10.07.2003

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taz

*   Möllemanns Tod plötzlich ein Rätsel 
Von Pascal Beucker

Die Staatsanwaltschaft Essen schreibt die Geschichte des Jahres 2003 um: Während Öffentlichkeit, Familie und Parteifreunde bisher von einem Suizid des Politikers ausgingen, sagen die Ermittler: "Die Frage Unfall oder Freitod bleibt offen für immer."

Die Staatsanwaltschaft Essen hat die bisher verbreitete Annahme stark relativiert, Jürgen Möllemann sei aus freien Stücken in den Tod gesprungen. Nach Abschluss der Ermittlungen zum Fallschirmsprung des Ex-FDP-Politikers erklärte der Oberstaatsanwalt Wolfgang Reinicke gestern: "Wenn sich nicht noch ein Abschiedsbrief findet, bleibt die Frage Unfall oder Freitod offen für immer." Nur Fremdverschulden schließen die Ermittler aus. Die Obduktion hatte ergeben, dass Möllemann nicht unter Einfluss von Tabletten, Drogen oder Alkohol stand.

Auf einer Pressekonferenz in Recklinghausen stellte Reinicke das Ergebnis des "Todesermittlungsverfahrens zum Nachteil Jürgen W. Möllemann" vor - und lehnte einen eindeutigen Befund ab. Selbst ob Unfall oder Freitod für die Staatsanwaltschaft wahrscheinlicher ist, lässt er offen: "Wir sind keine Mathematiker."

Ein erstaunliches Resultat bei einem Vorfall, der nach Angaben der Ermittler "völlig lückenlos" hat rekonstruiert werden können. So wissen die Ermittler jetzt, dass Möllemann nicht um 12.38 Uhr, sondern bereits um 12.36 Uhr mit einer Fallgeschwindigkeit von 180 bis 200 km/h auf dem Boden aufschlug. Zuvor hatte der Politiker seinen Hauptfallschirm selber in einer Höhe von etwa 1.000 Meter durch Abziehen des "Trennkissens" gelöst und abgeworfen. Im freien Fall nahm er dann die "X-Position" ein, die stabile Freifallhaltung, die er bis zum Aufprall beibehielt. Auch war das Cypres-Sicherheitssystem, das spätestens in 225 Meter Höhe den Reserveschirm automatisch öffnet, nicht eingeschaltet, und Möllemann unternahm keinen Versuch, den Ersatzfallschirm manuell zu öffnen - "obwohl dies technisch möglich gewesen wäre", wie ein hinzugezogener Sachverständiger der GSG 9 feststellte.

Alles das spräche eigentlich für eine Selbsttötung. "Dennoch ist laut Gutachter ein Unglück nicht vollständig auszuschließen", sagte Reinicke. So habe Möllemann möglicherweise das Einschalten des per vierfachem Tastendruck zu aktivierende Sicherungssystems schlicht vergessen, weil er in Gedanken zu sehr mit den laufenden Durchsuchungen der Staatsanwaltschaft in seinen Büro- und Privaträumen beschäftigt war. "Es wird in seinem Kopf eine Menge vorgegangen sein", so Reinicke. Nach Angaben des Sachverständigen ließen manche Springer das System auch bewusst abgeschaltet, um nicht als "Weicheier" zu gelten.

Auch für die Tatsache, dass Möllemann seinen Hauptschirm abgeworfen hatte, gebe es eine denkbare Erklärung: Manche Fallschirmspringer dächten, wenn sie in Turbulenzen gerieten, der Hauptschirm sei defekt. Ebenso wenig spreche der Umstand, dass Möllemann in der so genannten X-Haltung aufschlug, bei der der Springer Beine und Arme für einen stabilen Flug wegstreckt, zwingend für einen Suizid. Springer könnten bei einem freien Fall auf Grund einer "Wahrnehmungseinengung" und "Verkrampfung" bis zum Aufschlag "in eine Art Starre verfallen". Das könnte auch der Grund sein, warum der 57-Jährige den Reserveschirms nicht manuell aktivierte.

Allerdings musste der Oberstaatsanwalt einräumen, dass ihm kein Fall bekannt ist, in dem alle von ihm aufgezeigten Möglichkeiten zusammen eingetreten sind.


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