12.05.1999



Bauernopfer für die Ehre

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Jungle World

*   Bauernopfer für die Ehre
Von Pascal Beucker

Nach dreijähriger Verhandlungsdauer endete in anatolischen Afyon der Göktepe-Prozeß mit einem Schuldspruch für die angeklagten Polizisten.

Fadime GöktepeSiebeneinhalb Jahre. Seyid Battal Köse kann es nicht fassen. Bis zuletzt hatte er fest mit seinem Freispruch gerechnet. Er hat sich geirrt: Köse muß ins Gefängnis. Schockiert ruft er: "In diesem Land werden nicht nur die Schuldigen, sondern auch die Unschuldigen bestraft." Doch Seyid Battal Köse ist kein Unschuldiger. Er war der unmittelbare Vorgesetzte der Polizisten, die am 8. Januar 1996 den 27jährigen Journalisten Metin Göktepe zu Tode prügelten. Er hätte die Tat verhindern können. Aber er tat es nicht.

Am Donnerstag vergangener Woche verkündete die Große Strafkammer im zentralanatolischen Afyon ihr Urteil im Göktepe-Prozeß. Es verurteilte die Polizisten Suayip Mutluer, Saffet Hizarci, Fedai Korkmaz, Metin Küsat und Murat Polat wegen "fahrlässiger Tötung" zu siebeneinhalb Jahren Haft. Daß sie im Dienst gehandelt hatten, wertete das Gericht als straferschwerend; als strafmindernd sah es hingegen an, daß nicht eindeutig habe geklärt werden können, wer Göktepe den tödlichen Schlag versetzt hat. Ihr Vorgesetzter Köse wurde wegen Beihilfe ebenfalls zu siebeneinhalb Jahren verurteilt.

Allerdings wird die reale Haftzeit aller Verurteilten wohl nicht mehr als drei Jahre betragen. Dann können sie bei "guter Führung" nach türkischem Recht auf Bewährung entlassen werden. Fünf weitere angeklagte Polizisten wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Damit bestätigte das Gericht weitgehend sein Urteil vom 19. März 1998. Dieses war vom Kassationshof in Ankara wegen einer Reihe von Formfehlern und dem nicht begründeten Freispruch von Murat Polat aufgehoben und zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen worden. Nun sind sowohl die Verfahrensfehler als auch der Freispruch Polats korrigiert worden.

Das jetzt gefällte Urteil des Afyoner Gerichts muß zwar noch vom Kassationshof bestätigt werden; Prozeßbeobachter gehen jedoch davon aus, daß es diesmal Bestand haben wird. Auch den angekündigten Berufungsanträgen von Nebenklage und Verteidigung werden nur äußerst geringe Erfolgschancen eingeräumt.

Damit scheint nach insgesamt über dreijähriger Verhandlungszeit ein Prozeß an sein Ende gelangt zu sein, der wie kaum ein anderer über lange Zeit die türkische Öffentlichkeit bewegt hat. Und er endete mit einem in der Türkei sensationellen Ergebnis: Ein türkisches Gericht hält es für erwiesen, daß türkische Polizisten einen Journalisten umgebracht haben.

Daß es zu diesem einmaligen Urteil gekommen ist, verdankt sich dem enormen öffentlichen Druck. Der hatte sogar Staatspräsident Süleyman Demirel zu der Feststellung veranlaßt, der Göktepe-Prozeß habe sich zu einem "Problem entwickelt, das gelöst werden muß". Die "türkische Ehre" stünde hier auf dem Spiel.

Allerdings wurde von Anfang an tunlichst darauf geachtet, die Tat als eine "Entgleisung" einzelner darzustellen. Die verurteilten Polizisten sind dementsprechend auch nur Bauernopfer. Denn das Urteil, so kritisiert Nebenklage-Anwalt Kamil Tekin Sürek, "verschweigt konsequent die Mitverantwortlichkeit des Polizeiapparates bis in seine Spitze hinauf".

