18.12.2002

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Jungle World

*   Ballast der Republik
Von Pascal Beucker

Weil die Bundesregierung den Sozialstaat nicht noch entschiedener abbauen will, versuchen die Union und die Vertreter der Wirtschaft, den Volkszorn zu wecken.

Es sind sonderbare Zeiten. Fast scheint es, als wollte die Presse in Deutschland die übrig gebliebenen Linken für die rot-grüne Bundesregierung begeistern. Die Republik befinde sich auf dem Weg in den Sozialismus, ist da in sich als seriös verstehenden Blättern zu lesen, ein Hamburger Wochenmagazin bringt gar Bundeskanzler Gerhard Schröder als Arbeiterführer mit roter Fahne auf die Titelseite, und nicht nur rechte Realitätsverdreher wie Arnulf Baring sehen bereits eine westliche »DDR light« entstehen. Stünden solche Thesen nicht so diametral im Gegensatz zur realen Regierungspolitik, man könnte beinahe versucht sein, Sympathien für die rot-grüne Bundesregierung zu entwickeln.

Auf der anderen Seite übt sich die Partei des Kanzlers in einem hilflosen Krisenmanagement, anstatt sich mit der Gelassenheit der Sieger zurückzulehnen und sich über derlei lustige Schlagzeilen zu amüsieren. Als »Kakophonie« bezeichnete Schröder in der vergangenen Woche den aufgeregten Wortschwall aus den eigenen Reihen und sah sich sogar genötigt, Gerüchte über seine angebliche Amtsmüdigkeit zu dementieren. »Wer glaubt, dass er es besser kann, der soll es machen«, soll Schröder auf einer Sitzung des Parteivorstandes in der vorigen Woche gesagt haben. Dummerweise war Edmund Stoiber nicht anwesend. Zwei Tage später versicherte Schröder: »Der Kanzler wird das Schiff nicht verlassen.« Das sinkende?

Das Land und sein sozialdemokratisches Personal scheinen einer kollektiven Depression zu verfallen. Verantwortlich dafür ist aus der Sicht der Bürger die Regierung. Wären am kommenden Sonntag Bundestagswahlen, da sind sich alle Meinungsforschungsinstitute einig, würde die SPD nur 30 Prozent der Stimmen erhalten, während die Union sogar in die Nähe einer absoluten Mehrheit käme. Und zur Zeit deutet wenig darauf hin, dass es für die Sozialdemokraten nicht noch schlimmer kommen könnte. Spöttisch bemerkte die taz: »Schröder auf dem Weg zum Projekt 18.«

Die Mahner, die derzeit den Untergang der Bundesrepublik beschwören, rekrutieren sich nicht nur aus dem Kreis der üblichen Wertkonservativen à la Baring, und ihre Anhänger sind nicht nur Wellenreiter der »Spaßgesellschaft« wie der Stimmenimitator Elmar Brandt. Es sind auch nicht nur die schlechten Verlierer der Union, die sich in ihren Träumen bereits im Kanzleramt eingerichtet hatten und bis heute nicht darüber hinweggekommen sind, dass die Wähler es wagten, anders abzustimmen.

Die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss »Wahlbetrug«, der Vergleich des Wahlsieges der SPD am 22. September mit den Erfolgen der Nationalsozialisten in den frühen dreißiger Jahren, den der CSU-Generalsekretär Thomas Goppel zog, und die anderen hysterischen Ausfälle der Opposition zeigen, dass ähnlich wie im Jahr 1969 die Konservativen ihre Niederlage für eine nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit halten, die nur durch Manipulation und Betrug zustande gekommen sein kann und gegen die es mit allen Mitteln den Volkszorn zu wecken gilt.

