07.01.1999



Alles Müller, oder was?

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  Alles Müller, oder was?
Von Pascal Beucker und Anja Krüger

Der neue Bundeswirtschaftsminister kommt aus dem Pott und hat ein Herz für Kumpel und Konzerne.

Werner MüllerEin Sohn des Ruhrgebiets an Schröders Seite - und das ohne SPD-Parteibuch. Der neue Bundeswirtschaftsminister Werner Müller konnte sich die Ochsentour durch Ortsvereine und Unterbezirke sparen. Denn er hat einen Stallgeruch, gegen den kein aufstrebender Jungsozialist anstinken kann: Müller kommt aus der "Wirtschaft", jener mythischen Welt, in der die Hoffnungsträger des kleinen Mannes, des Bundeskanzlers und der NRW-SPD zu Hause sind. Anders als Wahlkampf-Minister Jost Stollmann ist Müller kein Repräsentant moderner Branchen, sondern, wie der Stern zu Recht feststellte, "ein Vertreter der alten Industrien" - für die Kumpel im Bergbau Anlaß zu falscher Zuversicht.

Mit Stollmann verbindet den gebürtigen Essener allerdings ein im Ruhrgebiet untypischer Hang zur Gängelung der Gewerkschaften, wie er in den vergangenen Wochen demonstrierte. Müller mahnte die Arbeitnehmervertreter zu "maßvollen Lohnabschlüssen". Vorgänger Günter Rexrodt hätte es nicht besser machen können. Die Süddeutsche Zeitung bescheinigt dem neuen Bundeswirtschaftsminister denn auch, er verleihe dem Amt ein Gewicht, "das es angeblich nicht mehr haben kann". Der Staat habe bereits mit der Kindergelderhöhung und der Senkung der Einkommenssteuer "ein Stück mehr in die Lohntüte getan", verkündete Müller in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung kurz vor Jahresende und erklärte: "Die Lohntüte wird nicht in erster Linie durch mehr Geld dicker, sondern durch weniger Steuern und Abgaben." Deshalb sei nun Lohnzurückhaltung angesagt. "Wenn man mühsamst genug die Lohnkosten um 0,8 Prozent senkt und parallel dazu von den Gewerkschaften sechs Prozent direkt gefordert werden, dann gibt es irgendwo einen Kurzschluß", dozierte Schröders Duz-Freund. Ganz so, als wäre er immer noch in seinem Interimsjob als selbständiger Industrieberater tätig.

So haben sich die deutschen Gewerkschaften das Ende der Kohl-Ära nicht vorgestellt. Was haben sie nicht alles getan, um endlich eine Bundesregierung nach ihrer Fasson zu bekommen. Acht Millionen ließen sie sich die Wahlkampfhilfe für die SPD kosten. Sogar das Geschwätz von Schröders "Neue Mitte"-Wahlkampfgag Jost Stollmann hatten sie ertragen, nur um das große Ziel nicht zu gefährden. Und nun? Nun gibt es die so ersehnte neue Bundesregierung und einen neuen Bundeswirtschaftsminister - doch der redet ganz wie der alte. Ungerechte Welt.

"Es wäre sicherlich hilfreich, wenn der Bundeskanzler seinem Wirtschaftsminister deutlich machen würde, daß auch in diesem Felde der Politik der Kanzler die Richtlinien bestimmt", erklärte der Vorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) Roland Issen deutlich hilflos. Müller solle doch bitte schön die Tarifpolitik denen überlassen, "die am Ende auch den Kopf dafür hinhalten müssen", forderte Issen. Auch die Chefin der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), Margret Mönig-Raane, zeigte sich brüskiert: "Es wäre klüger gewesen, er hätte sich nicht eingemischt." Die Gewerkschaften bräuchten keine Nachhilfe in Volkswirtschaft und in gesamtwirtschaftlicher Verantwortung, so Mönig-Raane. Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte sprach kurz und knapp von einem "Kurzschluß" des Wirtschaftsministers. IG Metall-Chef Klaus Zwickel wurde deutlicher und drohte mit dem Scheitern von Schröders Lieblingsprojekt, dem sagenumwobenen "Bündnis für Arbeit". Bisher habe die Bundesregierung im Bündnis für Arbeit nicht in die Tarifpolitik hineingeredet, und er hoffe, so Zwickel, "daß das auch so bleibt". Denn: "Wer Tarifpolitik ins Bündnis tragen will, zerstört dieses Bündnis. Ich jedenfalls würde dann aufstehen und gehen."

Die Gewerkschaften haben von dem neuen Bundeswirtschaftsminister anderes erwartet. Im Vergleich zum ebenfalls parteilosen Jost Stollmann und dessen Auslassungen á la Yuppie-Stammtisch erschien ihnen der bedächtig erscheinende Müller vordergründig als eine begrüßenswerte Alternative - zu Unrecht. Er wolle sich für eine "Renaissance der sozialen Marktwirtschaft" einsetzen, erklärte Müller nach seiner Nominierung. Das bedeute: Es gehe ihm darum, die Grundgedanken Ludwig Erhards zu bewahren. Eine populistische Floskel, die suggeriert, man wolle Wohlstand für alle und meint, daß in den 70er Jahren errungene und später verteidigte sozialstaatliche und tarifrechtliche Standards wenn nicht abgewickelt, dann jedenfalls keineswegs fortgeschrieben gehören. Dieser Logik folgend gibt Müller Appelle zum Maßhalten aus - wie es sich für einen Wirtschaftsmanager gehört.

