15.11.2001

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taz

*   "Sehr ordentlicher, strebsamer Sohn"
Von Pascal Beucker

Ein Marktführer feiert Geburtstag: Am 14. November 1876 erschien die erste Ausgabe des Kölner Stadt-Anzeigers. Gedacht war er bloß als lokales Anzeigenblättchen zur Unterstützung der berühmten Kölnischen Zeitung. Doch die lebt heute nur noch als sein Untertitel.

Als am 14. November 1876 zum ersten Mal der Kölner Stadt-Anzeiger mit einer kostenlosen Werbeauflage von 30.000 Exemplaren in Köln erschien, hätten sich seine Erfinder nicht im Traum vorstellen können, dass diese Zeitung einmal zum Flagschiff des Verlagshauses M. DuMont Schauberg werden könnte. Nicht einmal an eine „richtige“ Zeitung hatte der Verlag gedacht, denn er hatte ja schon eine : die Kölnische Zeitung.

Köln, in den 1870-er Jahren: Die nationalliberale Kölnische genießt den Ruf einer deutschen Times. Ihre Artikel können Börsenkurse purzeln lassen und zu internationalen Verwicklungen führen. Bismarck sagt von ihr, sie sei ihm „ein Armeekorps am Rhein wert“. Die Zeitung wird in allen europäischen Hauptstädten gelesen und leistet sich den Luxus einer eigenen Wochenausgabe nur für Übersee. In Teheran ist sie ebenso erhältlich wie in Peking und Tokio, in den USA ebenso wie in Ägypten und in Indien.

Doch die Kölnische hat ein Problem: Ihr Erfolg über die Grenzen Kölns hinaus hat dazu geführt, dass sie mehr außerhalb als innerhalb der Domstadt vertrieben wird. Die lokalen Anzeigenkunden sehen immer weniger Sinn darin, in einer Zeitung zu inserieren, bei der zwar mit der Auflage stetig die Anzeigenpreise steigen, aber nicht die Werbewirksamkeit. Verlagsleiter Ferdinand Wilhelm Schultze reagiert: Er beschließt, eine Zeitung speziell für den Kölner Markt zu schaffen. Ein Billigprodukt zum Geldverdienen soll es sein, mehr nicht. Ein Anzeigenblättchen entsteht.

In der ersten Zeit dienen nur im Innern des Blättchens, das 1876 erstmalig unter dem Namen Stadt-Anzeiger zur Kölnischen Zeitung erscheint, hier und da journalistische Beiträge als Stopfer von Anzeigenlücken. Die Titelseite besteht ausschließlich aus Inseraten. Redaktionell ist die Gazette stark reglementiert. Um dem Mutterblatt keine Konkurrenz zu machen, ist die Erörterung allgemeiner politischer Fragen untersagt. Auch über Opern- und Schauspielaufführungen darf nicht berichtet werden. Über den Kaiser-Besuch 1877 berichtet der Stadt-Anzeiger ebenso wenig wie über das große Fest, mit dem 1880 die Fertigstellung des Kölner Doms gefeiert wird. Selbst der Rosenmontagszug ist der Kölnischen vorbehalten und findet im Stadt-Anzeiger nicht statt. Auch personell ist er sehr dürftig ausgestattet. Nur einen Redakteur hat der Verlag für sein neues Produkt abgestellt – und der untersteht auch noch dem Chefredakteur der Kölnischen.

Aber der Stadt-Anzeiger entwickelt sich: 1884 wird der Zeitung ein zweiter Redakteur beigegeben, 1889 ein dritter. 1890 verzeichnet das Impressum erstmalig einen eigenen „Verantwortlichen Redakteur“.

Während des Ersten Weltkrieges gewinnt der Stadt-Anzeiger rapide an Bedeutung. Während die Möglichkeiten der Kölnischen, über die „große Politik“ zu berichten, durch den weitgehenden Zusammenbruch ihres weltweiten Korrespondentennetzes und das Nachrichtenmonopol der Obersten Heeresleitung stark eingeschränkt sind, hat der Stadt-Anzeiger einen praktischen Nutzen. Er kann über das berichten, was die Kölnerinnen und Kölner konkret betrifft. Er veröffentlicht Verlustlisten von Gefallenen, informiert über die Beschlagnahme von Schulen für das Militär oder die Zuteilung von Lebensmitteln. Dabei vergisst er jedoch zu keiner Zeit, an die patriotischen Gefühle der Bürger zu appellieren. So besteht die Titelseite vom 16. April 1917 nur aus zwei Sätzen: „Die U-Boot-Anleihe! Das Vaterland erwartet, dass jedermann seine Pflicht tut.“ Zum Ausgleich bietet der Stadt-Anzeiger seinen Lesern im Winter 1917 neue Kochrezepte, um den Genuss von Steckrüben schmackhafter zu machen.

