13.10.2004

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Jungle World

*   Europas Türsteher
Von Pascal Beucker

Wirtschaftskontakte pflegen, aber das Abendland vor den Osmanen schützen wollen: Die Empfehlung zu EU-Beitrittsgesprächen mit der Türkei bringt die Konservativen in ein Dilemma.

Für die einen ist es nur eine Empfehlung, für die anderen der Beginn des Untergangs des Abendlands im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen: Der Vorschlag der EU-Kommission vom Mittwoch vergangener Woche, mit der Türkei über einen Beitritt zur Europäischen Union zu verhandeln, sorgt für Aufregung. In der CDU wird inzwischen sogar laut darüber nachgedacht, das christliche Volksempfinden per Unterschriftenaktion gegen die islamische Gefahr in Stellung zu bringen.

Nein, er habe nichts gegen Türken, gab der Landesgruppenchef der CSU im Bundestag, Michael Glos, als Erster zu Protokoll. Aber der EU-Beitritt der Türkei wäre nun mal »eine Schicksalsfrage für unser Land«. Denn die Türkei liege »außerhalb Europas« und passe »nicht in unseren Kulturkreis«. Daher könne er sich »gut vorstellen, dass wir als Opposition eine Unterschriftenaktion gegen den EU-Beitritt der Türkei organisieren, um den Menschen die Gelegenheit zu geben, der Regierung ihre große Besorgnis mitzuteilen«.

Bemüht, sich nicht noch mehr Ärger einzuhandeln, versuchte es die Vorsitzende der CDU, Angela Merkel, am Sonntag mit einem schlechten Kompromiss: »Ich glaube, dass man durchaus überlegen kann, eine Unterschriftenaktion für eine privilegierte Partnerschaft und gegen eine Vollmitgliedschaft zu machen.« Vorbild könne die Unterschriftenaktion sein, die vor einigen Jahren die hessische CDU gegen die Pläne der Bundesregierung zur doppelten Staatsbürgerschaft gestartet hatte.

Der Vorschlag, per Plebiszit gegen einen EU-Beitritt der Türkei Front zu machen, war bereits im Jahr 2002 Teil einer wüsten Kampfschrift des früher als besonnen geltenden Historikers Hans-Ulrich Wehler in der Zeit: »Auch wer die repräsentative Demokratie gegen basisdemokratische Schwarmgeister verteidigt, wird angesichts der herannahenden Grundsatzentscheidung sogar eine Volksabstimmung für angebracht halten.« Eines seiner Argumente gegen die türkische EU-Mitgliedschaft: »Das muslimische Osmanenreich hat rund 450 Jahre lang gegen das christliche Europa nahezu unablässig Krieg geführt; einmal standen seine Heere sogar vor den Toren Wiens.« Das sei im Kollektivgedächtnis der europäischen Völker, aber auch der Türken tief verankert. »Es spricht darum nichts dafür, eine solche Inkarnation der Gegnerschaft in die EU aufzunehmen«, schrieb Wehler.

Dem würde Angela Merkel vermutlich zustimmen, ohne die wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei beeinträchtigen zu wollen. Auch wäre es günstig, sich nicht dem Vorwurf der Türkeifeindlichkeit auszusetzen und die eingebürgerten Türken nicht zu verschrecken. Deshalb heißt ihre Abwehrstrategie »privilegierte Partnerschaft« – eine Camouflage, um dennoch gegen den EU-Beitritt der Türkei mobil machen zu können.

Je knapper die Wahlergebnisse, desto wichtiger werden auch die Stimmen der Einwanderer. Immerhin machen die Wähler türkischer Abstammung derzeit bereits geschätzte 300 000 aus, mit steigender Tendenz. So hätte die Union bei der vergangenen Bundestagswahl, »bei einem besseren Abschneiden in dieser Gruppe, stärkste Partei werden können«, analysierte kürzlich die Konrad-Adenauer-Stiftung. Aber von den wahlberechtigten Türken sollen nur neun bis 14 Prozent für die Union gestimmt haben, etwa 60 Prozent jedoch für die SPD. Vor dem Hintergrund des sich nun tatsächlich abzeichnenden Beginns der Beitrittsverhandlungen treten indes bei der Union rhetorische Verrenkungen zurück hinter immer schrilleren Tönen.

