Magazin KONKRET
Heft 9/98

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*  Ottos Motor
Von Pascal Beucker

Der designierte Innenminister des Bundeskanzlers in spe hat Manfred Kanther längst rechts überholt.

Schon als er noch ein grüner Outlaw war, galt er unter deutschen Geistesheroen als ministrabel: Harald Juhnke wünschte sich in den 80er Otto Schily als Berliner Kultursenator. In Hessen und Baden-Württemberg hätte er Landesminister werden können, berichtet Schily stolz. Auch die Kandidatur als Ministerpräsident „in einem wirklich schönen ostdeutschen Bundesland“, sei ihm schon angetragen worden. Doch alle Angebote lehnte der Rechtsanwalt dankend ab: Er war für Höheres bestimmt. Seine Nominierung als „Innenminister“ für das Schattenkabinett Gerhard Schröders hat viele gleichwohl überrascht. Denn nach seinem unermüdlichen Einsatz für den Großen Lauschangriff hatte sich Schily auch nach Ansicht mancher Genossen die Rente redlich verdient. Der 66jährige bekam bei der Aufstellung der bayrischen Landesliste für die Bundestagswahlen mit Position 29 gerade noch jenen Platz, der 1994 als letzter für ein Bundestagsmandat gereicht hatte.

Doch Gerhard Schröder kann einen wie Schily brauchen: einen „Querdenker“, der als Linksliberaler von den Grünen zur SPD wechselte, von sich behauptet, „dass ich immer noch ein Linker bin“, und mutig in den Kampf mit Kanther, Schönbohm und Gauweiler um die Lufthoheit über den deutschen Stammtischen zieht. Vom Grundrechteverteidiger zum Law-and-order-Sheriff - das gefällt der New-SPD.

„Es gibt“, stellte Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ fest, „keine Verschärfung im Bereich des Straf-, Polizei- oder Ausländerrechts, die in letzter Zeit nicht von der SPD angeregt oder mit angerichtet worden wäre.“ Otto Schily hat dabei den Bluthund gespielt. Und doch täte man ihm unrecht, wollte man ihm unterstellen, er setze immer nur auf neue härtere Gesetze. Manchmal befindet er sich gar im offenen Widerstreit mit Manfred Kanther um den rechten Weg der Verbrechensbekämpfung, So sprach sich Schily in der Debatte über die „Soldaten sind Mörder“-Urteile des Bundesverfassungsgerichts 1996 gegen besondere Strafvorschriften für die „Verunglimpfung“ von Soldaten aus. Schließlich dürften schon nach geltendem Recht Bundeswehrsoldaten nicht als Mörder beschimpft werden, hielt der SPD-Abgeordnete der Regierungskoalition im Bundestag entschlossen entgegen: „Wer das gleichwohl tut, macht sich strafbar." Harte Oppositionsarbeit.

Die wird immer seltener nötig. „Wenn der Himmel blau ist, und Kanther erklärt, der Himmel sei blau, dann hat er recht“, sagt Otto Schily. Wenn der Himmel aber nicht blau ist, stellt sich der potentielle Nachfolger ihn eben so vor, wie der amtierende Innenminister ihn beschrieben hat: zuviel Kriminalität, zu viele Ausländer, zuwenig starker Staat. Natürlich wissen auch die SPD und ihr designierter Innenminister, dass sich die Furcht vieler Menschen, Opfer von Kriminalität zu werden, nicht mit der objektiven Kriminalitätsgefahr deckt. Aber was soll's? Schließlich präge „das subjektive Gefühl von Unsicherheit die Befindlichkeiten der Menschen“, heißt es im SPD-Positionspapier zur „Inneren Sicherheit“, das Schily zusammen mit dem niedersächsischen Innenminister Gerhard Glogowski Ende Juli präsentierte: „Dieser Verlust an Lebensqualität lässt sich auch durch einen Hinweis auf die sich nicht verschlechternde Kriminalitätslage im eigenen Lebensumfeld nicht einfach ausräumen.“ Solch ein „Hinweis“ auf die Realität könnte Wählerstimmen kosten. Populistische Spräche sind erfolgversprechender, weiß Schily: „Es geht heute nicht mehr darum, den einzelnen vor dem Staat zu schützen, sondern den einzelnen vor der organisierten Kriminalität.“ Die organisierte Kriminalität bedrohe die Grundrechte. Dem kann nur durch präventiven Abbau von Grundrechten begegnet werden. Daher hat sich der SPD-Innenpolitiker auch „aus voller Überzeugung“ für den Großen Lauschangriff eingesetzt.

Auch in kriminellen Kindern und Jugendlichen sieht Schily ein großes Bedrohungspotential, das nicht angemessen verfolgt wird: „Die begehen eine Straftat, bekommen eine hektographierte Mahnung, die hängen sie sich als Trophäe auf.“ So geht es natürlich nicht. Deshalb erteilt die SPD einen Erziehungsauftrag: „Die schnelle und spürbare Reaktion von Polizei und Justiz bei abweichendem und strafbarem Verhalten gehört zur Erziehung, die Grenzen aufzeigt, und Jugendhilfe zum Ziel hat.“ Wenn nötig, muss die missratene Brut eben in geschlossene Heime gesperrt werden. Hat Tony Blair nicht schließlich sogar einen eigenen Kinder- und Jugendknast?

