Die Grünen sind die Partei des
Ökoliberalismus. Sie scheren sich zwar kein bisschen um das
Wohlbefinden des so genannten Prekariats, wollen aber auch nicht als
Unmenschen dastehen.
Noch einmal stand er im Rampenlicht,
noch einmal hatte er seinen großen Auftritt. Die 27. Ordentliche
Bundesdelegiertenkonferenz in Nürnberg war zugleich die letzte für
Oswald Metzger. Nur zwei Tage später erklärte der
baden-württembergische Landtagsabgeordnete erwartungsgemäß seinen
Austritt aus der Partei der Grünen.
Er sei ein »Überzeugungstäter«,
schrieb der 52jährige Wirtschaftsliberale zum Abschied. Deshalb
könne er nicht länger »die Grünen im bürgerlich-liberalen Lager
wählbar halten, wenn diese Partei das unfinanzierbare
Wolkenkuckucksheim zum Programm-Maßstab erhebt«. Einen aus seiner
Sicht fatalen Schwenk nach links will der »Berater« der von
Arbeitgeberverbänden finanzierten »Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft« bei den Grünen ausgemacht haben. Eine Auffassung,
die zwar skurril ist, aber mit der Metzger durchaus nicht alleine
dasteht.
Als der Oberschwabe vor 21 Jahren
Mitglied der Grünen wurde, da warb die Partei noch mit vier
Begriffen für sich, mit denen sich zugleich ihr Gründungskonsens
umschreiben ließ: ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei.
Bereits in den Jahren der Vorbereitung auf die Regierungsbeteiligung
in Berlin begannen diese Grundsätze an Bedeutung zu verlieren. Nach
dem beendeten rot-grünen Feldversuch standen sie nur noch als leere
Worthülsen da. Auf den vergangenen beiden Parteitagen in Göttingen
und Nürnberg hat die Partei ihre friedens- und sozialpolitischen
Überreste ein bisschen bunt bemalt. Wie bei der SPD ist der
angebliche »Linksschwenk« der Partei vor allem ein kosmetischer –
den zweckoptimistischen Jubelchören der Parteilinken zum Trotz.
Auf der Göttinger
Sonderdelegiertenkonferenz hatte die grüne Basis ihrer Parteiführung
mit dem Votum gegen einen immer weiter reichenden Einsatz der
Bundeswehr in Afghanistan eine Schlappe zugefügt – und gleichzeitig
einen ihr ebenfalls zur Abstimmung vorgelegten pazifistischen Antrag
abgelehnt. In Nürnberg gelang es der gleichen Parteiführung mit
einem gehörigen Kraftakt und einigen taktischen Finessen, sich einen
etwas sozialeren, aber bloß nicht zu radikalen Anstrich zu
verpassen. Konkret bedeutet das verabschiedete Modell einer
»Grundsicherung« nichts weiter als eine Aufhübschung von Hartz IV.
Ein bisschen mehr Geld soll’s geben und etwas weniger Sanktionen,
dazu noch ein paar Milliarden Euro für ein staatliches
Bildungsprogramm. Ein Bundeskongress der Jusos hätte es nicht besser
beschließen können.
Für die interessantere Variante, ein
bedingungsloses Grundeinkommen für alle, reichte der Mut der Grünen
nicht aus. Es ist ein Grundsatzstreit: Was soll im Mittelpunkt der
Gesellschaft stehen – die Erwerbsarbeit oder der selbstbestimmte
Mensch? Die Diskussion der Grünen darum ist beinahe so alt wie die
Partei selbst.
Damals, in der ersten Hälfte der
achtziger Jahre, waren es noch zuvorderst »Ökolibertäre« wie der
heutige Chefredakteur der Welt, Thomas Schmid, die für die
Selbstbestimmung stritten. Inzwischen finden sich Befürworter und
Gegner in allen Flügeln. Ein traditionell konservativer
Landesverband wie der baden-württembergische tritt ebenso dafür ein
wie die Parteilinken Hans-Christian Ströbele und Robert Zion. Die
Idee ist inzwischen weit über die Grünen hinaus populär. Wenn sich
auch die jeweiligen Konzepte unterschieden, so träfen sich beim
Grundeinkommen »konservative Sozialromantiker und utopische
Sozialisten«, schreibt die Zeit. Jedenfalls tritt Thüringens
Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) ebenso dafür ein wie der
Unternehmer Götz Werner oder Katja Kipping von der Partei »Die
Linke«. Die grüne Führung sprach sich in Nürnberg hingegen für das
Modell der »Grundsicherung« aus, bedeutete doch das Eintreten für
ein Grundeinkommen in den Augen der Grünen eine zu radikale
Veränderung der Sozialsysteme. Reinhard Bütikofer, Claudia Roth,
Renate Künast, Fritz Kuhn und Jürgen Trittin, die um das
machtpolitische Erbe Joschka Fischers konkurrieren, liegt jedoch
nichts ferner.
Seit ihrem Annus horribilis 2005
befinden sich die Grünen in einem merkwürdig indifferenten Zustand.
Mehr schlecht als recht mühen sie sich mit der so ungeliebten Rolle
als Oppositionspartei ab, sehen sich lieber als Regierungspartei im
Wartestand. Nicht wenigen grünen Bundestagsabgeordneten scheint kaum
etwas wichtiger zu sein, als tunlichst jeden vom politischen
Mainstream abweichenden Gedanken zu vermeiden, denn der könnte ja
eine künftige Regierungsbeteiligung in den Augen von Sozial- oder
auch Christdemokraten in Frage stellen. »Wer jedoch in der ›Mitte
der Gesellschaft‹ brav in politischer Profillosigkeit versinken, wer
sich die hart errungene ›Regierungsfähigkeit‹ von den anderen
Parteien nur noch bestätigen lassen will, der verliert seine
Regierungswürdigkeit«, sagte Robert Zion, der »Basisheld von
Göttingen«.
