06.10.1999



Ein Bericht für alle Fälle

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Jungle World

*   Ein Bericht für alle Fälle
Von Pascal Beucker

In seinem neuen Lagebericht entdeckt das Auswärtige Amt keinen Anlass für ein generelles Abschiebeverbot in die Türkei, sondern nur tragische Einzelschicksale.

Alles eine Frage der Perspektive. Der erste "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei" des grün-geführten Auswärtigen Amtes (AA) bietet für jeden etwas: für das gute Gewissen und die Öffentlichkeit ausreichend Menschenrechtsfolklore, für deutsche Gerichte die Grundlagen für weitere Abschiebungen.

Der Bericht ließ lange auf sich warten. Bereits Anfang des Jahres war er erwartet worden. Nach Informationen des nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Siegfried Martsch soll der Bericht im März in seiner "letzten Entwurfsphase" gewesen sein. Die Abfassung gestalte sich allerdings schwierig, denn nach seinem Kenntnisstand gebe es "einen Disput zwischen dem Außen- und dem Innenministerium, weil offensichtlich Schily gewillt ist, auf den Bericht Einfluss zu nehmen", erklärte der Grüne damals.

Aus gutem Grund: Die Lageberichte des AA dienen sowohl dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und den Verwaltungsgerichten als Entscheidungshilfe in Asylverfahren als auch den Innenbehörden der Länder bei ihrer Entscheidung über die Abschiebung "ausreisepflichtiger Ausländer".

Das kann zu peinlichen Konfusionen führen. So trug das AA mit dem Innenministerium genehmen Einschätzungen über die Situation im Kosovo dazu bei, dass noch im März dieses Jahres 2 364 Asylanträge von Kosovo-Albanern abgelehnt wurden, während gleichzeitig Amtschef Joseph Fischer zur Rechtfertigung des Nato-Angriffskrieges ihre Verfolgung durch die Serben mit der der Juden im Dritten Reich verglich.

Also ließ sich das AA erst mal Zeit. Zeit für deutsche Gründlichkeit: Alleine in diesem Jahr wurden bis zur Veröffentlichung des Berichts 2 992 türkische Staatsangehörige in die Türkei abgeschoben. Rhetorisch wollte man sich ordentlich-menschenrechtlich von Fischers liberalem Amtsvorgänger abgesetzen. Keine einfache Aufgabe, denn das AA hatte dabei Gewichtiges zu berücksichtigen: Außenpolitisch die Befindlichkeiten der Türkei, innenpolitisch die Abschiebewünsche des Bundesinnenministeriums.

Nun ist das Kunststück gelungen. Und das grüne AA ist stolz auf das Ergebnis. Obwohl als "Verschluss-Sache - nur für den Dienstgebrauch" eingestuft, dokumentiert der neue Lagebericht die neue Offenheit der rot-grünen Bundesregierung in Menschenrechtsfragen: Er wurde ausreichend breit lanciert, sodass die Zeitungen und Zeitschriften ihres Zielpublikums, u.a. Spiegel, Frankfurter Rundschau und taz, ihn angemessen goutieren konnten.

Dass bei den notwendigen Rücksichtnahmen auch der endlich am 7. September veröffentlichte AA-Bericht durch Auslassungen lügt, darf niemanden verwundern. So findet zwar die Schließung der pro-kurdischen Tageszeitung Ülkede Gündem (im Bericht als "Ulkende Günter" bezeichnet) Ende letzten Jahres Erwähnung, über das inoffizielle Nachfolgeblatt Özgür Bakis heißt es jedoch, es "wurde in den letzten Monaten nicht zensiert und konnte ungehindert erscheinen". Das stimmt nicht. Auf Grund einer Anordnung des zuständigen Gouverneurs vom Mai dieses Jahres darf Özgür Bakis nicht in den kurdischen Ausnahmezustandsgebieten erscheinen.

Trotzdem zeichnet das 34seitige Papier im Gegensatz zu den Vorgängerberichten ein etwas realitätsnäheres Bild der Menschenrechtssituation in der Türkei und liest sich daher über weite Strecken wie ein Dossier von amnesty international. So wird anhand etlicher Fälle beschrieben, welche Konsequenzen es haben kann, wenn deutsche Gerichte Asylbegehren ablehnen und die Abschiebung verfügen.

Beispielhaft: der Fall des am 12. März abgeschobenen Kurden Emin A. Obwohl gegen ihn "offenbar kein Eintrag in den Fahndungslisten feststellbar war", sei er nach seiner Befragung von der Istanbuler Flughafenpolizei zur Anti-Terror-Polizei verbracht worden. "In einer handschriftlichen Aufzeichnung schildert Emin A., dass man ihn dort geschlagen, mit kaltem unter Hochdruck stehendem Wasser abgespritzt und seine Hoden gequetscht habe." Bei einer haftärztlichen Untersuchung sei ein Riss im Trommelfell eines Ohres festgestellt worden.

