieben. Das dokumentierte auch der ai-Kongreß "Zukunft für die Menschenrechte" in die Frankfurter Paulskirche, an dem am vergangenen Wochenende über 1 000 Menschen teilnahmen. Erstmals verlieh die Organisation einen Menschenrechtspreis. Ausgezeichnet wurden unter anderem Binta Sidibe, die in Gambia gegen Geschlechtsverstümmelung arbeitet, die algerische Journalistin Salima Ghezali und Yanette Bautista, die Vorsitzende einer Organisation von Angehörigen "Verschwundener" in Kolumbien. Prominentester Preisträger ist der chinesische Dissident Wei Jingsheng. Der Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, Akin Birdal, konnte nicht zu seiner Ehrung nach Frankfurt kommen. Die türkischen Behörden verweigerten ihm die Ausreise.

Der amnesty-Jahresbericht 1997 spart auch die Bundesrepublik nicht aus. In dem Bericht werden beispielsweise eine Reihe von polizeilichen Übergriffen speziell gegen Asylbewerber festgestellt. Mißhandlungen seien weder umfassend noch unparteiisch aufgeklärt worden. "Glaubwürdige Politik für Menschenrechte muß vor der eigenen Tür beginnen", sagte die Journalistin Carola Stern in ihrer Rede auf dem Kongreß. "Die bundesdeutsche amnesty-Sektion muß mit allen Kräften und Verbündeten dafür Sorge tragen, daß auch künftig politische Flüchtlinge in unserem Land Asyl erhalten", forderte das ai-Gründungsmitglied. Das sei die Bedingung dafür, um auch für die Rechte von Flüchtlingen und Regimekritikern in anderen Ländern zu kämpfen. Zudem reiche es nicht, sich nur für die Einhaltung der politischen Menschenrechte einzusetzen, stellte Stern fest: "Nur wer nicht verhungert, kann sein Menschenrecht auf Meinungsfreiheit auch gebrauchen."


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