Hierfür wird das Bild einer verwüsteten Republik gezeichnet. Friedrich Merz, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, warnt: »Es ist wirklich Alarmstufe Rot in Deutschland, und wenn diese Politik so weitergeht, dann werden wir nicht nur die Marktwirtschaft gefährden, sondern auch den demokratischen Zusammenhalt in unserem Land.«

Ein derart skurriler Alarmismus würde ins Leere laufen, hätte die Union nicht starke Verbündete. Schröder musste schon im Wahlkampf erleben, was es heißt, die Gunst derjenigen zu verlieren, die ihn noch 1998 unterstützten, weil sie der CDU Zeit zur Regeneration gönnen wollten und sich von dem »Genossen der Bosse« die »Modernisierungen« versprachen, die sie Helmut Kohl nicht mehr zutrauten. Einer der Gründe für das derzeit hilflos wirkende Handeln Schröders dürfte sein, dass er bis heute nicht verstanden hat, warum er bei ihnen in Ungnade gefallen ist, obwohl er sich doch alle Mühe gab und gibt, ihren Anforderungen gerecht zu werden.

Selbst der Unternehmensberater Roland Berger, dem Schröder noch 1998 das Amt des Wirtschaftsministers anbot, stimmt in den vielstimmigen Chor ein. Auf einer Veranstaltung der Ludwig-Erhard-Stiftung warf er der Regierung vor, sie betreibe »Enteignungen« und wolle die Republik »sozialistischer« machen.

Dabei erinnert das Klagelied der Wirtschaftsvertreter, der Unternehmensmanager sowie ihrer professoralen und journalistischen Helfer an das, was sie noch vor ein paar Jahren der schwarz-gelben Regierung ankreideten. Sie beklagen die Lähmung und den Reformstau und wollen doch nur, dass der Sozialstaat endlich mit der aus ihrer Sicht nötigen Brutalität demontiert wird.

Jedes Vorhaben der Regierung, das auf ihre Kosten gehen könnte, verurteilen sie als Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und bezichtigen gleichzeitig die Regierung der Handlungsunfähigkeit. Die Rezepte, die konservative Politiker, die Unternehmerlobby und ihre journalistischen Fürsprecher empfehlen, sind dabei stets jene, die bereits in anderen Ländern zur Verelendung geführt haben.

So mutet es absurd an, wenn der Herausgeber der europäischen Ausgabe des britischen Wirtschaftsmagazins The Economist, Xan Smiley, Anfang Dezember bei der Vorstellung seiner Deutschlandanalyse mit dem Titel »Der unsichere Riese« in Berlin einerseits feststellte, er schätze an der Bundesrepublik, dass sie eine solide Demokratie sei, eine exzellente Infrastruktur und einen großzügigen Wohlfahrtsstaat habe. In Deutschland sei Armut »viel weniger sichtbar als bei uns in Großbritannien oder in Frankreich«, lobte Smiley, um dann andererseits genau darin das Problem zu erkennen. Denn auch wenn hierzulande alle jammerten, sei das Leid noch nicht groß genug, als dass eine Mehrheit der Bundesbürger für »echte Reformen« einträte.

Die Steuern in Deutschland seien zu hoch, die Arbeitskosten auch, die ausländischen Investitionen zu niedrig, die Gewerkschaften zu stark und der Markt sei im Übermaß reguliert, meint Smiley. Zudem sei es unverantwortlich, den Menschen vorzumachen, soziale Sicherheit und Wohlstand könnten weiter finanziert werden wie bisher.

Nicht weniger zynisch fabuliert ein ehemaliger Kommunist und Chefredakteur der Roten Blätter der Studentenvereinigung MSB Spartakus der DKP, der es inzwischen zum Chefredakteur des »liberalen« Kölner Stadt-Anzeigers gebracht hat: »Notwendig wäre ein politischer und gesellschaftlicher Aufbruch, wie ihn Willy Brandt einst wagte.« Und so stellt Franz Sommerfeld sich den »Aufbruch« vor: »Heutzutage steckt der Muff - anders als in den sechziger Jahren - nicht unter den Talaren, sondern in den Anzügen und Freizeithemden derjenigen, die den Status und die Rechte der Arbeitsplatzbesitzer gegen jede Veränderung zu verteidigen suchen.«

Und Lothar Gries brachte es kürzlich im Wirtschaftsteil der Süddeutschen auf den Punkt: »Gleichzeitig ist die derzeitige Notlage auch eine Chance, unnötigen Ballast abzuwerfen, um dann gestärkt aus der Krise hervorzugehen.« Der unnötige Ballast sind die Arbeitnehmer. Und neuerdings auch die rot-grüne Regierung.


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