29.05.2002

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Jungle World

*   Ab ins Heim
Von Pascal Beucker

Die Forderung nach Aufhebung der Benes-Dekrete stößt in Tschechien auf einhellige Ablehnung.

Ein »herzliches Grüß Gott« rief Edmund Stoiber zu Pfingsten in die Nürnberger Frankenhalle. Wieder seien alle, »alt und jung, aus nah und fern, aus dem Sudetenland, aus den neuen Ländern und aus dem Ausland«, gekommen, »um ein kraftvolles Bekenntnis zu ihrer Heimat abzulegen«. Der 53. Sudetendeutsche Tag zeige allen Beobachtern aus dem In- und Ausland: »Der vierte Stamm Bayerns ist lebendig wie eh und je.«

Während Stoiber in Nürnberg kein Wort über die verbrecherische Rolle der Sudetendeutschen bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland verlor und stattdessen unter großem Applaus die Benes-Dekrete und das »Vertreibungsunrecht« anprangerte, wurde zur gleichen Zeit auf der anderen Seite der deutsch-tschechischen Grenze, 60 Kilometer nordwestlich von Prag, an die Nazi-Verbrechen erinnert.

In Terezín, besser bekannt unter dem deutschen Namen Theresienstadt, wird seit Kriegsende jedes Jahr im Mai mit einer Kranzniederlegung der tschechischen NS-Opfer gedacht. Dass diesmal die traditionelle Gedenkveranstaltung ausgerechnet mit dem Sudetendeutschen Tag zusammenfiel, war Zufall, aber doch ein sehr passender.

Mehr als 1 000 Menschen waren zu dem Trauerakt in das einstige Konzentrationslager gekommen. Unter ihnen viele alte Menschen, von denen nicht wenige während des Zweiten Weltkriegs selbst Gefangene im damaligen Lager waren. Auch Frauen aus dem Dorf Lidice, die das Massaker vor 60 Jahren überlebt hatten, hörten dem zu, was der tschechische Premierminister Milos Zeman an diesem Tag im Gedenken an die Opfer des Naziterrors sagte.

Der 57jährige Sozialdemokrat entschied sich auch diesmal wieder für klare Worte. Hier werde der Opfer gedacht, während sich in Nürnberg jene versammelten, die die deutsche Niederlage in einen späten Sieg verwandeln wollten. Theresienstadt sei nicht nur ein Symbol für das Leid der jüdischen Mitbürger, sondern auch dafür, was mit den Tschechen geschehen wäre, wenn der Nationalsozialismus gesiegt hätte.

Weder die Tschechen noch die Slowaken hätten die direkt oder indirekt Schuldigen des Zweiten Weltkrieges nach Theresienstadt, Majdanek, Auschwitz oder in andere Konzentrationslager geschickt, sondern ihnen im Gegenteil »einen Wunsch erfüllt«, betonte Zeman: »Sie wollten 'Heim ins Reich' - und dahin gingen sie auch.« Eine Aufhebung der Benes-Dekrete käme daher nicht in Frage.

»Wir wollen heim ins Reich!« Das war die Losung, die am 15. September 1938 der kurzfristig aus der CSR geflohene Führer der Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, in einem vom deutschen Rundfunk übertragenen Aufruf an die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei ausgab.

Und das war kein Aufruf eines einsamen Verwirrten. Von den 3,2 Millionen Bürgern »deutscher Nationalität«, die vor der Annexion in der Tschechoslowakei lebten, wusste die Sudetendeutsche Partei im Juli 1938 über 1,3 Millionen in ihren Reihen. Keine faschistische Partei im Europa jener Jahre konnte eine in diesem Maße organisierte Massenanhängerschaft aufweisen. Bei den letzten freien Wahlen in der CSR, den Kommunalwahlen in Westböhmen im Mai 1938, erhielt die Partei Henleins 91 Prozent aller deutschen Stimmen.

Einen von denjenigen, die sich sehr darum bemüht hatten, wieder in Deutschland anzukommen, begrüßte der Kanzlerkandidat und »Schirmherr der sudetendeutschen Volksgruppe« in Nürnberg namentlich: Siegfried Zoglmann. Der heute fast 90jährige ist für die Sache der Sudetendeutschen schon lange unterwegs. Zunächst ab 1928 in der sudetendeutschen Jugendbewegung aktiv, führte ihn sein Weg 1934 in die NSDAP. Nach der deutschen Okkupation wurde er Gebietsführer der HJ im »Protektorat Böhmen und Mähren« und trat 1942 als Freiwilliger der Waffen-SS bei.

