Jüdische Allgemeine
Nr. 3 / 56. Jhrg. / 01.02.2001

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*   Von den Tätern weiterhin keine Spur
Von Pascal Beucker und Marcus Meier

Von den Tätern weiterhin keine Spur. Auch ein halbes Jahr nach dem Düsseldorfer S-Bahnhofsanschlag tappt die Polizei im Dunkeln.

Nein, die Opfer des Handgranatenanschlags habe er bisher nicht besucht, sagt der Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin. Er wolle erst einmal abwarten, bis alle Opfer genesen seien. Dann, so verspricht der Christdemokrat, werde er sie "in einem Aufwasch empfangen". Ein halbes Jahr ist inzwischen seit der blutigen Tat vergangen, die eine bundesweite Debatte über die Gefahr von rechts auslöste. Am 27. Juli um 15.05 Uhr detonierte eine umgebaute Handgranate am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn und traf zehn Schüler einer nahe gelegenen Sprachschule im Stadtteil Flingern. Sie alle - sieben Frauen und drei Männer im Alter zwischen vierundzwanzig und fünfzig Jahren - sind Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion. Sechs von ihnen sind jüdischen Glaubens.

Zwei der damals Verletzten liegen immer noch im Krankenhaus. Tatjana L. hatte den Anschlag nur knapp überlebt. Bei der Detonation wurde der schwangeren Ukrainerin ein Bein abgerissen und sie wäre beinahe am Tatort verblutet. Ihr ungeborenes Baby tötete ein Bombensplitter im Mutterleib. Michail L. wurde im Splitterhagel der Bauch aufgerissen. Der damals Achtundzwanzigjährige erlitt schwerste Bauch- und Brustkorb-Verletzungen. Inzwischen sind beide auf dem Weg der Genesung. Ihre Prognose habe sich im Laufe der Monate gebessert, berichtet Michael Szentei-Heise, Verwaltungsdirektor der jüdischen Gemeinde Düsseldorf, der das Ehepaar angehört. "Sie werden wohl nicht wie zunächst befürchtet auf den Rollstuhl angewiesen sein, gleichwohl wird ihr Leben nicht mehr das selbe sein wie vor dem Anschlag." Die anderen Opfer haben keine bleibenden körperlichen Schäden davongetragen. Sie haben allerdings mit großen psychischen Problemen zu kämpfen und werden von Sozialarbeitern der jüdischen Gemeinde betreut. Nach Auskunft des Schulleiters Günter Jek besuchen sechs von ihnen inzwischen wieder die Flingerner Sprachschule Welling oder planen dies zumindest. Natürlich habe der Anschlag auch den Alltag an seiner Schule verändert. "Das hat man immer im Hinterkopf", so Jek.

War es ein gezielter antisemitischer Anschlag? Oder die Tat eines Verrückten, die jeden hätte treffen können? Müssen die Täter vielleicht ganz woanders gesucht werden? Bis heute tappen die Ermittlungsbehörden völlig im Dunkeln - trotz einer ausgesetzten Belohnung von einhundertzwanzigtausend Mark für sachdienliche Informationen, eintausendvierhundert Hinweisen aus der Bevölkerung und dreihundertvier ausgewerteten Spuren. Ebenso erfolglos blieb der Versuch, mit Phantombildern zwei mögliche Zeugen ausfindig zu machen. "Wir haben keinerlei neue Erkenntnisse", sagt resigniert der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Michael Schwarz. Weiterhin könne ein fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Hintergrund nicht ausgeschlossen werden. Aber auch kein anderer. "Uns fehlt bislang das Quäntchen Glück, das die Kollegen bei den Ermittlungen nach dem Synagogenanschlag hatten", bilanziert Hauptkommissar Dietmar Wixfort, der Leiter der Düsseldorfer Ermittlungskommission. Mittlerweile arbeiten nur noch "eine Handvoll" Polizisten in der "Sonderkommission Ackerstraße". In Hochzeiten waren es bis zu achtzig.