Es ist schon bemerkenswert: Inzwischen ist es über 40 Jahre her, dass die Türkei und die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ihr Assoziierungsabkommen unterzeichneten, das Ankara eine spätere Vollmitgliedschaft in Aussicht stellte. Bereits 1987 beantragte die Türkei erstmalig die Aufnahme in die EG. Zwar wurde damals der Antrag als »derzeit nicht zweckmäßig« abgelehnt, doch seitdem gab es im Europäischen Rat immer wieder Beschlüsse, die eine Beitrittskandidatur in Aussicht stellten.

Aber offensichtlich hat wohl niemand in der Europäischen Union und insbesondere in der Bundesrepublik ernsthaft damit gerechnet, dass die Türkei wirklich einmal die Kriterien für Aufnahmeverhandlungen erfüllen würde. Anscheinend haben europäische Politiker nur deshalb immer wieder türkische Schultern geklopft und vollmundig den Beitritt versprochen, weil dieser aus ihrer Sicht nie wirklich bevorstand – weil doch jedes europäische Kind weiß, dass die Türkei nicht zu »uns« gehört und niemals gehören wird. Oder wie es der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1997 in vertraulicher Runde formulierte: Es sei ihm »aus dem Erdkundeunterricht nicht bekannt, dass Anatolien ein Teil Europas ist«. Offiziell verkündete Kohl damals indes, er sehe eine »Beitrittsperspektive zu gegebener Zeit«. Die Bundesregierung unterstütze »das Ziel einer späteren Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union«.

Nun wollen die 25 Staats- und Regierungschefs der EU bei einem Gipfeltreffen Mitte Dezember die endgültige Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen fällen. Dazu schlug die Europäische Kommission eine Reihe von Bedingungen vor, die es bei Beitrittsverhandlungen mit anderen Ländern bisher nicht gegeben hat. »Wir sagen Ja, aber nur unter klaren Bedingungen«, erläuterte Kommissionspräsident Romano Prodi den Beschluss. Auch wenn Ankara auf dem Weg zur freiheitlichen Demokratie und zur Rechtstaatlichkeit große Fortschritte gemacht habe, »bleibt aber noch viel zu tun«. »Wie ein Beitrittsvertrag mit der Türkei letztlich aussehen würde, ist völlig offen«, konstatiert auch der zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen. »Der Angst vor ungesteuerter Zuwanderung kann leicht dadurch begegnet werden, dass die Mitgliedsländer das Recht behalten, die Zuwanderung aus der Türkei auch nach dem Beitritt jederzeit regulieren zu dürfen«, erläuterte der Sozialdemokrat in der Zeit. Auch bei den Kosten gäbe es keine Automatik: »Im Beitrittsvertrag können für die großen Kostenblöcke – Landwirtschaft und Strukturfonds – spezifische Regelungen vorgesehen werden, die den Netto-Transfer aus dem Gemeinschaftshaushalt in die Türkei begrenzen.« Die Türkei werde »keinen Euro mehr kosten, als die EU-Mitglieder für dieses Projekt zahlen können und wollen«.

Schließlich sollen die Gespräche mit einer Art Ausstiegsklausel versehen werden: Auf Beschluss der Staats- und Regierungschefs können sie ausgesetzt werden, wenn die Reformen in der Türkei ins Stocken geraten.

Egal, wie die Verhandlungen ausgehen: Verdient werden kann daran schon jetzt. Freudig verkündete die grüne Europaparlamentarierin Angelika Beer: »Mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen werden die bisherigen Beschränkungen im Rüstungsbereich aufgehoben werden.« Nach einem Bericht des Handelsblatts wird sich auch das Auswärtige Amt nicht länger gegen Rüstungsexporte in das Land sperren. Es heiße, Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erwarte von Außenminister Joschka Fischer (Grüne) entsprechende Schritte im Bundessicherheitsrat, der über Rüstungsexporte entscheidet.


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