15.02.2001

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taz

*   Und plötzlich bist du Terrorist
Von Pascal Beucker und Nina Magoley

Schon als politischer Flüchtling anerkannt, soll Haydar Siginak jetzt doch abgeschoben werden. Und auf den Menschrechtler Akin Birdal wartet das Gericht, wenn er in die Türkei zurückkehrt.

Wie wird man ein Terrorist? „In der Türkei“, lächelt Haydar Siginak bitter, „gehört nicht viel dazu“. Hunderte von „Terroristen“ hat der 28-Jährige in den letzten drei Jahren betreut. Siginak ist Rechtsanwalt. Mit dem aus spektakulären Politprozessen bekannten Ercan Kanar hat er bis Mitte vergangenen Jahres eine Kanzlei in Istanbul. Seine Mandanten saßen fast alle im Gefängnis – alle unter derselben Anklage: Volksverhetzung, „Gedankenschuld“, Terrorismus.

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Seine Worte wählt der graumelierte Mann mit der dunkelgrauen Cordjacke, der an dem kleinen Tisch im Büro des Menschenrechtsvereins Tüday in der Alten Feuerwache sitzt, mit Bedacht. Mit tiefer sonorer Stimme spricht er über den Gefängnisaufstand in der Türkei, über Einschränkungen der Meinungsfreiheit, über die Verfolgung der kurdischen Partei HADEP. Vermeidet dabei Worte, die ihn in Konflikt mit türkischen Gesetzen bringen könnten. Akin Birdal weiß, dass er vorsichtig sein muss. Sein Engagement für die Menschenrechte hat ihm bereits Gefängnis eingebracht – und beinahe das Leben gekostet. Es sei „wie ein Gang durch ein Minenfeld“, in der Türkei von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen, sagt der 53-Jährige. „Man weiß nie, wo etwas hochgeht.“

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Dann schrieb Siginak diesen Artikel in der linken Zeitung Efendi Sizler. Forderte darin, dass es im kurdischen Gebiet der Türkei Schulunterricht in kurdischer Sprache geben solle. Und plötzlich galt er selber als Terrorist. Das Verfahren, das gegen ihn eingeleitet wurde, läuft noch und wahrscheinlich säße er bereits im Gefängnis, verurteilt nach Artikel 312 des türkischen Antiterrorgesetzes. Doch der junge Anwalt floh in die Bundesrepublik und beantragte in Köln im Mai 2000 politisches Asyl.

Siginaks Fall war eindeutig, sein Aktenzeichen in der Türkei nachprüfbar. Nach nur sechs Monaten war der Asylantrag anerkannt, und Siginak begann, sich auf eine Zukunft im Exil einzurichten. Zwar fern der Heimat und fern der Menschen, denen bisher sein Engagement galt, doch frei und lebendig.

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Akin Birdal gilt als Motor der türkischen Menschenrechtsbewegung. Der gelernte Landschaftsarchitekt ist Mitbegründer des unabhängigen Türkischen Menschenrechtsvereins Insan Haklari Dernigi IHD, war lange dessen Vorsitzender. Der türkische Staat sieht in ihm einen Staatsfeind, im Ausland hat Birdal hingegen hohes Ansehen. Zwei Jahre lang durfte er nicht ausreisen, nun fährt er durch Europa, um über die nach wie vor prekäre Menschenrechtssituation in seiner Heimat aufzuklären. So kam er auch nach Köln.

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Wie die Chancen für jemanden stehen, der einmal in einem türkischen Gefängnis gelandet ist, hat Siginak oft genug erlebt. „Seit dem Inkrafttreten des Dreierprotokolls ist die Arbeit der Anwälte fast unmöglich geworden“, berichtet er. Das „Dreierprotokoll“, ein Abkommen zwischen Justiz-, Innen- und Gesundheitsministerium, sieht vor, dass Rechtsanwälte bei Betreten eines Gefängnisses bis auf die Unterhose untersucht werden sollen. Anwältinnen müssen häufig selbst ihren BH ausziehen und sich vom Gefängnispersonal anfassen lassen.„Außerdem hat jeder einfache Gefängniswächter das Recht, den Inhalt unserer Taschen zu durchsuchen und die Verteidigungsschriften zu lesen.“ Alles, was nach Meinung des Wächters nicht mit der Verteidigung eines Mandanten zu tun hat, kann er beschlagnahmen. Viele Anwälte verweigerten diese unsägliche und herabwürdigende Prozedur und bekamen daraufhin keinen Zutritt zum Gefängnis. „Dadurch hatten wir kaum noch Möglichkeiten, uns mit den Mandanten zu treffen“, sagt Siginak.

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Mai 1998. Es war wie in einem schlechten Gangsterfilm: Sie wollten über verhaftete Familienangehörige sprechen, erklärten die zwei jungen Männer, die kurz vor zwölf Uhr die IHD-Zentrale in Ankara betraten. Doch die vermeintlich Hilfesuchenden waren Killer. Ihr Ziel: Akin Birdal. Mit sechs Kugeln schossen sie den Menschenrechtler nieder. Dann verschwanden die beiden unerkannt. Er überlebte schwerverletzt, leidet noch heute an den Folgen des Attentats. Aber klagen will er nicht. Es ginge ihm jetzt schon sehr viel besser, sagt er. „Ich habe nur etwas Probleme mit meinem linken Fuß und meiner rechten Hand.“

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Oft hätten Anwälte während der Verhandlung den Antrag gestellt, sich mit ihrem Mandanten in einer Ecke des Gerichtssaals besprechen zu dürfen. Das sei aber meistens abgelehnt worden, berichtet Siginak. Eine Zeit lang weigerten sich viele Juristen, unter den Bedingungen des neuen Gesetzes die Gefängnisse überhaupt zu betreten. Doch seit dem Massaker am 19. Dezember, bei dem ein landesweiter Hungerstreik politischer Häftlinge gewaltsam beendet werden sollte, haben die Anwälte ihren Protest vorerst aufgegeben.