Oder der Fall Mehmet Ali A. Er war im Februar 1998 aus Niedersachsen abgeschoben worden. Dem Generalkonsulat in Istanbul schilderte er im Frühjahr 1998 detailliert Misshandlungen durch staatliche Stellen in der Türkei und legte zur Glaubhaftmachung Fotografien und eine ärztliche Bescheinigung über seinen Gesundheitsvorstand vor. "Die türkische Regierung hat auf Anfrage, ebenso wie in früheren Fällen, jeden Vorwurf von Misshandlung oder Folter kategorisch zurückgewiesen", heißt es im Lagebericht. "Das Auswärtige Amt geht aber davon aus, dass Herr A. während der polizeilichen Vernehmung misshandelt wurde."

Auswirkungen auf die gängige Asylrechtspraxis dürften solche Ausführungen nicht haben. Schließlich handelt es sich dabei um "Einzelfälle". Und wie sollen deutsche Gerichte vor einer Abschiebung schon wissen, ob sie gerade über so einen "Einzelfall" richten? Auf die Aussagen der Asylantragsteller können sie sich nach Ansicht des AA dabei nicht verlassen - und schon gar nicht auf die von ihnen vorgelegten Dokumente: "Mindestens ein Drittel der dem Auswärtigen Amt in Asylverfahren 1998 zur Prüfung vorgelegten Dokumente zum Nachweis einer Verfolgung oder Bedrohung in der Türkei (...) haben sich als gefälscht erwiesen." Bei einem weiteren Drittel der vorgelegten Papiere habe es sich um Dokumente gehandelt, "die sich entweder nicht auf die asylbeantragende Person bezogen oder Vorgänge betrafen, die nichts mit der Begründung des Asylgesuchs zu tun hatten".

Der Lagebericht konstatiert zwar, die Menschenrechtslage in der Türkei sei "nach wie vor unbefriedigend", doch das war auch bisher schon Konsens und kein generelles Abschiebehindernis. Wirklich gefährdet seien nur Kurden oder andere türkische Staatsangehörige, die vom Ausland aus in Organisationen tätig waren, die in der Türkei verboten sind. "Dies besonders dann, wenn sie in herausgehobener Stellung für eine solche Organisation gearbeitet haben." Sie liefen Gefahr, "dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie türkischen Boden betreten".

Die Teilnahme an pro-kurdischen Demonstrationen reiche jedoch für eine solche Gefährdung nicht aus. "Bloße Mitläufer, etwa bei einer Demonstration, hingegen haben kaum mit Strafverfolgung zu rechnen." Dass jemand einen Asylantrag in der BRD gestellt hat, bringe ihn ebenfalls nicht in Verdacht. Wie offenbar auch dem Fischer-Ministerium sei schließlich den türkischen Behörden "bekannt, dass viele Türken aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen".

Es gebe keine grüne, sondern nur eine deutsche Außenpolitik, hatte Joseph Fischer direkt zum Amtsantritt vor einem Jahr verkündet. Der Bericht zur Lage in der Türkei dokumentiert, was das für Menschen, die Schutz in der Bundesrepublik gesucht haben, bedeutet.

Weiter gelten zwei Grundkonstanten: Erstens gibt es keine Gruppenverfolgung für kurdische Menschen in der Türkei, und zweitens gibt es innerstaatliche Fluchtalternativen. Damit kann - außer bei den bisher schon üblichen Ausnahmefällen - weiter munter abgeschoben werden. Und so ist der neue Bericht zur Lage in der Türkei am Ende nicht mehr als Kinkel-Kanther mit grüner Tünche. Das Neue: Diejenigen, die nach ihrer Abschiebung zur Überraschung der rot-grünen Menschenrechtsregierung doch gefoltert oder ermordet werden, dürfen sich jetzt schon darauf freuen, im nächsten Lagebericht als tragische Einzelfälle namentlich Erwähnung zu finden.

Aber immerhin soll es in anderen Ländern auch nicht besser zugehen. Das Auswärtige Amt habe, so heißt es in dem Bericht, "andere westliche Länder" nach Abschiebestopps für türkische Staatsangehörige befragt. Die Antwort: "Sie haben weder Bedenken gegen eine Abschiebung abgelehnter Asylbewerber geäußert noch besondere Absprachen für erforderlich erklärt." Das beruhigt doch, irgendwie.


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