06.12.2007

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Jungle World

*   Citoyens in den besten Jahren
Von Pascal Beucker

Die Grünen sind die Partei des Ökoliberalismus. Sie scheren sich zwar kein bisschen um das Wohlbefinden des so genannten Prekariats, wollen aber auch nicht als Unmenschen dastehen.

Noch einmal stand er im Rampenlicht, noch einmal hatte er seinen großen Auftritt. Die 27. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz in Nürnberg war zugleich die letzte für Oswald Metzger. Nur zwei Tage später erklärte der baden-würt­tem­bergische Landtagsabgeordnete erwartungsgemäß seinen Austritt aus der Partei der Grünen.

Er sei ein »Überzeugungstäter«, schrieb der 52jährige Wirtschaftsliberale zum Abschied. Deshalb könne er nicht länger »die Grünen im bürgerlich-liberalen Lager wählbar halten, wenn diese Partei das unfinanzierbare Wolkenkuckucksheim zum Programm-Maßstab erhebt«. Einen aus seiner Sicht fatalen Schwenk nach links will der »Berater« der von Arbeitgeberverbänden finanzierten »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« bei den Grünen ausgemacht haben. Eine Auffassung, die zwar skurril ist, aber mit der Metzger durchaus nicht alleine dasteht.

Als der Oberschwabe vor 21 Jahren Mitglied der Grünen wurde, da warb die Partei noch mit vier Begriffen für sich, mit denen sich zugleich ihr Gründungskonsens umschreiben ließ: ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei. Bereits in den Jahren der Vorbereitung auf die Regierungsbeteiligung in Berlin begannen diese Grundsätze an Bedeutung zu verlieren. Nach dem beendeten rot-grünen Feldversuch standen sie nur noch als leere Worthülsen da. Auf den vergangenen beiden Parteitagen in Göttingen und Nürnberg hat die Partei ihre friedens- und sozialpolitischen Überreste ein bisschen bunt bemalt. Wie bei der SPD ist der angebliche »Linksschwenk« der Partei vor allem ein kosmetischer – den zweckoptimistischen Jubelchören der Parteilinken zum Trotz.

Auf der Göttinger Sonderdelegiertenkonferenz hatte die grüne Basis ihrer Parteiführung mit dem Votum gegen einen immer weiter reichenden Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan eine Schlappe zugefügt – und gleichzeitig einen ihr ebenfalls zur Abstimmung vorgelegten pazifistischen Antrag abgelehnt. In Nürnberg gelang es der gleichen Parteiführung mit einem gehörigen Kraftakt und einigen taktischen Finessen, sich einen etwas sozialeren, aber bloß nicht zu radikalen Anstrich zu verpassen. Konkret bedeutet das verabschiedete Modell einer »Grundsicherung« nichts weiter als eine Aufhübschung von Hartz IV. Ein bisschen mehr Geld soll’s geben und etwas weniger Sanktionen, dazu noch ein paar Milliarden Euro für ein staatliches Bildungsprogramm. Ein Bundeskongress der Jusos hätte es nicht besser beschließen können.

Für die interessantere Variante, ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, reichte der Mut der Grünen nicht aus. Es ist ein Grundsatzstreit: Was soll im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen – die Erwerbsarbeit oder der selbstbestimmte Mensch? Die Diskussion der Grünen darum ist beinahe so alt wie die Partei selbst.

Damals, in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, waren es noch zuvorderst »Ökolibertäre« wie der heutige Chefredakteur der Welt, Thomas Schmid, die für die Selbstbestimmung stritten. Inzwischen finden sich Befürworter und Gegner in allen Flügeln. Ein traditionell konservativer Landesverband wie der baden-württembergische tritt ebenso dafür ein wie die Parteilinken Hans-Christian Ströbele und Robert Zion. Die Idee ist inzwischen weit über die Grünen hinaus populär. Wenn sich auch die jeweiligen Konzepte unterschieden, so träfen sich beim Grundeinkommen »konservative Sozialromantiker und utopische Sozialisten«, schreibt die Zeit. Jedenfalls tritt Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) ebenso dafür ein wie der Unternehmer Götz Werner oder Katja Kipping von der Partei »Die Linke«. Die grüne Führung sprach sich in Nürnberg hingegen für das Modell der »Grundsicherung« aus, bedeutete doch das Eintreten für ein Grundeinkommen in den Augen der Grünen eine zu radikale Veränderung der Sozialsysteme. Reinhard Bütikofer, Claudia Roth, Renate Künast, Fritz Kuhn und Jürgen Trittin, die um das machtpolitische Erbe Joschka Fischers konkurrieren, liegt jedoch nichts ferner.

Seit ihrem Annus horribilis 2005 befinden sich die Grünen in einem merkwürdig indifferenten Zustand. Mehr schlecht als recht mühen sie sich mit der so ungeliebten Rolle als Oppositionspartei ab, sehen sich lieber als Regierungspartei im Wartestand. Nicht wenigen grünen Bundestagsabgeordneten scheint kaum etwas wichtiger zu sein, als tunlichst jeden vom politischen Mainstream abweichenden Gedanken zu vermeiden, denn der könnte ja eine künftige Regierungsbeteiligung in den Augen von Sozial- oder auch Christdemokraten in Frage stellen. »Wer jedoch in der ›Mitte der Gesellschaft‹ brav in politischer Profillosigkeit versinken, wer sich die hart errungene ›Regierungsfähigkeit‹ von den anderen Parteien nur noch bestätigen lassen will, der verliert seine Regierungswürdigkeit«, sagte Robert Zion, der »Basisheld von Göttingen«.

