Milli Görüs stellt sich als gemäßigte islamische Vereinigung
dar. Doch die Verflechtungen mit dem radikalen Islamismus sind nicht
zu übersehen.
Ein Verbot wäre »in keiner Weise gerechtfertigt«, sagt Mehmet
Sabri Erbakan mit ruhiger Stimme. »Meine Gemeinschaft hat sich nie
gegen irgendeinen Inhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
gewandt. Ganz im Gegenteil: Wir haben für die Türkei und für viele
andere Länder genau diese freiheitlich-demokratische Grundordnung,
wie wir sie in Deutschland vorfinden, gefordert.« Spricht so der
Vorsitzende einer Organisation, die der niedersächsische Ministerpräsident
Sigmar Gabriel in einem Atemzug mit der Hamas nennt und zu »den
Sympathisanten von bin Laden« zählt? Die Rede ist von der
Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG).
Natürlich verurteile er die Anschläge von Washington und New
York, sagt Erbakan. »Mein Verständnis von Religiösität ist vor
allem ein tiefes Verständnis von Pazifismus, gerade auch aufgrund der
islamischen Lehre.« Auf die Frage, ob seine Glaubensbrüder
antiwestliche und antidemokratische Ressentiments pflegten, räumt
Erbakan freimütig ein, »dass hier und da ein Ressentiment beim
Einzelnen existiert, mag sein, aber bei dessen Überwindung muss auch
die Politik helfen, indem sie den Zugang von Muslimen zur politischen
Willensbildung erleichtert«.
Wie ein gemeingefährlicher islamistischer Eiferer wirkt Mehmet
Sabri Erbakan wirklich nicht. Nicht einmal einen Bart trägt der
Internist, und natürlich spricht er perfekt deutsch - so perfekt, wie
es für einen in Köln geborenen Rheinländer möglich ist. Der Neffe
des früheren türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan gilt
als das größte politische Talent unter Deutschlands muslimischen
Funktionären. Mit 13 übernahm er das erste Amt in der
Jugendabteilung der Milli Görüs, mit 28 war er Generalsekretär, im
April dieses Jahres wurde er zum Vorsitzenden des Verbandes gewählt.
Als »eine Art Cem Özdemir des Islam« bezeichnete ihn die Zeit.
Milli Görüs ist die größte und wichtigste Interessenvertretung
der in Europa lebenden Türken. 1971 in Braunschweig auf Anweisung
Necmettin Erbakans unter dem Namen Türkische Union Deutschland e.V.
gegründet, trägt der Verband nach einigen Transformationen und
Umbenennungen seit 1994 seinen heutigen Namen. Der Begriff »Milli Görüs«
- »Religiöse Nationale Weltsicht« - geht auf ein 1973 veröffentlichtes
gleichnamiges Buch Necmettin Erbakans zurück, in dem er seine
Strategie zur Errichtung einer islamischen Republik in der Türkei
darlegt.
In einer Selbstdarstellung gibt Milli Görüs an, im Herbst 2000 über
30 Gebietsorganisationen, 511 Moscheevereine, 1 091 Zweigstellen, 2
137 Jugend-, Frauen- und Uni-Vereine, 17 841 Vorstandsmitglieder und
252 000 Gemeindemitglieder verfügt zu haben.
Die Namen der einzelnen Vereine, die Milli Görüs zuzurechnen
sind, gibt der Verband allerdings nicht preis. Seine im August
vergangenen Jahres gemachte Zusage, der taz eine Liste der
Mitgliedsvereine zu übergeben, hielt Mehmet Sabri Erbakan nicht ein.
