23.03.2005

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Jungle World

*   Von Kiel nach Düsseldorf
Von Pascal Beucker

Nach dem Debakel in Schleswig-Holstein droht dem rot-grünen Bündnis ein Desaster in Nordrhein-Westfalen.

Die Wahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen versuchten Gelassenheit zu demonstrieren. Nein, es sei »nicht so, dass quasi jeder Sack Reis, der irgendwo in der Bundesrepublik umfällt, uns in Nordrhein-Westfalen auf die Füße fällt«, spielte der Landesvorsitzende der SPD, Harald Schartau, die Sensation im Kieler Landtag herunter. »Als Rückenwind für Rot-Grün in Düsseldorf sehe ich die Vorgänge nun wirklich nicht«, räumte immerhin Landesbauminister Michael Vesper vom grünen Koalitionspartner ein. Aber vielleicht könne es ja bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 22. Mai »auch zu einer Gegenbewegung kommen«. Das klang nach einer fatalistischen Durchhalteparole.

Es herrscht Untergangsstimmung bei den rot-grünen Koalitionären in Düsseldorf. Hatten die hohen Arbeitslosenzahlen und die Visa-Affäre ohnehin schon kräftig die Umfragewerte beeinträchtigt und die Stimmung getrübt, so glaubt inzwischen kaum jemand an ein Happy End. Mit dem Scheitern von Heide Simonis am vergangenen Donnerstag dürfte nicht nur die politische Karriere der bislang einzigen Ministerpräsidentin in der Bundesrepublik beendet sein. Nach dem »Schiffbruch an der Förde« (FAZ) steht auch die von SPD und Grünen gebildete nordrhein-westfälische Landesregierung in Frage.

Die CDU verteilte in Düsseldorf am vergangenen Freitag frohgelaunt ein Papier mit dem Zitat eines Mitarbeiters des Bundeskanzleramts aus der Zeit: »Wir sind uns bewusst, dass Nordrhein-Westfalen aus eigener Kraft nicht mehr gewinnen kann.« Einzig die kleine Hoffnung auf ein überraschendes Scheitern der FDP an der Fünfprozenthürde ist den Koalitionären noch geblieben. Allerdings stehen auch dafür die Zeichen schlecht. Die Liberalen verharren in den Umfragen stabil bei sieben Prozent.

Fiele nach Schleswig-Holstein auch noch NRW an die CDU, dann würde die SPD in keinem Bundesland mehr mit den Grünen regieren, aber in dreien mit der CDU, in zweien mit der PDS und in einem mit der FDP. In diesem Fall dürfte es auch für die Bundesregierung schwierig werden. Ein einzelner Abgeordneter aus dem hohen Norden könnte tatsächlich Geschichte gemacht haben – noch dazu einer, der so bescheiden ist, dass er seinen Namen nicht nennen will.

Auch in der Woche nach dem »Waterloo an der Waterkant« (Süddeutsche Zeitung) wird in Kiel weiter heftig über die Frage gerätselt, wer der Übeltäter gewesen sein könnte. Viele in der SPD, bei den Grünen und im Südschleswigschen Wählerverband (SSW) gehen davon aus, dass der Anonymus, der Simonis die Schmach von vier misslungenen Wahlgängen bescherte, aus den Reihen der 29 sozialdemokratischen Parlamentarier stammt. Das ist plausibel, denn immerhin hätten alle vier grünen Abgeordneten von der angestrebten rot-grünen Minderheitsregierung auch ganz persönlich profitiert. Zwei von ihnen wären wieder Minister geworden, einer Fraktionsvorsitzender und einer parlamentarischer Geschäftsführer. Und warum hätten sich die beiden Abgeordneten des SSW jener bis zu Morddrohungen reichenden Stimmung aussetzen sollen, um dann nicht für Simonis zu votieren?