Als »pomadig« beschreibt der Parteienforscher Franz Walter die Partei. Gerade die Grünen verkörperten »in ihrem chronisch verdrucksten öffentlichen Auftritt« den geleeartigen Zustand der Opposition. Einst hätte sich die frühere Partei der Petra Kellys und Jutta Ditfurths »stets ein Stückchen zu aufgeregt, zu überdreht, zu schrill« präsentiert, heute hingegen wirke sie nur noch »wie eine veritable politische Schlaftablette«. Und auf den Bildschirmen seien »lediglich die immergleichen pausbäckigen Gesichter eines bemerkenswert saturiert daherkommenden Politzirkels« zu sehen.

Trotz allem zeigt sich die rund 45 000 Mitglieder starke Partei in den Umfragen erstaunlich erfolgreich und könnte derzeit bei einer Bundestagswahl sogar mit einem noch besseren Abschneiden als vor zweieinhalb Jahren rechnen. Walter bietet dafür zwei Erklärungen an. Erstens: Auch wenn die grüne Partei im Osten der Republik nach wie vor große Probleme habe, so werde sie im Westen »von einer durch die 68er-Zeit sehr stark geprägten linkslibertären Kultur-Bourgeoisie getragen«. Die Wähler der Grünen »genießen Rheingau-Riesling und gehen in exquisite Kinofilme«, und mit dem in der rot-grünen Ära als »Reformpolitik« bezeichneten Sozialabbau hätten sie »eigentlich keine Probleme«. Zweitens seien es im weiten Sinne ökologische Imperative und Kodizes, die derzeit die Gemüter in den neu-bürgerlichen Kreisen bewegten. Unverkennbar sei, dass mehr und mehr besser gestellte Bürger von den Themen Gesundheit, Klimawandel und Ernährung umgetrieben würden. In diesen Dingen würden gerade Angehörige der Mittelschicht »kein launiges laissez faire« mehr dulden. »Und ohne große eigene Anstrengungen profitieren selbst die eher schüchtern und leise agierenden bundesrepublikanischen Grünen von dieser transnationalen Mentalität«, sagt der Göttinger Politikprofessor.

Der grüne Durchschnittswähler ist um die fünfzig, gut gebildet, saturiert und in einem Angestellten- oder Beamtenverhältnis erwerbsarbeitend. Damit ist mittlerweile Wirklichkeit geworden, wovon vor fast 20 Jahren der – noch minoritäre – realpolitische Flügel der Partei nur träumen konnte. In der damals in diesen Kreisen üblichen verquasten Sprache hatten Fischer & Co. formuliert: »Der städtische, liberale, an seinen individuellen Lebensentwürfen zuerst orientierte, konsumfreundliche Citoyen, der zugleich gegen Atomkraft und ökologischen Wahnsinn nicht nur protestiert, ebenso wie er den ausgegrenzten und von ihrer Armut betroffenen Minderheiten sich solidarisch verpflichtet weiß, ist das Subjekt unserer Demokratievorstellungen.« Solidarisch verpflichtet, das könne Bedauern über deren Los sein, Mitleid, vielleicht auch einmal eine materielle Zuwendung, erwiderten Thomas Ebermann und Rainer Trampert. »Aber«, so die Vertreter des zu dieser Zeit noch existierenden ökosozialistischen Flügels, »geben muss es die Armen und Ausgegrenzten ewig, denn diese spezifische Qualität unseres Citoyens kann nur erblühen auf der Grundlage der sozialen Ungleichheit.«

Ja, eigentlich interessiert es diesen etwas in die Jahre gekommenen Citoyen nicht wirklich, ob es denen da unten, die heute neudeutsch als »Prekariat« bezeichnet werden, dreckig geht oder nicht. Aber gleichwohl will er eben auch nicht als Unmensch erscheinen. Das ist wohl der tiefere Grund für die Aufregung bei den Grünen über jenen kurz vor dem Nürnberger Parteitag geäußerten Satz Oswald Metzgers, viele Sozialhilfeempfänger sähen »ihren Lebenssinn darin, Kohlenhydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen«. Mit diesem Spruch habe Metzger »den Wertehaushalt der Grünen eklatant verletzt«, empörte sich der Fraktionsvorsitzende Kuhn scheinheilig. Und Bütikofer nutzte auf dem Parteitag bigott die Gelegenheit, den aus der grünen Mode gekommenen Verteidiger der »Agenda 2010« zur Stimmungsmache zu nutzen. »Oswald, wie soll man ein Kind von 2,50 Euro pro Tag ernähren?« rief der Parteivorsitzende in Anspielung auf Hartz IV in den Saal. An keiner anderen Stelle seiner Rede erhielt Bütikofer so viel Beifall wie bei dieser rhetorischen Frage. Schade nur, dass sie ihm nicht früher eingefallen ist – zum Beispiel bevor die rot-grüne Regierung Hartz IV einführte. Aber so ernst war sie ja nun auch wieder nicht gemeint, ging es doch bloß um die Herbeiführung eines Abstimmungserfolgs. Wie hatte es Bütikofer noch kurz vor dem Parteitag so treffend formuliert: »Wir machen nicht auf Retro-Linke.«


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