Fünf Jahre nach dem Krieg hat der Stadt-Anzeiger endgültig den Sprung zu einer eigenständigen Zeitung geschafft. Am 19. Februar 1923 verschwindet der Hinweis auf das Mutterblatt aus dem Kopf: Aus dem Stadt-Anzeiger zur Kölnischen Zeitung wird der Stadt-Anzeiger für Köln und Umgebung. Die Prioritätensetzung des Verlages bleibt jedoch unverändert: Zuerst kommt die Kölnische. Das zeigt sich nicht zuletzt an der personellen Ausstattung. So arbeiten 1930 beim Stadt-Anzeiger gerade mal 9 Redakteure – die Kölnische hat 60. In der Auflage hat die kleine Lokalzeitung allerdings die große Überregionale überflügelt. So verzeichnet der Stadt-Anzeiger am ersten Januar 1933 eine Auflage von 120.000 Exemplaren, die Kölnische kommt nicht einmal auf die Hälfte, auf 50.000 Exemplare.

Inzwischen allerdings ist den beiden Zeitungen in Köln ein gefährlicher Konkurrent erwachsen – einer, der nicht nur mit unfairen Mitteln kämpft, sondern auch noch eine gefährliche politische Macht hinter sich hat: der Westdeutsche Beobachter, der Kölner Ableger des Völkischen Beobachters der NSDAP. Bereits 1932 startet das Nazi-Kampfblatt eine Kampagne gegen die als liberal geltenden und deshalb missliebigen DuMont-Blätter, zu der inzwischen auch noch die 1926 gegründete Kölnische Illustrierte gehört. Der Westdeutsche Beobachter hetzt: „Wie sind die Einnahmequellen dieser Zeitungen und Zeitschriften, des Stadt-Anzeigers und der Kölnischen Illustrierten usw.? Es ist nicht das Abonnement, das ihnen die großen Summen ins Haus bringt, sondern das Rückgrat dieses Verlages bilden die Inserenten. Die Großinserenten, die Konfektionsjuden, die großen Markenfirmen – wir denken besonders an die teuren Zeitschrifteninserate! – in jüdischem Besitz.“

Nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 wird Rentnern mit dem Entzug ihrer Pensionen, Beamten mit Maßregelungen gedroht, falls sie weiter Abonnenten bleiben. Die Auswirkungen sind fatal: Bis zum August 1933 hat sich die Auflage des Stadt-Anzeigers auf weniger als die Hälfte, auf 50.000 Exemplare reduziert. Die der Kölnischen auf 15.000 Exemplare.  Überdies erklärt der Kölner Nazigauleiter Grohé dem Verleger Kurt Neven DuMont, es seien umgehend Verhandlungen über eine Fusion mit dem Westdeutschen Beobachter aufzunehmen. Wie verlangt verhandelt Kurt Neven DuMont. Doch er bricht die Verhandlungen wieder ab. Im Stadt-Anzeiger und in der Kölnischen erscheint eine Erklärung „in eigener Sache“: „In den letzten Tagen werden in Köln und außerhalb Nachrichten verbreitet, dass der Verlag M. DuMont Schauberg mit seinen Zeitungen in den Besitz der Westdeutschen Beobachter GmbH Köln übergegangen sei, oder der Übergang so gut wie vollzogen sei. Hierzu stellen wir fest: Diese Nachrichten sind unrichtig.“

Stadt-Anzeiger und Kölnische bleiben selbstständig und können in den folgenden Jahren auch wieder ihre Auflagen steigern. Was sie schützt, ist das internationale Ansehen der Kölnischen, auf das das Propagandaministerium von Joseph Goebbels nicht verzichten will. Dazu bei trägt allerdings auch, dass sich beide Zeitungen von Anfang an nicht durch besonderen Widerstandsgeist gegenüber den neuen Machthabern auszeichnen. Im Gegenteil: Die Kölnische hatte sich sogar schon vor 1933 für ein Zusammengehen des Bürgertums mit Hitler eingesetzt und für eine Regierungsbeteiligung der NSDAP plädiert.