Anders als die Arbeitnehmer(vertreter) haben das Revier und die hier operierenden Stromkonzerne einen festen Platz in Müllers Herz. Der heutige Wirtschaftsminister wurde 1946 in Essen geboren, studierte zeitweise in Duisburg und legte im Pott den Grundstein für seine Karriere, die den Zigarilloraucher in die Führungsetagen großer Stromkonzerne führte. Zunächst schlägt er die Laufbahn als Hochschullehrer ein. Nach dem Abitur 1965 in Meppen zieht es ihn an die Alma Mater. Er studiert Volkswirtschaft in Mannheim, dann Philosophie und Linguistik in Duisburg und Bremen. Für einige Semester belegt er daneben Musikwissenschaften. Nach seiner Diplomierung zum Volkswirt 1970 arbeitet der Absolvent als Fachhochschullehrer für Wirtschaftsmathematik und Statistik in Ludwigshafen. Daneben lehrt der junge Müller auch noch Sprachwissenschaften in Mannheim und Regensburg.

Doch 1973 sattelt der Akademiker um: Müller bewirbt sich auf eine Stellenanzeige der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke AG. Er bekommt den Job und wird bei dem Essener Energiekonzern Referatsleiter für Marktforschung. Eine Tätigkeit, die ihn offenbar nicht auslastet: 1978 promoviert Müller in Bremen mit dem Thema "Zur Analyse numerischer Eigenschaften nichtnumerischer Massenphänomene wie zum Beispiel Sprache" zum Doktor der Sprachwissenschaften.

Bis 1980 bleibt Müller bei RWE, dann wechselt er nach Düsseldorf zur Veba. Zunächst tätig im Vorstandsstab von Rudolf von Bennigsen-Foerder, steigt er dort zum Generalbevollmächtigten auf. Er gilt als Ziehkind des Veba-Chefs. Doch als von Bennigsen-Foerder Anfang der neunziger Jahre überraschend stirbt, sinkt Müllers Stern. Er wird 1992 auf einen Vorstandsposten der Konzern-Tochter Veba Kraftwerke Ruhr AG (VKR) abgeschoben. Als die VKR zusammen mit den anderen Kraftwerksunternehmen des Konzerns in einer neuen Kraftwerksgesellschaft der Veba-Tochter Preussen Elektra aufgeht, ist für Müller im verkleinerten VKR-Vorstand kein Platz mehr. Versorgt mit einer siebenstelligen Abfindung, steigt er zum 31.Oktober 1997 aus dem Konzern aus und wird selbständiger Industrieberater. Nach der Bundestagswahl holt die SPD ihn an den Tisch zu den Koalitionsverhandlungen mit Bündnis 90/Die Grünen und sichert mit dem Abgehalfterten einem Lobbyisten der Stromwirtschaft Einfluß auf die künftige Regierungspolitik. "Wir haben in den Koalitionsverhandlungen mit den Grünen ausdrücklich auf die Interessenlage der Industrie geachtet", berichtet der Manager a. D.. Zwei Wochen vor Stollmanns offiziellem Abgang als designierter Wirtschaftsminister fragt Schröder bei Müller an, ob er für den Software-Verkäufer einspringen würde. Er würde, erklärt der einstige Manager.

Die Wege Müllers und Gerhard Schröders kreuzten sich zum ersten Mal 1990. Nachdem in Hannover die rot-grüne Koalition die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, richtete der Veba-Konzern einen Krisenstab ein. Das Unternehmen wollte seine Interessen auf dem niedersächsischen Strommarkt gesichert sehen, denn es fürchtete nach dem Regierungswechsel eine Wende in der stromproduzentenfreundlichen Energiepolitik des Landes. "Wie kann Schröder Erfolg haben, ohne daß wir abgemeiert werden?", fragte sich Müller. Die Lösung: Dem Ministerpräsidenten wurde die Gründung einer gemeinsam von Veba und anderen Stromkonzernen und dem Land getragenen Energieagentur vorgeschlagen, um Konzepte für einen "Energiemix der Zukunft" zu erarbeiten. Ein verlockendes Angebot für den in Energiefragen unbeleckten Schröder - schließlich präsentierte das Energieunternehmen ihm die Agentur schlüsselfertig und inklusive Mitarbeitern. Die zweite Investition in die Zukunft erfolgte 1991: Für ein symbolisches Honorar von einer Mark pro Monat wurde Müller als Berater Schröders bei den Energiekonsens-Gesprächen verpflichtet. Schröders Energiepolitik werde wohl nun in der Vorstandsetage der Veba entwickelt, kommentierte Jürgen Trittin, heute Müllers Gegenpart im Kabinett und seinerzeit Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in Niedersachsen.

