24.10.2001

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Jungle World

*   Glauben bewegt
Von Pascal Beucker

Milli Görüs stellt sich als gemäßigte islamische Vereinigung dar. Doch die Verflechtungen mit dem radikalen Islamismus sind nicht zu übersehen.

Necmettin ErbakanEin Verbot wäre »in keiner Weise gerechtfertigt«, sagt Mehmet Sabri Erbakan mit ruhiger Stimme. »Meine Gemeinschaft hat sich nie gegen irgendeinen Inhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gewandt. Ganz im Gegenteil: Wir haben für die Türkei und für viele andere Länder genau diese freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie wir sie in Deutschland vorfinden, gefordert.« Spricht so der Vorsitzende einer Organisation, die der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel in einem Atemzug mit der Hamas nennt und zu »den Sympathisanten von bin Laden« zählt? Die Rede ist von der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG).

Natürlich verurteile er die Anschläge von Washington und New York, sagt Erbakan. »Mein Verständnis von Religiösität ist vor allem ein tiefes Verständnis von Pazifismus, gerade auch aufgrund der islamischen Lehre.« Auf die Frage, ob seine Glaubensbrüder antiwestliche und antidemokratische Ressentiments pflegten, räumt Erbakan freimütig ein, »dass hier und da ein Ressentiment beim Einzelnen existiert, mag sein, aber bei dessen Überwindung muss auch die Politik helfen, indem sie den Zugang von Muslimen zur politischen Willensbildung erleichtert«.

Wie ein gemeingefährlicher islamistischer Eiferer wirkt Mehmet Sabri Erbakan wirklich nicht. Nicht einmal einen Bart trägt der Internist, und natürlich spricht er perfekt deutsch - so perfekt, wie es für einen in Köln geborenen Rheinländer möglich ist. Der Neffe des früheren türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan gilt als das größte politische Talent unter Deutschlands muslimischen Funktionären. Mit 13 übernahm er das erste Amt in der Jugendabteilung der Milli Görüs, mit 28 war er Generalsekretär, im April dieses Jahres wurde er zum Vorsitzenden des Verbandes gewählt. Als »eine Art Cem Özdemir des Islam« bezeichnete ihn die Zeit.

Milli Görüs ist die größte und wichtigste Interessenvertretung der in Europa lebenden Türken. 1971 in Braunschweig auf Anweisung Necmettin Erbakans unter dem Namen Türkische Union Deutschland e.V. gegründet, trägt der Verband nach einigen Transformationen und Umbenennungen seit 1994 seinen heutigen Namen. Der Begriff »Milli Görüs« - »Religiöse Nationale Weltsicht« - geht auf ein 1973 veröffentlichtes gleichnamiges Buch Necmettin Erbakans zurück, in dem er seine Strategie zur Errichtung einer islamischen Republik in der Türkei darlegt.

In einer Selbstdarstellung gibt Milli Görüs an, im Herbst 2000 über 30 Gebietsorganisationen, 511 Moscheevereine, 1 091 Zweigstellen, 2 137 Jugend-, Frauen- und Uni-Vereine, 17 841 Vorstandsmitglieder und 252 000 Gemeindemitglieder verfügt zu haben.

Die Namen der einzelnen Vereine, die Milli Görüs zuzurechnen sind, gibt der Verband allerdings nicht preis. Seine im August vergangenen Jahres gemachte Zusage, der taz eine Liste der Mitgliedsvereine zu übergeben, hielt Mehmet Sabri Erbakan nicht ein. Die Journalisten Eberhard Seidel, Claudia Dantschke und Ali Yildirim kommen in einer Studie zu dem Schluss: »Milli Görüs belügt die Öffentlichkeit seit Jahren systematisch über den wahren Charakter ihrer Organisation, ihre Verbindung zu Hunderten von Tarnorganisationen, ihr Verhältnis zum türkischen Islamistenführer Necmettin Erbakan.«