Schröders Parole „Kriminelle Ausländer raus, aber schnell“ hält Schily zwar für „im Ton falsch“, aber „in der Sache richtig“. Otto trifft den richtigen Ton: „Wir werden es beispielsweise nicht hinnehmen, dass Ausländer, die sich vorübergehend bei uns aufhalten, Polizisten blutig schlagen. Der Staat muss dann mit aller Härte vorgehen.“ Wie, weiß das SPD-Positionspapier: „Die Ausweisungs- und Abschiebungsmöglichkeiten für ausländische Straftäter müssen konsequent genutzt werden.“ Am besten kommen Ausländer, ob „kriminell“ oder nicht, erst gar nicht in „unser Land“, meint Schily: „Auf absehbare Zeit sehe ich gar keinen Spielraum für zusätzliche Zuwanderung.“ Deswegen dürfe auch der sogenannte „Asylkompromiss“ von 1993 nicht aufgekündigt werden: „Der Artikel 16 hat in seiner alten Fassung letztlich zu unbeschränkter Einwanderung geführt. Das war so nicht haltbar.“

Bleibt das Problem mit denjenigen, die schon da sind. Von ihnen verlangt Schily Anpassung. Integration setze nicht nur Leistungen des Aufnahmestaats voraus. Sie sei „auch eine Leistung, die die Zuwanderer erbringen müssen.“ Es müssten ihnen schon „bestimmte Selbstverständlichkeiten“ abverlangt werden können: „Dazu gehört, dass wer hier seinen dauerhaften Wohnsitz nimmt, die deutsche Sprache erlernt, seinen Kindern die deutsche Sprache beibringen lässt und Recht und Verfassung achtet.“

Achtung von Recht und Verfassung liegt dem Mann mit der ewigen Pony-Frisur sehr am Herzen. Beispiel PDS, ein Fall für den Verfassungsschutz: „Soweit ich das im Moment überblicken kann, scheint mir eine Beobachtung auch in Zukunft notwendig zu sein.“ Gleichzeitig begrüßte Schily die Ankündigung von SPD-Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering, den ostdeutschen Landesverbänden freie Hand bei der Kooperation mit den Postkommunisten zu lassen - ein Pragmatiker.

So große Stücke auf den Verfassungsschutz hat Otto Schily nicht immer gehalten. Bundesweit bekannt wurde er Anfang der 70er Jahre als einer der Verteidiger der RAF-Gründergeneration. Er vertrat Horst Mahler, war Vertrauensanwalt von Gudrun Ensslin und Grabredner Ulrike Meinhofs. „Das ist permanenter Notstand, Ausnahmezustand, der hier praktiziert wird“, beurteilte Schily die Prozesse. Der Staat führe einen „verdeckten Krieg“. Solche Formulierungen hält der Advokat mittlerweile für „sehr Überspitzt“. Denn er weiß nun, dass „nur ein Gesamtkonzept von abgestufter Repression und wirkungsvoller Prävention“ die „Innere Sicherheit“ garantiert. Dass er trotzdem immer noch von manchen als RAF-Anwalt tituliert wird, empfindet Schily als ungerecht. Schließlich war der von ihm sehr geschätzte Richard von Weizsäcker auch mal Verteidiger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess: „Es wäre doch wohl nicht gerecht, ihn deshalb einen ‚Kriegsverbrecheranwalt’ zu nennen, so wie ich manchmal als ‚Terroristenanwalt’ bezeichnet werde.“

1980 gehörte der aus einer anthroposophischen Unternehmerfamilie stammende Schily zu den Mitbegründern der Grünen. Als die Öko-Partei 1983 Sprung in den Bundestag schaffte, war der einzige Krawattenträger der Newcomer dabei. Im Parlament profilierte er sich vor allem durch seine Arbeit im Flick-Untersuchungsausschuss. Schily repräsentierte eine liberale Bürgerrechtsposition in der Partei. Im März 1986 rotierte er aus dem Bundestag, im Januar 1987 kam er über die Landesliste der nordrhein-westfälischen Grünen wieder rein. Allerdings hatte sich seine Stellung in Fraktion und Partei gewandelt. Schily war in eine Außenseiterrolle geraten: in der Öffentlichkeit ein grüner Medienstar - in Partei und Fraktion ein Einzelkämpfer ohne Rückhalt. Seine Positionen gab er vor allein via Presse, Funk und Fernsehen kund - und diese Ansichten standen grundsätzlich quer zu grünen Beschlüssen. Nun rechtfertigte er auch die Politik des Staates im „deutschen Herbst“: „Wir müssen uns vor Augen führen, wie schwierig die Entscheidung in einem Krisenstab ist. Dazu gehört auch die Frage, ob die milde Lösung immer die beste ist. Wenn man einer Erpressung nachgibt, kann man neue erzeugen.“