Auch der Verdacht gegen einen rechten Militaria-Händler konnte bisher nicht erhärtet werden. Dessen "Survival Security & Outdoor"-Laden, der als ein regelmäßig frequentierter Anlaufpunkt von Düsseldorfer Neonazis gilt, liegt nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt. Ralf S. war wenige Tage nach der Tat vernommen, sein Geschäft ebenso wie zwei Wohnungen und eine Gartenlaube durchsucht worden. Ergebnislos, auch wenn der Militaria-Händler bis heute bei der Staatsanwaltschaft als "Beschuldigter" geführt wird, wie deren Sprecher Schwarz auf Nachfrage mitteilte. In Schwierigkeiten könnte Ralf S. allerdings doch noch kommen. Am vergangenen Mittwoch fanden Möbelpacker bei der Zwangsräumung seines Ladens neben Plakaten der rechtsextremen DVU eine militärische Übungshandgranate. Sie alarmierten die Polizei. "Wir überprüfen derzeit, ob Herr S. gegen das Waffengesetz oder andere rechtliche Bestimmungen verstoßen hat", so Schwarz. Ein Zusammenhang zum Wehrhahner Handgranatenanschlag sei jedoch bisher nicht feststellbar.

"Das Nullergebnis trotz des Riesenaufwandes bei den Ermittlungen betrübt uns natürlich", sagt Michael Szentei-Heise von der Düsseldorfer jüdischen Gemeinde. Er sei jedoch der festen Überzeugung, dass die Ermittlungsbehörden alles getan hätten, um den Fall aufzuklären. Das Problem sei, dass der oder die Täter offensichtlich sehr professionell gearbeitet und keine verwertbaren Spuren hinterlassen hätten. In der Gemeinde sei inzwischen wieder "business as usual" eingekehrt. "Trotz der hohen Sicherheitsstandards kann nicht jedes Gemeindemitglied permanent beschützt werden", sagt der Sechsundvierzigjährige. Man müsse halt mit der Angst leben. "So war vor dem Anschlag und so ist es auch danach."

Trotzdem hat sich etwas verändert: Die jüdische Gemeinde Düsseldorf verzeichnet einen drastischen Anstieg von Drohbriefen. "Während wir früher einen Brief pro Quartal bekommen haben, sind es nun ein bis zwei pro Tag", erzählt Szentei-Heise. Neu sei, dass die Täter vermehrt ihre "nun offen antisemitischen Hetzparolen unter voller Namensnennung absondern".

Doch das ist nicht alles: Nach dem Anschlag von Wehrhahn ist die Zahl antisemitischer und fremdenfeindlicher Straftaten in Nordrhein-Westfalen stark angestiegen. "Das dürfte zum Teil auch auf eine Fanalwirkung der Detonation und die sich daran anschließende Schwerpunktsetzung der Medienberichterstattung zurückzuführen sein", so ein Sprecher des Landeskriminalamtes (LKA). Einhunderteinundachtzig antisemitische Straftaten weist die Statistik des LKA für das Jahr 2000 aus - davon über einhundertzehn im zweiten Halbjahr. Die Tatverdächtigen sind in der Regel Männer, die jünger als dreißig Jahre alt sind.

Insgesamt habe sich das Klima in den Jüdischen Gemeinden in den letzten Monaten verändert, konstatiert Zentralratspräsident Paul Spiegel. "Die Menschen sind ängstlicher und vorsichtiger geworden." Dies sei nicht allein auf den Düsseldorfer Bombenanschlag, sondern auf die "Massierung antisemitischer Taten in den letzten Monaten" zurückzuführen, glaubt Spiegel. Selbstverständlich hoffe er, dass die schreckliche Tat doch noch aufgeklärt werden kann. "Damit die Spekulationen um die Täter endlich ein Ende haben."


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