Die Journalisten Eberhard Seidel, Claudia Dantschke und Ali Yildirim
kommen in einer Studie zu dem Schluss: »Milli Görüs belügt die Öffentlichkeit
seit Jahren systematisch über den wahren Charakter ihrer
Organisation, ihre Verbindung zu Hunderten von Tarnorganisationen, ihr
Verhältnis zum türkischen Islamistenführer Necmettin Erbakan.«
In der Tat ist die im nordrhein-westfälischen Kerpen ansässige
Milli Görüs bis heute eng mit der islamistischen Bewegung Erbakans
verbunden. Die Bande zu dem in der Türkei mit einem Betätigungsverbot
belegten Politiker sind nicht nur familiär. Dass es eine enge
organisatorische Verflechtung zwischen Milli Görüs und den
jeweiligen Parteien Erbakans gibt, bestreitet die IGMG allerdings
vehement. Es müsse »zwischen der Milli Görüs als Organisation und
Milli Görüs als Bewegung« unterschieden werden, so Mehmet Sabri
Erbakan. Sein Onkel, der sich im vergangenen Jahr auf dem
IGMG-Jahreskongress im Müngersdorfer Stadion in Köln von 40 000
begeisterten Anhängern feiern ließ, sei nur der »Führer dieser
geistigen Bewegung«.
Dabei sind die engen personellen Verflechtungen offensichtlich. So
zogen der damalige IGMG-Vorsitzende Osman Yumakogullari sowie sein
Stellvertreter Asim Genc alias Abdullah Gencer 1995 für Erbakans
Refah-Partei ins türkische Parlament ein. Der damalige Generalsekretär
Ali Yüksel verpasste das Abgeordnetenmandat nur knapp. Für den
Wahlkampf der inzwischen verbotenen islamistischen Partei hatte die
IGMG in der Bundesrepublik Millionenbeträge gesammelt.
Die Leugnung organisatorischer Zusammenhänge hat ihren Grund, denn
das türkische Parteiengesetz verbietet Auslandsorganisationen. Außerdem
dient die Verbindung zwischen der IGMG und Necmettin Erbakan den
deutschen Verfassungsschutzbehörden als ein zentrales Argument zur Überwachung
der Organisation. Denn der 74jährige kämpft für die Ablösung der
laizistischen Staatsverfassung in der Türkei durch einen auf dem
Koran basierenden islamistischen Gottesstaat. Der nordrhein-westfälische
Verfassungsschutz betont, die IGMG habe es sich auch in der
Bundesrepublik »zum Ziel gesetzt, für die Muslime auf der Sharia
basierende Minderheitenrechte durchzusetzen«.
Davon findet sich in ihren offiziellen Stellungnahmen selbstverständlich
nichts. So nennt die Organisation als ihre Ziele nur »die umfassende
Organisation des religiösen Gemeindelebens (Gottesdienste,
Religionsunterricht, religiöse Feste, Pilgerreisen, religiöses
Schrifttum, Imamausbildung)« und »die gesellschaftliche und
rechtliche Gleichstellung mit den anderen Religionsgemeinschaften«.
Seit Mitte der neunziger Jahre achtet die IGMG auch darauf, dass sich
in ihren Publikationen, wie der Zeitung Milli Gazete, nicht mehr wie
früher antiwestliche und antisemitische Ausfälle finden lassen.
Sigmar Gabriel hat angekündigt, zusammen mit dem bayrischen
Ministerpräsidenten Edmund Stoiber so schnell wie möglich ein
Verbotsverfahren gegen Milli Görüs einzuleiten. Doch das könnte
trotz der Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz ein
peinlicher Reinfall werden. »Die von Milli Görüs vertretenen
Islamisten sind Rechte im europäischen Sinne, die sich in ihrem
Weltbild irgendwo zwischen Deutscher Volksunion (DVU), der FPÖ des Österreichers
Jörg Haider und dem rechten Flügel der CSU bewegen«, schreiben
Seidel, Dantschke und Yildirim. Es gebe viele Gemeinsamkeiten mit
deutschen Konservativen, etwa in Fragen der Familienpolitik, der
Abtreibungspolitik und in der Frage gesellschaftlicher Werte.
Seit einiger Zeit schon bemühen sich gerade christdemokratische
Politiker um die islamistische Organisation, die ihnen Wählerstimmen
unter den eingebürgerten Migranten bringen soll. So statteten der Kölner
Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) und die
CDU-Bundestagsabgeordnete Ursula Heinen im vergangenen Jahr dem Kölner
IGMG-Jahreskongress einen freundlichen Besuch ab. Der außenpolitische
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, war im Jahr
zuvor da. Auch er zeigte sich äußerst angetan.
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