Und noch etwas anderes ist dem Weitererscheinen nicht gerade abträglich: Der sich als liberale verstehende Verleger Kurt Neven DuMont entscheidet sich opportunistisch dafür, auf der Seite der Machthaber zu stehen. Am 1. Mai 1937 tritt er in die NSDAP ein. Widerständige Gedanken leistet er sich nur im ganz privaten Kreis. Das Regime zeigt sich erkenntlich: Noch im Sommer 1944 verleiht ihm das Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda das Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse mit Schwertern, mit dem besondere Verdienste unter feindlicher Waffenwirkung oder in der militärischen Kriegsführung ausgezeichnet werden. Kein Wunder, dass Kölnische und Stadt-Anzeiger bis unmittelbar vor Kriegsende erscheinen können.

Das Ende der nationalsozialistischen Diktatur 1945 bringt auch das Ende der traditionsreichen Kölnischen Zeitung. Das Schicksal des Stadt-Anzeiger scheint ebenfalls besiegelt. Köln steht zunächst unter amerikanischer, dann unter britischer Militärverwaltung. Zeitungen müssen von den Alliierten lizenziert werden. Doch diese Lizenz verweigern sie. Kurt Neven DuMont gilt als zu belastet. Für ihn völlig unverständlich und eine Demütigung.

Das Verlagshaus M. DuMont Schauberg, das fast 150 Jahre die Kölner Zeitungslandschaft geprägt hat, muss hilflos mitansehen, wie ab 1946 andere in ihren Gefilden wildern: Der konservative, katholische Kölner Verleger Reinhold Heinen, der als politischer Häftling unter den Nazis im Konzentrationslager Sachsenhausen gesessen hatte, erhält die Lizenz zur Herausgabe der Kölnischen Rundschau. Die sozialdemokratisch orientierte Rheinische Zeitung wird ebenso lizenziert wie die kommunistische Volksstimme.

Vier Jahre müssen die DuMonts warten, bis auch sie wieder eine Zeitung herausgeben dürfen. Mit der Gründung der Bundesrepublik entfällt 1949 der Lizenzzwang. Kurt Neven DuMont und sein Vetter August gehen wieder an den Start. Sie entscheiden sich dafür, dabei nicht auf die traditionsreiche Kölnische zu setzen, sondern auf den lokal verankerten Stadt-Anzeiger. Bei der Wahl des neuen Chefredakteurs setzen sie jedoch auf einen früheren Redakteur der Kölnischen: Heinz Pettenberg, auch er ein ehemaliges NSDAP-Mitglied. Politisch knüpft die wiedererstandene Zeitung an ihre Blattlinie aus der Weimarer Republik an. „Der Kölner Stadt-Anzeiger liebäugelte mit der Richtung der damaligen FDP, die mehr rechts als links von den Christdemokraten positioniert war“, wird Alfred Neven DuMont die Richtung in einer Rückschau zum 50. Geburtstag des Wiedererscheinens später beschreiben.

Alfred Neven DuMont tritt 1953 als Mittzwanziger in das Verlagshaus seiner Familie ein. 1955 übernimmt er die publizistische Leitung des Stadt-Anzeigers. Er bringt frischen Wind in das Blatt und beginnt, die aus seiner Sicht „graue Provinzzeitung“ zu modernisieren. Pettenberg ist auf seinen Druck hin bereits 1954 ausgewechselt worden. Nun holt Alfred Neven DuMont neue und vor allem junge Redakteure in die Domstadt. Der Geist wird liberaler. Zudem bekommt die Zeitung eine neues Layout. Das Konzept geht auf, die Zeitung verzeichnet Rekordzuwächse. Hatte die Startauflage 1949 noch 70.000 Exemplare betragen, bringt sie es bereits 1960 auf 170.000 Exemplare. Bis Ende der 60-er Jahre überspringt sie die 200.000er Marke. Am 25. August 1962 lässt DuMont die Kölnische Zeitung wiedererstehen – wenn auch nur als Untertitel des Stadt-Anzeigers.