In der Tat ist die im nordrhein-westfälischen Kerpen ansässige Milli Görüs bis heute eng mit der islamistischen Bewegung Erbakans verbunden. Die Bande zu dem in der Türkei mit einem Betätigungsverbot belegten Politiker sind nicht nur familiär. Dass es eine enge organisatorische Verflechtung zwischen Milli Görüs und den jeweiligen Parteien Erbakans gibt, bestreitet die IGMG allerdings vehement. Es müsse »zwischen der Milli Görüs als Organisation und Milli Görüs als Bewegung« unterschieden werden, so Mehmet Sabri Erbakan. Sein Onkel, der sich im vergangenen Jahr auf dem IGMG-Jahreskongress im Müngersdorfer Stadion in Köln von 40 000 begeisterten Anhängern feiern ließ, sei nur der »Führer dieser geistigen Bewegung«.

Dabei sind die engen personellen Verflechtungen offensichtlich. So zogen der damalige IGMG-Vorsitzende Osman Yumakogullari sowie sein Stellvertreter Asim Genc alias Abdullah Gencer 1995 für Erbakans Refah-Partei ins türkische Parlament ein. Der damalige Generalsekretär Ali Yüksel verpasste das Abgeordnetenmandat nur knapp. Für den Wahlkampf der inzwischen verbotenen islamistischen Partei hatte die IGMG in der Bundesrepublik Millionenbeträge gesammelt.

Die Leugnung organisatorischer Zusammenhänge hat ihren Grund, denn das türkische Parteiengesetz verbietet Auslandsorganisationen. Außerdem dient die Verbindung zwischen der IGMG und Necmettin Erbakan den deutschen Verfassungsschutzbehörden als ein zentrales Argument zur Überwachung der Organisation. Denn der 74jährige kämpft für die Ablösung der laizistischen Staatsverfassung in der Türkei durch einen auf dem Koran basierenden islamistischen Gottesstaat. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz betont, die IGMG habe es sich auch in der Bundesrepublik »zum Ziel gesetzt, für die Muslime auf der Sharia basierende Minderheitenrechte durchzusetzen«.

Davon findet sich in ihren offiziellen Stellungnahmen selbstverständlich nichts. So nennt die Organisation als ihre Ziele nur »die umfassende Organisation des religiösen Gemeindelebens (Gottesdienste, Religionsunterricht, religiöse Feste, Pilgerreisen, religiöses Schrifttum, Imamausbildung)« und »die gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung mit den anderen Religionsgemeinschaften«. Seit Mitte der neunziger Jahre achtet die IGMG auch darauf, dass sich in ihren Publikationen, wie der Zeitung Milli Gazete, nicht mehr wie früher antiwestliche und antisemitische Ausfälle finden lassen.

Sigmar Gabriel hat angekündigt, zusammen mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber so schnell wie möglich ein Verbotsverfahren gegen Milli Görüs einzuleiten. Doch das könnte trotz der Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz ein peinlicher Reinfall werden. »Die von Milli Görüs vertretenen Islamisten sind Rechte im europäischen Sinne, die sich in ihrem Weltbild irgendwo zwischen Deutscher Volksunion (DVU), der FPÖ des Österreichers Jörg Haider und dem rechten Flügel der CSU bewegen«, schreiben Seidel, Dantschke und Yildirim. Es gebe viele Gemeinsamkeiten mit deutschen Konservativen, etwa in Fragen der Familienpolitik, der Abtreibungspolitik und in der Frage gesellschaftlicher Werte.

Seit einiger Zeit schon bemühen sich gerade christdemokratische Politiker um die islamistische Organisation, die ihnen Wählerstimmen unter den eingebürgerten Migranten bringen soll. So statteten der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) und die CDU-Bundestagsabgeordnete Ursula Heinen im vergangenen Jahr dem Kölner IGMG-Jahreskongress einen freundlichen Besuch ab. Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, war im Jahr zuvor da. Auch er zeigte sich äußerst angetan.


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