05.05.1999



Der alte Chef als neuer Star

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*   Der alte Chef als neuer Star
Von Pascal Beucker

Für seine nachdenkliche Rede gegen den Kosovo-Krieg erntete Oskar Lafontaine am 1. Mai stürmischen Beifall. Sein einstiger Rivale, Verteidigungsminister Scharping, wurde ausgepfiffen.

Oskar LafontaineDie Redner auf den traditionellen Kundgebungen zum "Tag der Arbeit" hatten keinen leichten Stand. Gellende Pfeifkonzerte gegen DGB-Spitzenfunktionäre, "Mörder"-Rufe für Mitglieder der Bundesregierung - den ersten 1. Mai unter Rot-Grün hatte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund anders vorgestellt. Nur einer erntet keine Buhrufe bei seinem Auftritt: Oskar Lafontaine.

Daß der saarländische DGB ausgerechnet den prominentesten Frührentner der Republik als Hauptredner eingeladen hatte, hatte schon vorher für Aufregung gesorgt. Es werfe "ein seltsames Licht auf die Praxis des Deutschen Gewerkschaftsbundes, wenn sich auf der einen Seite Einzelgewerkschaften darum bemühen, den Bundesverteidigungsminister Scharping auf der 1. Mai-Veranstaltung in Ludwigshafen wieder auszuladen, und dann der DGB auf der anderen Seite Oskar Lafontaine reden läßt, von dem man leider befürchten muß, daß er eine Rede gegen die amtierende Bundesregierung hält", polterte der nordrhein-westfälische SPD-Landtagsabgeordnete Friedhelm Farthmann.

Es sei zu befürchten, daß Oskar Lafontaine "ein Faß aufmachen" wolle, warnte auch der Chef des rechten "Seeheimer Kreises" in der SPD, Gerd Andres. "Wer im nachhinein gegenüber der Regierung nicht illoyal sein will, der hält am besten den Mund", empfahl Andres seinem ehemaligen Parteichef. Und der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Peter Struck, mahnte: "Auch für einen ehemaligen SPD-Vorsitzenden gilt: Wenn er anderer Meinung ist, dann sollte er zum Telefonhörer greifen, anstatt sich vor ein Mikrofon zu stellen."

Bis zuletzt hatte der SPD-Parteivorstand offenbar noch auf ein Wunder gehofft. Geradezu trotzig verschickte die kommissarische Sprecherin Marlies Stieglitz am vergangenen Mittwoch eine Liste, an welchen Orten und zu welcher Zeit SPD-Präsidiumsmitglieder auf den Gewerkschaftskundgebungen zum 1. Mai sprechen würden. Darauf stand: "Reinhard Klimmt. 11 Uhr. DGB-Kundgebung in Saarbrücken; Deutsch-Französischer Garten." Doch es nutzte alles nichts. Am Samstag betrat nicht Klimmt, sondern sein Vorgänger im Ministerpräsidentenamt die Bühne: Oskar ist wieder da.

Ohne Krawatte, im Straßenanzug und offenen blauen Hemd stellt er sich den 12 000 Menschen, die nach Saarbrücken gekommen sind, und den unzähligen Fernsehkameras. Er spricht ruhig und bedächtig. "Differenziert" möchte er sich mit Jugoslawien beschäftigen, "weil niemand von uns einfache, fertige Antworten haben kann". Doch der 56jährige läßt keine Zweifel, was für ihn im Vordergrund aller Überlegungen steht: "Wie kann das Leid der Menschen möglichst schnell gelindert werden, wie kann dort möglichst schnell Frieden hergestellt werden?"

Lafontaine distanziert sich zu Beginn seiner Rede von einem Plakat mit der Forderung "Schröder muß weg", das den Bundeskanzler mit Hitlerscheitel und -bärtchen zeigt: "Dieser Stil der Auseinandersetzung führt nicht weiter." Denn der einstige starke Mann der SPD will argumentieren, aufklären - und er will, daß dieser Krieg endlich aufhört.

Es geht ihm um die Menschen in Jugoslawien: "Natürlich denken wir alle an die Menschen im Kosovo, die Vertreibung erleiden, die getötet wurden. Aber wir denken auch an die Menschen in Serbien, die sich ängstigen, die darunter leiden, daß bombardiert wird. Wir denken an die Menschen in Serbien, die Opfer der Bombardements geworden sind. Und: Ich denke auch an die Deserteure der Armeen, die verfolgt werden, die ebenfalls leiden dafür, daß sie sich nicht am Krieg beteiligen wollen."