Bevor er bei Schröder landen konnte, hatte sich Müller bereits einem anderen großen deutschem Politiker angedient: Jürgen W. Möllemann. Ausgerechnet der sozialdemokratische Abgeordnete Reinhard Ueberhorst fühlte bei dem damaligen Bundeswirtschaftsminister vor, ob dieser den Veba-Mann auf "One-Dollar-Basis" als Staatssekretär nehmen würde. Der Deal kam nicht zustande. Ueberhorst bedauert es rückblickend nicht: "Ich hielt ihn dafür nicht für qualifiziert." Denn: "Er war 100 Prozent Energiewirtschaft".

Müller als Berater Schröders für die Energiekonsens-Gespräche zu plazieren, war ein geschickter Schachzug der Veba. Denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hat der Mann mit den grauen Stoppelhaaren keine ideologische, sondern eine pragmatische Haltung zur Kernenergie. So galt Müller als einer der Totengräber der atomaren Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Denn der leidenschaftliche Klavierspieler kann rechnen: Mit der Anlage im französischen La Hague gab es zur Wiederaufarbeitung des radioaktiven Mülls in Bayern eine Alternative, die um ein Drittel kostengünstiger war. Müller ist alles andere als ein Atomkraftgegner. Er sieht "gute Gründe, weiterhin auf die Kernkraft zu setzen". Aber er weiß, daß diese Form der Energiegewinnung - zumindest momentan - in der Bundesrepublik auf große gesellschaftliche Widerstände stößt und damit - zunächst - keine Perspektive hat. Entsprechend verstand er seine Aufgabe als Berater an Schröders Seite und erfüllt sie nun als Minister in seinem Kabinett. Seine Mission ist, die Interessen der Stromkonzerne beim Abschied von der Kernenergie zu wahren. Wenn schon Ausstieg, dann so langfristig wie möglich und vor allem: zu den besten Konditionen für die Stromindustrie. Machbar ist, was die Konzerne nicht nur nichts kostet, sondern was ihnen Geld bringt.

In den ersten Wochen nach Amtsantritt hat Müller einen kleinen Vorgeschmack darauf gegeben, was von ihm zu erwarten ist, und wofür die SPD ihn eingespannt hat. Müller wird mit Schröders Hilfe zum Gegenspieler von Umweltminister Trittin aufgebaut, dabei gleichzeitig zum Buhmann für Grüne und portioniert - in anderen Politikfeldern - Gewerkschaften und Arbeitnehmer. Die sektoral begrenzte Drecksarbeit einen Nicht-Genossen machen zu lassen, ist immerhin taktisch klug. Von den Genossen nicht nur an Rhein und Ruhr ist man anderes gewohnt.

Schließlich holzt der Wirtschaftsminister nicht nur gegen die gewerkschaftliche Tarifpolitik. Beim Thema Atomenergie kann er sich allerdings der Zustimmung der Gewerkschaften sicher sein, die sich, so ein RWE-Betriebsrat, vor dem "eiskalten Manager" Trittin fürchten. Auch die Kumpels im Ruhrgebiet weiß der 56jährige geschickt auf seine Seite zu ziehen. "Ich habe aus innerer Überzeugung das Herz beim deutschen Bergbau", erklärte Müller der WAZ. Er sei der Überzeugung, daß die Steinkohle eine große Zukunft habe. Es müsse und werde einen überlebensfähigen deutschen Bergbau geben, die Ruhrkohle AG habe alle Chancen, der große deutsche Kohlelieferant zu werden. "Und so, wie ich das sehe, nimmt sie diese Chance auch wahr", weiß der Energiemanager im Ruhestand. Er wird sicher der letzte sein, der dem Unternehmen dabei im Wege steht: "Ich halte viel davon, daß die Ruhrkohle AG die Bedarfsdeckung der Stromwirtschaft regeln könnte, wie sie es will, also auch mit einer preislich tragfähigen Mischfinanzierung von Import- und heimischer Kohle." Dabei weiß auch er: Die Kohleförderung im Ruhrgebiet ist international nicht konkurrenzfähig. Ohne Subventionen ist sie tot - die gesellschaftliche Akzeptanz für die Förderung geht außerhalb des Ruhrgebiets gegen Null. Werden die Vorstellungen Müllers und der Ruhrkohle AG zur Zukunft der Steinkohle real, wird der Bergbau im Revier endgültig am Ende sein. Für weltweit operierende Energieunternehmen wie die Ruhrkohle AG ist das nicht schlimm. Sie kann sich den Rohstoff getrost woanders besorgen und daheim der Folklore wegen ein paar Zechen und Kumpel halten. Zu maßvollen Lohntarifen, wie der Bundeswirtschaftminister sie fordert. "Diese Bitte muß ich machen, da die Senkung der Arbeitslosigkeit das wichtigste Ziel meiner Wirtschaftpolitik ist", vertraute er letzte Woche der wichtigsten Postille der Arbeiterbewegung zwischen Kühlschrank und Fernseher an, der Bild-Zeitung.


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