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Erst Ende September wurde Birdal nach zehn Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen. Er war wegen „separatistischer Äußerungen“ verurteilt worden, weil er in einer Rede 1995 von einem „unfairen und schmutzigen Krieg“ gesprochen hatte, den die Türkei gegen die Kurden führe. Nach seiner Entlassung sagte er: „Ich hoffe, dass ich die letzte Person bin, die wegen ihrer Gedanken ins Gefängnis musste.“ Nun soll der Menschenrechtler wieder vor Gericht. Diesmal wegen „öffentlicher Herabsetzung des Ansehens der türkischen Nation“. Die Anklage stützt sich auf einen Artikel in der türkischsprachigen Tageszeitung Hürriyet. Birdal habe auf einer Veranstaltung im Oktober vergangenen Jahres in Bremerhaven gefordert, die Türkei solle sich für den Völkermord an den Armeniern von 1915 entschuldigen, behauptete Hürriyet. „Meine Aussage wurde verdreht“, erzählt Birdal. „Ich sagte, man müsse alles vermeiden, was dazu führt, dass sich Feindschaft und Spannungen zwischen Völkern und Ländern vergrößern.“ Das ihm untergeschobene Zitat sei erfunden, „weil türkische Medien eine Kampagne gegen mich fahren“. Dem Ermittlungsverfahren sieht er gelassen entgegen: „Ich glaube nicht, dass dabei etwas herauskommt.“

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Eine Forderung der Hungerstreikenden war die Aufhebung des Dreierprotokolls. Und sie protestierten gegen den Umzug in die neuen F-Typ-Gefängnisse. Nach dem blutigen Angriff auf die Hungerstreikenden, bei dem 30 Häftlinge getötet wurden, wurden die Überlebenden teilweise an weit entfernte Orte gebracht – eine weitere Schikane, so Siginak, um die Arbeit der Anwälte unmöglich zu machen. Was die Medien in der Türkei und im Ausland verschweigen: Der Hungerstreik geht weiter. Über 1.650 Gefangene verweigern inzwischen seit 120 Tagen die Nahrungsaufnahme. In dieser Situation wächst die Aufgabe der Anwälte weit über die juristischen Beratung hinaus. Als oft einzige Zeugen über den Zustand der Gefangenen ist es wichtig, dass sie diese so oft wie möglich sehen. Dazu müssen sie jetzt kreuz und quer durch die Türkei reisen, treffen dabei vielleicht nur zwei Mandanten am Tag.

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Nach seinem Besuch in der Bundesrepublik reist Birdal nach Italien weiter. Das römische Parlament hat ihn eingeladen. Aus Berlin gab es keine Einladung. „Ich warte noch darauf.“ Von der rot-grünen Bundesregierung ist er enttäuscht. Zu Anfang sei er hoffnungsvoll gewesen. Doch gebe es eine große Diskrepanz zwischen den Äußerungen von SPD und Grünen in der Opposition und ihrem jetzigen Regierungshandeln. „Ich bin traurig darüber, dass das leider so ist.“ Er sei zwar mit etlichen Politikern der beiden Regierungsparteien befreundet, aber in der Türkei gebe es ein Sprichwort: „Der Freund spricht auch manchmal bitter.“ Und vielleicht sei er gerade deswegen etwas verbittert, sagt Birdal, weil man von Freunden mehr und bessere Unterstützung erwarte. Lakonisch fügt er hinzu: Staaten setzten politische Prioritäten – die der Bundesrepublik seien nicht auf die Einhaltung der Menschenrechte gerichtet.

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Haydar Siginak, der als Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD ständig aktuelle Informationen aus Istanbul bekommt, ist deprimiert. Nicht nur wegen des Gefühls der Ohnmacht, die seine Möglichkeiten hier wie dort bestimmt. Anfang Januar erhob der Bundesbeauftragte eine Anfechtungsklage gegen Siginaks Asylanerkennungsbescheid. Er bezweifle, heißt es darin, dass Siginak wegen seines Zeitungsartikels vom türkischen Staat belangt werden könnte.

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Ja, natürlich kehrt Akin Birdal wieder in die Türkei zurück. Auch wenn er dort wieder vor Gericht gestellt werden wird, auch wenn er dort Angst um sein Leben haben muss. „Mein Herz ist in der Türkei und deshalb möchte ich auch selbst dort sein.“ Es fühle sich der „Verantwortung der Intellektuellen“ verpflichtet, in der Türkei für die Menschenrechte zu kämpfen. Und doch kann er sich auch ein anderes Leben vorstellen: „Wenn die Türkei endlich demokratisiert ist und wenn dort wirklich Freiheit herrscht, dann würde ich auch gerne in Köln leben. Ich liebe Köln."


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