Lafontaines Rede ist eine Ohrfeige: für die Nato, für die amtierende Bundesregierung wie auch für deren Vorgängerin. Er höre so oft, daß die Deutschen keinen Sonderweg beschreiten sollten, sagt Lafontaine. Aber er müsse dann daran erinnern, "daß sie zu Beginn einen Sonderweg beschritten haben, als sie gegen die Widerstände in Paris, in London und in Washington die Anerkennung der Teilstaaten durchgesetzt haben, weil man die Begriffe von Freiheit und Selbstbestimmung falsch verstanden hat". Denn Freiheit und Selbstbestimmung seien überhaupt nur vorstellbar, wenn sie mit Solidarität und Mitmenschlichkeit verbunden seien. "Deshalb war es falsch, dieser Kleinstaaterei, die auf völkischen Differenzen beruhte, auch noch Anerkennung zu geben." Ein Fehler sei es auch gewesen, "daß durch das Bombardement der Nato vor einigen Jahren in der Krajina es ermöglicht worden ist, daß die Kroaten die Serben vertrieben haben".

Zwar bestehe überhaupt kein Zweifel, daß Milosevic eine verbrecherische Politik verfolge, die verurteilt werden müsse. Aber: "Dennoch sind wir verpflichtet, kritisch zu überlegen, ob die bisherigen Entscheidungen richtig waren." Lafontaines Antwort ist eindeutig. Zwei schwere Fehler seien gemacht worden, die langfristig wirken werden. Der eine: Das Beiseiteschieben der Uno. Wer internationalen Frieden wolle, müsse das internationale Recht stärken. "Und das internationale Recht kann nur durch die Vereinten Nationen konstituiert werden, nicht durch andere, die sich selbst mandatieren." Der andere Fehler: Die augenblickliche Schwäche Rußlands auszunutzen und Rußland nicht mit einzubeziehen. In Europa und in der Welt könne kein Frieden ohne Rußland erreicht werden. "Wir haben eine Verpflichtung zum fairen Umgang mit Rußland, Rußland einzubeziehen."

Sind alle Wege genutzt worden, um eine friedliche Lösung zu erreichen? Lafontaine bezweifelt das. Wenn er nun Vorschläge höre, jetzt solle ein Öl-Embargo gegen Jugoslawien verwirklicht werden, könne er "manchmal bitter werden". Dann denke er: "Ein Ölembargo geht nicht, weil man mit Öllieferungen Geld verdienen kann, ein Waffenembargo geht nicht, weil an Waffenlieferungen Geld verdient werden kann. Was scheinbar in einer Welt, in der Geldverdienen so sehr das Handeln bestimmt, geht, sind Waffenlieferungen, Öllieferungen und Kriegsführung, weil an allem Geld verdient werden kann. Das ist die bittere Wahrheit."

Er hoffe, daß die europäischen Regierungen und die Clinton-Administration erkennen werden, "daß sie sich in eine Sackgasse verrannt haben und daß es notwendig ist, an den Verhandlungstisch zurückzukehren", ruft Lafontaine seinen Zuhörern zu. Die militärische Vorgehensweise der Nato wäre überhaupt nur begründbar gewesen, wenn man darauf gesetzt hätte, "daß nach militärischen Angriffen es wie vor einigen Jahren zu einer Unterschrift von Milosevic kommen würde, und daß diese Unterschrift dann die Kriegshandlungen beenden würde". Wenn man damit aber nicht rechnen konnte, wenn vielmehr "wie dann nachher" im Vordergrund der Diskussionen stand, der Schutz der Bevölkerung im Kosovo das wichtigste Ziel der militärischen Einsätze war, dann ist die militärische Einsatzplanung für mich derzeit unter keinem Gesichtspunkt nachvollziehbar". Er höre jetzt oft den Satz: "Die Nato müsse ihr Gesicht wahren, sie könne jetzt nicht anders, sie müsse jetzt siegen." Doch wessen Sieg wäre dieser Sieg eigentlich? fragt der Privatier. "Es geht nicht um Sieg und um Gesichtswahrung. Es geht darum, Menschenleben zu retten und das Elend zu beenden in Jugoslawien."

Das bedeutet für Oskar Lafontaine: "Und deshalb fordere ich hier vom Französischen Garten aus die Verantwortlichen auf, darauf hinzuwirken, daß diese Bombardierung eingestellt wird und daß man unter Einbeziehung der Vereinten Nationen, unter Einbeziehung Rußlands, auch unter Konsultation Chinas am Verhandlungstisch einen Weg findet, um Mord und Vertreibung in Jugoslawien zu stoppen." Frenetischer Applaus brandet dem ehemaligen SPD-Chef entgegen.

Während Lafontaine in Saarbrücken seine Friedensbotschaft verkündet, protestieren in Ludwigshafen mehrere Hundert Kriegsgegner lautstark gegen den Hauptredner der dortigen DGB-Veranstaltung. Als einige Demonstranten von der Polizei abgeführt werden, führt das zu lautstarkem Protest. Den restlichen trotzt Rudolf Scharping entschlossen: "Ihr dürft nicht glauben, daß ihr mich mit Geschrei oder Trillerpfeifen aus dem Konzept bringt." Und sein Konzept heißt weiterhin und unerschütterlich: Krieg.


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