Bundesweit sorgt die Lokalzeitung vom Rhein erstmalig in den 60-er Jahren für Schlagzeilen. Der christdemokratische Bundespräsident Heinrich Lübke ereifert sich in seiner Neujahrsansprache zum Jahreswechsel 1964/65 über eine harmlose und unpolitische Fotomontage im Stadt-Anzeiger, die sich über den Schah von Persien, Reza Pahlevi, lustig macht. Lübke wettert: „Wenn die Öffentlichkeit derartige Entgleisungen ernst nehmen und ihre Abscheu offen zeigen würde, dann wäre es leichter, unseren deutschen Namen sauber zu halten. Leider überlässt man das alles dem Staat, obwohl unsere Ehre doch einem jeden von uns teuer sein müsste.“

Die Folge: Ein Strafverfahren gegen den Stadt-Anzeiger wegen Majestätsbeleidigung. Das Verfahren geht durch mehrere Instanzen und endet erst 1968 mit der Verhängung von Geldstrafen. Ein Jahr zuvor waren Studenten mit „Mörder, Mörder“-Rufen gegen den Staatsbesuch des diktatorisch herrschenden Schahs auf die Straße gegangen und Benno Ohnesorg bei der Anti-Schah-Demonstration in Berlin am 2. Juni 1967 erschossen worden. Die Studentenbewegung hat begonnen.

Der Studentenprotest geht auch am Stadt-Anzeiger nicht vorbei. Alfred Neven DuMont, nach dem Tod seines Vaters 1967 alleiniger Herausgeber, zeigt sich offen für die revoltierenden Studenten. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke veröffentlicht er am 13. April 1968 einen Brief des AStA der Uni Köln, in dem er aufgefordert wird, nicht weiter die Bild-Zeitung - die für den Anschlag mitverantwortlich gemacht wird - in seinem Haus drucken zu lassen. Dazu ist er zwar nicht bereit, doch lehnt er ebenso das Begehren des Springer-Konzerns ab, neben der westdeutschen auch noch die Frankfurter Bild-Ausgabe bei sich drucken zu lassen. Im Stadt-Anzeiger greift er in einem Leitartikel unter der Überschrift „Die Studenten, Springer und die Demokratie“ die „weitgehend einseitige, zum Teil manipulierte Berichterstattung“ der Springer-Zeitungen an und fordert zum Dialog mit den rebellierenden Studenten auf.

Politisch unterstützt DuMont nun öffentlich die inzwischen zur SPD tendierende FDP. Aufsehen erregt er vor der Bundestagswahl 1969 mit einem Aufruf im Stadt-Anzeiger zum Regierungswechsel. Die Zeit der CDU sei abgelaufen, die für eine sozialliberale Koalition gekommen. „Zwanzig Jahre Vorherrschaft ist genug. Ich fürchte, mehr kann unsere junge Demokratie nicht verkraften, ohne inneren Schaden zu nehmen“, schreibt DuMont.

Als jedoch ein Jahr später Chefredakteur Joachim Besser vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für eine SPD-Regierung plädiert, geht das DuMont dann doch zu weit nach links. Ohne Rücksprache mit der Redaktion beruft er Besser kurzerhand ab. Der Konflikt mit der Redaktion, die sich in ihrer großen Mehrheit hinter Besser stellt, wird auch offen im Stadt-Anzeiger ausgetragen. Ändern kann die Redaktion an der Demission Bessers indes nichts. Aber DuMont stimmt einem Redaktionsstatut zu. Ein Redaktionsbeirat entsteht, der zumindest über etwas bessere Mitsprachemöglichkeiten verfügt. Das Statut hält bis 1987. Dann kommt es erneut zu einem Streit um den Chefredakteur. DuMont kündigt das Statut.

Bis heute führt Alfred Neven DuMont, inzwischen 74-jährig, als Herausgeber patriarchalisch den Kölner Stadt-Anzeiger. Politisch ist er sich und seiner Familientradition treu geblieben: Er sympathisiert immer noch mit den Liberalen. Seine Zeitung, von der er sagt, sie sei ein „sehr ordentlicher, strebsamer Sohn“, hat er zu einer der bedeutendsten Regionalzeitungen in der Bundesrepublik gemacht. Doch seine Hoffnung, sie würde sich zu einem deutschlandweit gelesenen und international beachteten Blatt entwickeln, hat sich nicht erfüllt. Schon in Düsseldorf ist der Stadt-Anzeiger nur noch an wenigen Kiosken vertreten.

Wer allerdings mit der Fähre vom asiatischen zum europäischen Teil Istanbuls übersetzen und sich noch an einem der Zeitungsstände an der Fähranlegestelle in Kadiköy mit einer deutschsprachigen Tageszeitung eindecken will, erlebt eine Überraschung. Neben der Frankfurter Allgemeinen und der Süddeutschen Zeitung findet er dort – den Kölner Stadt-Anzeiger. Zumindest hier hat er auch überregional die Nachfolge des Blattes antreten können, zu dessen finanzieller Unterstützung er vor 125 Jahren gegründet wurde: der Kölnischen Zeitung.

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