Für eine Anzeige des Autokonzerns Porsche posierte der grüne Medienstar als einer der „Menschen, die ihre Welt bewegen“ (Porsche über Schily). Das in der Partei immer noch ausgeprägte linke Alternativmilieu widerte ihn hingegen zunehmend an. Die Partei rächte sich: Seine erste bittere Niederlage in der grünen Bundestagsfraktion erlebte Schily, als er im Februar 1987 dem öko-sozialistischen Kandidaten Thomas Ebermann bei der Wahl zum Fraktionsvorstand unterlag, obwohl die „Realos“ über eine satte Mehrheit verfügten. Der Geschlagene reagierte mit wütenden Attacken gegen Ebermann, der „exzentrische“, „teilweise abenteuerliche“ und „alte, links-sektiererische“ Positionen vertrete. Im Fraktionsvorstand dürfe keine Person sitzen, die das Gewaltmonopol des Staates in Frage stelle. Zwei Jahre später, im Januar 1989, versuchte Schily erneut, Fraktionssprecher zu werden. Doch wieder unterlag er, diesmal Helmut Lippelt.

Es war einer der letzten Auftritte Schilys in der grünen Fraktion. Als die NRW-Grünen im Herbst 1989 beschlossen, keine Kandidaten zu nominieren, die schon zweimal im Bundestag gesessen hatten, wechselte Schily zur SPD. Mit ihr konnte er der parlamentarischen Zwangspause entgehen. Die bayrischen Sozialdemokraten gaben dem neuen Mitglied einen sicheren Platz auf ihrer Landesliste. So kehrte Schily, anders als die Grünen, 1990 in den Bundestag zurück.

In der SPD-Fraktion war der Überläufer zunächst ein „Star auf der Reservebank“ („Süddeutsche Zeitung"). Er hatte viel Zeit, sich seinem erlernten Beruf zu widmen. Beispielsweise verteidigte er den unter Spionageverdacht stehenden Kaufmann Richard Müller, der seit den 70er Jahren als einer der wichtigsten Schmuggler neuer Technologien in die Comecon-Länder galt. Die CDU beanstandete vergeblich Interessenkonflikte zwischen Schilys gleichzeitiger Tätigkeit als Müller-Anwalt und Vorsitzender im Schalck- und Treuhand-Untersuchungsausschuss. Schily hatte den seinerzeit der Wirtschaftskriminalität angeklagten Müller erstmalig Ende der 80er Jahre vertreten. Für seine damaligen Dienste bedankten sich die Eheleute Müller mit einer 120.000-Mark-Spende an den SPD-Unterbezirk München-Land - dort kandidierte Schily nach seinem Wechsel zur SPD für den Bundestag. Für Schily ein normaler Vorgang. Es sei weder „moralisch oder aus irgendeinem anderen Grunde zu beanstanden, wenn mein Mandant an viele gemeinnützige Einrichtungen und auch an eine politische Partei Spenden vergibt“.

Das Hinterbänklerdasein verhalf Schily Anfang der 90er immerhin zu lichten Momenten: „Besonders zu Zeiten wirklicher oder eingebildeter Notlagen“ überkomme die Deutschen „leicht das wilhelminische Grundgefühl, und sie wollen nur noch Deutsche und keine Parteien mehr kennen“. Für die „SPD, in der ewigen Sorge vor dem Vorwurf der ‚vaterlandslosen Gesellen’“, stelle offensichtlich mal wieder „wenn schon keine große Koalition, dann wenigstens ein ‚großer Konsens’“ ein erstrebenswertes Ziel dar, kritisierte der SPD-Abgeordnete 1991. Eine konstruktive Opposition aber verleihe „ein deutlicheres Profil als die Einquartierung in irgendwelchen Nebenzimmern der Regierung!“

Im November 1994 durfte Schily im Bundestag endlich nach vorne rücken: Er ist in die erweiterte SPD-Fraktionsführung gewählt worden. Schily zeigte sich dankbar: „Asylkompromiss“, „Großer Lauschangriff“, Erweiterung der BGS-Kompetenzen, Gen-Datei - immer wenn sich Bundesregierung und SPD-Opposition auf den Abbau von Grund- und Freiheitsrechten verständigten, hat sich der Konvertit bewährt.

Nach dem 27. September könnte Schröder der Karriere des Otto Schily das Sahnehäubchen aufsetzen und ihn zum Bundesinnenminister ernennen. Dann dürfte der Anthroposoph endlich sein Quartier in den Nebenzimmern der Regierung aufgeben und ins Haupthaus ziehen. Natürlich habe er mit den Jahren einen Wandel durchgemacht, sagt Schily heute über sich: „Ich hoffe nicht, dass ich dämlicher geworden bin.“ Manche Hoffnung ist trügerisch.


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