Allein in Köln
haben über 300 Sozialdemokraten in den letzten sechs Monaten der SPD
den Rücken gekehrt. SPD-Chef Ott erklärt die Austrittswelle mit
"Enttäuschung einer politischen Generation".
Sie wollten
mit Willy Brandt "mehr Demokratie wagen". Sie überstanden
die bleiernen Jahre unter Helmut Schmidt und auch die lange düstere
Zeit sozialdemokratischer Opposition während der Kohl-Ära. Doch
Gerhard Schröders Politik verkraften sie nicht mehr: Immer mehr
Genossen, die in den 1970er Jahren hoffnungsfroh eingetreten sind,
kehren frustriert der SPD den Rücken. Sie stellen den Großteil der
über 300 Sozialdemokraten, die im vergangenen halben Jahr alleine in
Köln die SPD wegen der umstrittenen rot-grünen Sozialreformen
verlassen haben. Die meisten von ihnen verabschiedeten sich in den
letzten Wochen. "Das ist die Enttäuschung einer politischen
Generation", kommentiert Kölns SPD-Chef Jochen Ott den Aderlass.
Seine Erklärung:
"Diejenigen, die sich zu Zeiten Willy Brandts und Helmut Schmidts
für die SPD entschieden haben, hatten ein anderes Politikverständnis."
Es sei ihnen darum gegangen, "allen Menschen Chancen zu eröffnen,
sie auch finanziell zu fördern und Projekte zu starten." Für
den 29-jährigen Ott ist das allerdings keine zeitgemäße
Einstellung. In den Zeiten der Globalisierung und einer schwierigen
Lage der öffentlichen Kassen gehe es nur noch darum, "möglichst
sozial gerecht zu sparen".
Auch der Kölner
Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich sieht keine Alternative zum Schröder-Kurs:
"Wir müssen klar machen, dass soziale Einschnitte nötig
sind." Doch der Parteilinke, SPD-Mitglied seit 1976, muss
zugeben, dass er damit nicht einmal in seinem Freundeskreis wirklich
überzeugend wirkt. "Ich kenne alleine sechs langjährige Weggefährten,
die ihr Parteibuch zurück gegeben haben", berichtet Mützenich:
"Das tut weh, denn mit diesen Leuten bin ich in der Partei groß
geworden." Das sei "so ähnlich wie zu der Zeit, als viele
SPD-Mitglieder zu den Grünen abwanderten". Aber er gibt sich
optimistisch: "Ich sehe heute keine parteipolitische Alternative
für diesen Kreis. Deshalb will ich die Hoffnung nicht aufgeben, das
sie für die SPD noch nicht verloren sind."
Wenn er da
mal nicht vergeblich hofft. Die Tendenz jedenfalls ist gegenläufig.
"Mit einer Partei, in der Schröder prinzipienlos durch die Welt
tapert, will ich nichts zu tun haben", sagt ein hochrangiges Kölner
SPD-Mitglied. Er möchte noch nicht namentlich genannt werden, da er
zunächst "mit meinen Kumpels" über seine Austrittspläne
sprechen will: "Nennen Sie mich ein ,ungenanntes
Noch-Mitglied'."
Ebenfalls
einer von denen, die in den 70er-Jahren in die SPD eingetreten sind,
ist der heutige DGB-Chef im Rheinland, Wolfgang Uellenberg-van Dawen.
Er will allerdings vorerst noch tapfer dabei bleiben: "Ich werde
doch wegen solcher Dünnbrettbohrer wie Wolfgang Clement und Gerhard
Schröder nicht aus der Partei austreten, die von August Bebel gegründet
und von Willy Brandt in ihren wesentlichen Strukturen geprägt wurde.
Das sind doch nur vorübergehende Zeitgeistschwimmer."
Allerdings
befürchtet Uellenberg einen dramatischen Desintegrationsprozess
seitens der SPD in der Arbeitnehmerschaft, der für die Demokratie gefährlich
sei. Bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zum Beispiel hätten
viele Funktionäre angekündigt, wenn die Tarifautonomie in Frage
gestellt werde, würden "die SPD-Parteibücher nur so
fliegen". Doch ob seine Warnungen fruchten, da ist er skeptisch:
"Es gibt zu viele Jungpolitiker und so genannte Netzwerker, die
gebannt nach oben schauen", so Uellenberg zur taz. Die SPD müsse
wieder für soziale Gerechtigkeit kämpfen, meint Uellenberg:
"Macht sie das nicht, gibt es sie bald nicht mehr."
Die Zahlen
jedenfalls sind verheerend: Nach Angaben der SPD-Bundesgeschäftsstelle
in Berlin verließen bundesweit in den vergangenen Monaten rund 30.000
Mitglieder die Partei - und ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht.
Die Partei sei auf den Reformprozess nicht genügend vorbereitet
gewesen, kommentiert SPD-Urgestein Hans-Jürgen Wischnewski den Abwärtstrend.
Aber: "Die Zahl derjenigen, die wissen, dass die Reformen
unverzichtbar sind, nimmt zu", sagt der Kölner SPD-Chef der
Jahre 1957 bis 1968.
Neben den unzähligen
Austritten droht der Kölner SPD allerdings jetzt noch zusätzliches
Übel: von der Landespartei. Die Zuschüsse für die
Unterbezirksarbeit sollen für das kommende Jahr von 204.000 auf
54.000 Euro zusammen gestrichen werden - ausgerechnet in dem Jahr, wo
die kölschen Sozis bei der Kommunalwahl die Macht im Rathaus zurückholen
wollen. "Natürlich belastet uns das, der Neuanfang kostet schließlich
Geld", erklärte Ott der taz. "Aber wir sind zuversichtlich,
bei Beratungen mit der Landespartei noch eine gute Lösung zu
finden." Auf "Danke-Schön-Spenden" können die
Domstadt-Genossen schließlich inzwischen nicht mehr zurückgreifen. |