24.03.1999



Tod eines Reformprojektes

Startseite
Jungle World

*   Tod eines Reformprojektes
Von Pascal Beucker

Familien-, Unternehmer- oder Bürgerrechtspartei? Die Bündnisgrünen wissen selbst nicht so genau, an wen sie sich als nächstes verkaufen sollen.

Der Traum ist aus. "Rot-Grün als Reformprojekt ist tot." Kein Geringerer als Jürgen Trittin, Bundesumweltminister in der ersten Regierung aus Bündnis 90/Die Grünen und SPD, ist aufgewacht und hat es gleich dem stern erzählt. Nun ist die Aufregung in seiner Partei groß. Auf dem Parteitag der Berliner Grünen am Wochenende war Trittin gar zur unerwünschten Person erklärt worden. "Trittin soll sich hier bloß nicht blicken lassen", polterte Vorstandssprecher Andreas Schulze. Dabei hatte Schröders Watschenmann einfach nur eine unübersehbare Tatsache in Worte gekleidet.

Ausgerechnet mit der SPD woll(t)en die Grünen das Land emanzipatorisch verändern. Der Versuch ist fehlgeschlagen, und die Grünen könnte das den politischen Kopf kosten. Bereits nach dem Abschluß der Koalitionsverhandlungen im vergangenen Jahr war klar, daß diese Bundesregierung kein Reformprojekt ist. Was die grüne Regierungspräsenz rechtfertigte, waren zwei Vorhaben: die doppelte Staatsbürgerschaft und der Atomausstieg. Beide sind gescheitert. Andere, und seien es nur symbolische Paradigmenwechsel: Fehlanzeige. Was bleibt, ist Rot-Grün - ohne Reformprojekt. Und auch damit kann es schnell vorbei sein, wie das Beispiel Hessen zeigt.

Ein knappes halbes Jahr nach der Abwahl der Regierung Kohl ist die einzig wahrnehmbare Veränderung keine gesellschaftliche, sondern die der Grünen: Sie passen sich weiter an - symbolisch wie politisch. Die Bundestagsfraktion wird nicht mehr von Sprechern nach außen vertreten, sondern von Vorsitzenden geführt. Die Anpassung der Parteistrukturen an die Parteien herkömmlichen Typs ist längst keine Frage des Ob mehr, sondern des Wann, Wie und Mit-Wem. Ihre Forderungen aus dem Wahlprogramm haben die Grünen schon in den Verhandlungen um die Regierungsbeteiligung abgeschrieben. Mittlerweile ist selbst das magere Ergebnis der Koalitionsverhandlungen obsolet. Der erste militärische Kriegseinsatz der Bundeswehr wird von einem grünen Außenminister gerade vorbereitet.

Nun sind die Grünen in der verdienten Krise. "Wir laufen auf den Abgrund zu, und die Schritte werden schneller", hat der Fraktionsvorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Rezzo Schlauch, richtig erkannt. Glaubt man dem ZDF-Politbarometer, steht die Öko-Partei bereits unmittelbar vor dem Abgrund: Sie kommt bundesweit auf gerade mal fünf Prozent.

Die Grünen sind Gefangene ihrer eigenen strategischen Option - gelähmt durch ihre Fixierung auf die SPD. Das hat Trittin richtig begriffen und erntet deswegen wütende Reaktionen aus den eigenen Reihen von denjenigen, die immer noch an den Selbstbetrug glauben. Doch so richtig die Analyse, so falsch sind seine Schlüsse. Wenn Rot-Grün "als Reformprojekt" gescheitert ist, so seine Logik, dann könne perspektivisch auch mit der CDU regiert werden. Denn es spräche "mittelfristig für die CDU als Partner genausoviel und -sowenig wie für die SPD". Diese Logik funktioniert jedoch nur, wenn es den Grünen egal ist, was für eine Politik unter ihrer Beteiligung gemacht wird. Denn eine Oppositionsoption hat auch Trittin nicht. Es scheint so, alles wolle er die gegenwärtige erbärmliche grüne Regierungspraxis zum Prinzip erheben: Dabeisein ist alles - bis zur Selbstaufgabe. So mancher Öko-Stammtisch hat da schon den Beginn tabufreier Diskussionen angekündigt: Sind die Grünen vielleicht einfach zu doof?

Die Flüchtlingspolitik der Regierung etwa läßt diese Frage aufkommen. Auch unter Rot-Grün werden selbstverständlich weiterhin Flüchtlinge abgeschoben. Dabei hätte das grüne Außenministerium durch einen neuen Lagebericht über die Verhältnisse in der Türkei längst für einen Abschiebestopp gesorgt werden können - trotz Otto Schily. Doch der Lagebericht ist immer noch nicht über die Entwurfsphase hinausgekommen.

Von der als dem Erfolg der Grünen bei den Koalitionsverhandlungen verkündeten Änderung des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts ist nach dem "Kompromiß" mit der FDP nur noch ein Torso übriggeblieben. Dabei war schon der ursprüngliche Entwurf von Schily eine Katastrophe. Doch nicht einmal der offene Bruch des Koalitionsvertrages hat die Grünen aufbegehren lassen.