Nach dem Krieg ging Zoglmann zur FDP, gehörte zu den Gründern des revanchistischen Witikobundes, wechselte als Bundestagsabgeordneter 1970 von den ins sozialdemokratische Fahrwasser geratenen Liberalen zur CSU und ist bis heute im Bundesvorstand der Sudetendeutschen Landsmannschaft - ein wahrhaft würdiger Vertreter derjenigen, die der tschechische Ministerpräsident Milos Zeman als »fünfte Kolonne Hitlers« bezeichnet.

Während sich die sudetendeutschen Vertreter in Deutschland und Österreich heftig über die Rede Zemans in Terezín empörten, erhält der Premierminister in Tschechien viel Unterstützung. So verabschiedete das Prager Parlament am 24. April einstimmig eine Resolution, wonach die rechtlichen Beziehungen, die aus den Benes-Dekreten hervorgingen, »unanzweifelbar, unantastbar und unveränderlich« seien.

Nach der konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) des Parlamentspräsidenten Václav Klaus schwenkten auch die Christdemokraten und die Liberalen auf die Linie der regierenden Sozialdemokraten ein. Ein Ausschuss des Senats in Prag schlug am vergangenen Mittwoch sogar vor, Edward Benes posthum mit dem »Orden des Weißen Löwen« auszuzeichnen. Mit dieser Ehrung sollten die Verdienste des früheren Präsidenten gewürdigt werden, begründete der Sozialdemokrat Miroslav Coufal den Vorschlag.

Der Grund für diese große Koalition ist einfach. Nach einer Umfrage des Soziologischen Instituts der tschechischen Akademie der Wissenschaften votieren nur fünf Prozent der tschechischen Bevölkerung für die Aufhebung der Benes-Dekrete. 60 Prozent sind der Auffassung, die Aussiedlung der Sudetendeutschen sei »gerecht« gewesen. 20 Prozent haben die Meinung, die Vertreibung sei zwar ungerecht gewesen, es müsse jedoch ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden.

Für eine Entschuldigung, wie sie die Berufsvertriebenen und ihre politischen Helfershelfer in Deutschland und Österreich verlangen, sprechen sich fünf Prozent aus, eine Entschädigung befürwortet sogar nur ein Prozent der Tschechen. Dieses Ergebnis hängt offensichtlich auch mit den schrillen revanchistischen Tönen aus der deutschsprachigen Nachbarschaft zusammen. Denn noch vor einem Jahr bezeichneten nur 47 Prozent der Tschechen die Vertreibung als gerecht.

Die konsequente Haltung Zemans scheint sich inzwischen auch für seine sozialdemokratische Partei CSSD bezahlt zu machen. Wurden ihr vor einigen Wochen große Einbrüche bei den Parlamentswahlen Mitte Juni prognostiziert, wird ihr nun sogar nach den neuesten Umfragen mit 33,4 Prozent der Stimmen ein Zugewinn vorausgesagt.

Nach einer repräsentativen Erhebung, die die Agentur CVVM am vergangenen Mittwoch veröffentlichte, rückt der Streit um die Dekrete immer stärker ins Bewusstsein der Tschechen. Für die Mehrheit der Befragten sei die Auseinandersetzung derzeit von größerer Bedeutung als die Folgen der Terrorschläge vom 11. September 2001.

Darin dürfte Stoiber sie mit seiner Rede in Nürnberg bestärkt haben. »Es bleibt festzuhalten. Die Vertreibung der Sudetendeutschen war von Anfang an Unrecht«, tönte der Kanzlerkandidat. Er wusste genau, was er sagte. Seine Forderung, vor dem geplanten EU-Beitritt Tschechiens den Teil der Benes-Dekrete, die die »Vertriebenen« betreffen, »vom Anfang an« für nichtig zu erklären, hätte ganz praktische Konsequenzen.

So könnten die nach 1945 enteigneten und ausgewiesenen damaligen deutschen Staatsbürger der Tschechoslowakei erneut in ihre staatsbürgerlichen und damit in ihre Eigentumsrechte eingesetzt werden. Nicht umsonst gehört es bis heute zu den in der Satzung verankerten Zielen der Sudetendeutschen Landsmannschaft in der Bundesrepublik, »die Rückgabe des konfiszierten Vermögens auf der Basis einer gerechten Entschädigung zu vertreten« und »den Rechtsanspruch auf die Heimat, deren Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht der Volksgruppe durchzusetzen«.

Für solche Begehrlichkeiten, die auch von der blau-schwarzen Regierung in Wien unterstützt werden, fand Milos Zeman in Terezín eine eindeutige Antwort. Jegliche vermögensrechtlichen Forderungen, wie sie immer noch von den Sudetendeutschen erhoben würden, stellten eine Verleugnung der NS-Opfer dar. »Eine Erfüllung solcher Ansprüche wäre gegen das Gedenken jener, die in Theresienstadt starben oder eingesperrt waren.«


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