Was aber könnte das Motiv eines oder einer SPD-Abgeordneten für den »schäbigen und charakterlosen Verrat« gewesen sein, wie es der selbst in Verdacht geratene sozialdemokratische Finanzminister Ralf Stegner in einem offenen Brief »an die/den Abgeordnete/n, die/ der alleine (?) weiß, an wen dies adressiert ist«, formulierte? Die meisten politischen Kommentatoren vermuten, der oder die abtrünnige Unbekannte habe mit dem Sturz von Simonis den Weg für die große Koalition von CDU und SPD ebnen wollen. Gut möglich, trafen sich doch bereits vor zwei Jahren Abgeordnete der SPD ohne das Wissen Simonis’ mit Kollegen von der CDU, um bei einem Spargelessen ihren Frust über die Grünen loszuwerden und über eine große Koalition zu philosophieren.

Ebenso denkbar sind jedoch auch die Varianten, über die Stegner spekuliert. Die Wahlenthaltung könne »aus egozentrischer Geltungssucht, feiger – weil nicht erklärter – persönlicher Rache oder als Gegenleistung gegenüber einem unbekannten Dritten – sei es aus politischen oder materiellen Motiven« erfolgt sein. Selbstverständlich erklärte der christdemokratische Landesvorsitzende und wohl zukünftige Ministerpräsident Peter Harry Carstensen im Tagesspiegel umgehend: »Für die CDU gilt: Wir überreden keine Abgeordneten, wir kaufen keine Abgeordneten, wir üben keinen Druck auf Abgeordnete aus. Wer so etwas behauptet, will von eigenen Problemen ablenken.«

Dabei würde seine Partei doch nur an eine gute, alte Tradition der Christdemokraten an der Küste anknüpfen. Welchen Hintergrund das etwas eigenwillige Wahlverhalten jenes Mannes oder jener Frau tatsächlich hat, der oder die bei der geheimen Probeabstimmung in der SPD-Fraktion für Simonis stimmte, um sie dann im Landtag ins Messer laufen zu lassen, wird sich so schnell nicht aufklären lassen. »Gegen offene Messer zu kämpfen, ist nicht leicht, aber in der Politik manchmal notwendig. Gegen einen hinterhältigen Dolchstoß jedoch gibt es keine Abwehrmöglichkeiten«, sagte Simonis in ihrer Abschiedserklärung am Freitag.

Jedenfalls endet mit dem spektakulären Abgang der 61jährigen früheren Parteilinken eine kleine Ära. Im Mai 1988 gelang es der SPD erstmalig nach fast 40 Jahren ununterbrochener christdemokratischer Herrschaft, die als uneinnehmbar geltende konservative Hochburg Schleswig-Holstein einzunehmen. Und es sah alles danach aus, als würde sie sehr lange dort regieren können. Denn immerhin verdankte der damalige Spitzenkandidat der SPD, Björn Engholm, seinen Wahlerfolg einem der größten Politskandale der Republik, den der Spiegel nicht unpassend als »Waterkantgate« bezeichnete. Die Aufdeckung der kriminellen Machenschaften, mit denen Ministerpräsident Uwe Barschel (CDU) die Landtagswahl 1987 hatte gewinnen wollen, schien seine Partei dauerhaft in den Abgrund gerissen und die SPD nach oben gebracht zu haben. In rund 17 Jahren haben Engholm und Simonis, die ihm 1993 als Ministerpräsidentin folgte, ihre Partei von knapp 55 Prozent der Stimmen auf 38,7 Prozent und nunmehr auch noch zum Juniorpartner der CDU heruntergewirtschaftet.

Erstaunlich ist allerdings, dass die Erinnerung an jene Vorgänge Ende der achtziger Jahre mittlerweile derartig verblasst ist, dass sie in der Berichterstattung über die politischen Entwicklungen seit der Landtagswahl am 20. Februar so gut wie nicht auftauchten, obwohl sich zumindest mit Blick auf die Rolle des Südschleswigschen Wählerverbandes erstaunliche Ähnlichkeiten feststellen lassen. Denn auch damals war der mit nur einem einzigen Abgeordneten im Parlament vertretene SSW das Zünglein an der Waage. Die Stimme Karl-Otto Meyers führte zu einem Patt im Parlament, verhinderte 1987 die Wiederwahl Barschels und sorgte dafür, dass »Waterkantgate« aufgeklärt werden konnte. Auch damals tobte der christdemokratische und liberale Block angesichts der Unverfrorenheit des SSW, sich nicht einfach neutral zu verhalten, und auch Meyer erhielt anonyme Morddrohungen.


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