Die Verhandlung am Donnerstag hatte mit zwanzigminütiger Verspätung und erstmals ohne die Mutter des ermordeten Journalisten, Fadime Göktepe, begonnen. Denn vor Prozeßbeginn war es zu Tumulten zwischen den rund tausend aus der gesamten Türkei in Bussen angereisten Demonstranten und der Polizei gekommen.

Die Ordnungskräfte wollten einen Demonstrationszug durch die Afyoner Innenstadt zum Gerichtsgebäude verhindern und gingen mit Schlagstockeinsatz gegen die friedlichen Demonstranten vor. Dabei kam es zu etlichen Verletzten. Mehrere Demonstranten mußten mit Platzwunden am Kopf behandelt werden. Fadime Göktepe brach des Polizeieinsatzes in der Menge zusammen. Sie hatte einen Schwächeanfall erlitten, war minutenlang bewußtlos und mußte notärztlich versorgt werden.

Eine Rechtsanwältin, die zu den Nebenklagevertretern der Familie Göktepe gehörte, betrat anschließend den Gerichtssaal mit einem dick geschwollenen blauen Auge. Treffend überschrieb denn auch die Tageszeitung Milliyet am nächsten Tag ihren Bericht über den Ausgang des Göktepe-Prozesses: "Es fing mit Schlägen an und endete mit Schlägen."

Die Polizei drängte die Demonstranten zurück in ihre Busse und leitete sie dann auf einen an eine Militärkaserne angrenzenden Parkplatz in der Nähe des Gerichts. Dort mußten die Angereisten bis zu ihrer Abreise nach Verhandlungsende ausharren.

Von den Angeklagten waren nur Köse und Polat zur Urteilsverkündung erschienen. Polat blieb auch nichts anderes übrig: Er war der einzige der Angeklagten gewesen, der noch in Untersuchungshaft saß. Alle anderen waren im Dezember letzten Jahres entlassen worden. Auch Polat konnte den Gerichtssaal am Donnerstag als - vorläufig - freier Mann verlassen. Seine Haft wurde bis zur Bestätigung des Urteils durch das Kassationsgericht aufgehoben.

Während Köse anwaltlich vertreten wurde, fehlten die Anwälte der anderen Angeklagten. Sie ließen sich entschuldigen und hofften so, eine Vertagung zu erreichen - ihr letzter, vergeblicher Versuch der Prozeßverzögerung. Im Januar hatte sich einer der Verteidiger, Ahmet Ülger, noch gegenüber Jungle World siegessicher gegeben. "Alles andere als ein Freispruch wäre nicht gesetzeskonform", erklärte er damals vollmundig.

Nein, den Prozeßausgang gegen die Mörder ihres Sohnes will Fadime Göktepe nicht in einem Notarztwagen verpassen. Schwach auf den Beinen, gestützt von Angehörigen, betritt die 65jährige mitten in der Urteilsverkündung doch noch den Gerichtssaal. Unzählige Kameras richten sich auf die alte Frau, die eine Symbolfigur für Zivilcourage in der Türkei geworden ist. Der Richter ignoriert ihr Erscheinen, liest unbeeindruckt weiter seinen Urteilsspruch vor. Dann schließt er die Verhandlung.

Fadime Göktepe ist sichtlich erregt. "Ihr Hunde", schreit sie in den Saal. "Ihr habt meinen Sohn umgebracht, jetzt wollt ihr mich auch noch umbringen." Doch der Richter bleibt gelassen. Der Polizeieinsatz interessiert ihn nicht. Er schaut die aufgebrachte Frau nur kurz an, dann verläßt er den Raum. Für ihn ist der Fall erledigt.

Für Fadime Göktepe nicht. Als sie den Gerichtssaal verläßt, ruft sie den versammelten Reportern entgegen, daß sie weiter für eine demokratische Türkei kämpfen werde.


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