Aus dem Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergie ist ein Wiedereinstieg in die Wiederaufbereitung geworden: Im Herbst werden die ersten Castor-Transporte wieder rollen. Während inzwischen sogar Sozialdemokraten wie der niedersächsische Umweltminister Wolfgang Jüttner der Bundesregierung vorwerfen, sie habe sich beim Atomausstieg "von der Energiewirtschaft das Ruder aus der Hand nehmen lassen", erklärt Grünen-Fraktionschefin Kerstin Müller: "Bezüglich der Atompolitik haben wir die Widerstände in der Bevölkerung unterschätzt" - die sich für sie offenbar auf die Besatzung an den Vorstandstischen der Atomkonzerne beschränkt.

Die sogenannte Ökosteuer ist eine Energieverpulverbelohnungssteuer geworden: Ausgerechnet energieintensive Betriebe müssen nichts zahlen. Und nicht einmal eine neue Sommersmogverordnung konnte der grüne Umweltminister durchbringen. Der Entwurf seines Ministeriums überlebte nur einen Tag - dann wischte ihn Kanzler Schröder als "autofeindlich" vom Tisch.

Die Erklärungsmuster führender Grünen-Politiker für den rasanten Abwärtstrend sind leicht verstaubt: Die Partei ist schuld, weil sie nämlich noch immer gar keine richtige sei. Das jedenfalls verkündeten Oberrealo Joseph Fischer und der Vorzeigelinke Trittin vor dem Erfurter Parteitag. Die Grünen müßten sich endlich strukturell zur "normalen" Partei wandeln, um regierungsfähig zu werden. Die Doppelspitze gehöre ebenso abgeschafft wie die Trennung von Amt und Mandat. Noch wollte ihnen die Bundesdelegiertenkonferenz nicht folgen. Auch Jungrealo Matthias Berninger scheiterte am vergangenen Wochenende in der Realohochburg Hessen mit seinem Vorstoß, entsprechende Satzungsänderungen wenigstens im Äppelwoi-Land durchzusetzen und dadurch neben seinem Bundestagsmandat auch noch Chef der hessischen Grünen zu werden. Aber die Strukturänderungen werden kommen. Spätestens nach der nächsten Wahlniederlage, auch wenn das eine mit dem anderen nichts zu tun hat.

Eine andere Erklärungsvariante: die Grünen seien programmatisch nicht "modern" genug. Entsprechend forderte der Landtagsabgeordnete Karl-Martin Hentschel auf dem ebenfalls am letzten Wochenende abgehaltenen kleinen Parteitag der schleswig-holsteinischen Grünen, die Grünen müßten sich als Partei des technischen und sozialen Fortschritts begreifen und sollten aufhören, den Eindruck zu erwecken, "als wollten wir unsere Wähler zu Hause einsperren, überall Straßensperren einbauen und ihnen den Urlaub vermiesen". Ähnlich zukunftsweisende Vorschläge hat auch Berninger zu bieten, der ganz nebenbei die ausländerfeindliche Unterschriftenkampagne der Union ruckzuck zu einer Integrationskampagne umdefiniert: "Wenn die Union den Grünen das Thema Integration klaut, müssen wir der Union eben das Thema Familie klauen."

Die Grünen unterstützen in der Bundesregierung die dreisteste Wirtschaftslobbypolitik, die die Bundesrepublik je sah. Sie setzen sich über ihre Programmatik hinweg wie andere politische Zusammenschlüsse über leere Kopierkartuschen und ziehen sich den unsympathischsten Nadelstreifennachwuchs seit den Jungen Liberalen heran. Wenn sie eine Zukunft haben wollen, sollten sie eine Regierungspause einlegen. Und wenn sie darauf verzichten - dann wird sich dieses Thema recht bald von alleine erledigen.

Aber man sollte auch nicht zu ungerecht mit der einstigen Partei der Startbahnkämpfer und Mutlangenblockierer sein. Es soll keiner sagen, die Grünen würden keine radikalen Forderungen mehr stellen. Erst vergangenen Donnerstag beispielsweise. Kämpferisch stellte sich die grüne Bundestagsabgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk da auf die Seite der Ausgebeuteten und Entrechteten. Die geplante Abschaffung der "Bahncard Würmeling" für Familien ab drei Kindern sei "nicht akzeptabel", erklärte die familienpolitische Sprecherin der grünen Fraktion. "Wir unterstützen die Forderung des Familienbundes der Deutschen Katholiken an die Deutsche Bahn AG, in ihrer Preispolitik auf Familien mit Kindern Rücksicht zu nehmen." Das hat gesessen.


© Pascal Beucker. Alle Rechte an Inhalt, Gestaltung, Fotos liegen beim Autor. Direkte und indirekte Kopien, sowie die Verwendung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung des Autors.