Als »pomadig« beschreibt der
Parteienforscher Franz Walter die Partei. Gerade die Grünen
verkörperten »in ihrem chronisch verdrucksten öffentlichen Auftritt«
den geleeartigen Zustand der Opposition. Einst hätte sich die
frühere Partei der Petra Kellys und Jutta Ditfurths »stets ein
Stückchen zu aufgeregt, zu überdreht, zu schrill« präsentiert, heute
hingegen wirke sie nur noch »wie eine veritable politische
Schlaftablette«. Und auf den Bildschirmen seien »lediglich die
immergleichen pausbäckigen Gesichter eines bemerkenswert saturiert
daherkommenden Politzirkels« zu sehen.
Trotz allem zeigt sich die rund
45 000 Mitglieder starke Partei in den Umfragen erstaunlich
erfolgreich und könnte derzeit bei einer Bundestagswahl sogar mit
einem noch besseren Abschneiden als vor zweieinhalb Jahren rechnen.
Walter bietet dafür zwei Erklärungen an. Erstens: Auch wenn die
grüne Partei im Osten der Republik nach wie vor große Probleme habe,
so werde sie im Westen »von einer durch die 68er-Zeit sehr stark
geprägten linkslibertären Kultur-Bourgeoisie getragen«. Die Wähler
der Grünen »genießen Rheingau-Riesling und gehen in exquisite
Kinofilme«, und mit dem in der rot-grünen Ära als »Reformpolitik«
bezeichneten Sozialabbau hätten sie »eigentlich keine Probleme«.
Zweitens seien es im weiten Sinne ökologische Imperative und
Kodizes, die derzeit die Gemüter in den neu-bürgerlichen Kreisen
bewegten. Unverkennbar sei, dass mehr und mehr besser gestellte
Bürger von den Themen Gesundheit, Klimawandel und Ernährung
umgetrieben würden. In diesen Dingen würden gerade Angehörige der
Mittelschicht »kein launiges laissez faire« mehr dulden. »Und ohne
große eigene Anstrengungen profitieren selbst die eher schüchtern
und leise agierenden bundesrepublikanischen Grünen von dieser
transnationalen Mentalität«, sagt der Göttinger Politikprofessor.
Der grüne Durchschnittswähler ist um
die fünfzig, gut gebildet, saturiert und in einem Angestellten- oder
Beamtenverhältnis erwerbsarbeitend. Damit ist mittlerweile
Wirklichkeit geworden, wovon vor fast 20 Jahren der – noch
minoritäre – realpolitische Flügel der Partei nur träumen konnte. In
der damals in diesen Kreisen üblichen verquasten Sprache hatten
Fischer & Co. formuliert: »Der städtische, liberale, an seinen
individuellen Lebensentwürfen zuerst orientierte, konsumfreundliche
Citoyen, der zugleich gegen Atomkraft und ökologischen Wahnsinn
nicht nur protestiert, ebenso wie er den ausgegrenzten und von ihrer
Armut betroffenen Minderheiten sich solidarisch verpflichtet weiß,
ist das Subjekt unserer Demokratievorstellungen.« Solidarisch
verpflichtet, das könne Bedauern über deren Los sein, Mitleid,
vielleicht auch einmal eine materielle Zuwendung, erwiderten Thomas
Ebermann und Rainer Trampert. »Aber«, so die Vertreter des zu dieser
Zeit noch existierenden ökosozialistischen Flügels, »geben muss es
die Armen und Ausgegrenzten ewig, denn diese spezifische Qualität
unseres Citoyens kann nur erblühen auf der Grundlage der sozialen
Ungleichheit.«
Ja, eigentlich interessiert es diesen
etwas in die Jahre gekommenen Citoyen nicht wirklich, ob es denen da
unten, die heute neudeutsch als »Prekariat« bezeichnet werden,
dreckig geht oder nicht. Aber gleichwohl will er eben auch nicht als
Unmensch erscheinen. Das ist wohl der tiefere Grund für die
Aufregung bei den Grünen über jenen kurz vor dem Nürnberger
Parteitag geäußerten Satz Oswald Metzgers, viele
Sozialhilfeempfänger sähen »ihren Lebenssinn darin, Kohlenhydrate
oder Alkohol in sich hineinzustopfen, vor dem Fernseher zu sitzen
und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen«. Mit
diesem Spruch habe Metzger »den Wertehaushalt der Grünen eklatant
verletzt«, empörte sich der Fraktionsvorsitzende Kuhn scheinheilig.
Und Bütikofer nutzte auf dem Parteitag bigott die Gelegenheit, den
aus der grünen Mode gekommenen Verteidiger der »Agenda 2010« zur
Stimmungsmache zu nutzen. »Oswald, wie soll man ein Kind von 2,50
Euro pro Tag ernähren?« rief der Parteivorsitzende in Anspielung auf
Hartz IV in den Saal. An keiner anderen Stelle seiner Rede erhielt
Bütikofer so viel Beifall wie bei dieser rhetorischen Frage. Schade
nur, dass sie ihm nicht früher eingefallen ist – zum Beispiel bevor
die rot-grüne Regierung Hartz IV einführte. Aber so ernst war sie ja
nun auch wieder nicht gemeint, ging es doch bloß um die
Herbeiführung eines Abstimmungserfolgs. Wie hatte es Bütikofer noch
kurz vor dem Parteitag so treffend formuliert: »Wir machen nicht auf
Retro-Linke.«
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