Die Partei
der Zukunft, ein Mann mit Vergangenheit: Vor genau 25
Jahren zogen die Grünen erstmals in den Bundestag ein -
und hatten sofort einen handfesten Skandal an den
Hacken: einen Abgeordneten mit NS-Vergangenheit.
An seinen Namen erinnert
sich kaum einer - dabei schien sein Platz in den
Geschichtsbüchern sicher: Werner Vogel. Als erster
Grünen-Abgeordneter überhaupt sollte Vogel vor genau 25
Jahren im Deutschen Bundestag an das Rednerpult treten.
Soeben hatte die junge Partei bei der Wahl am 6. März
1983 mit 5,6 Prozent der Stimmen und 27 Mandaten den
Sprung ins damalige Bonner Parlament geschafft - unter
ihnen als Nr. 1 der nordrhein-westfälischen Landesliste
der 75-jährige Pensionär aus Mettmann bei Düsseldorf.
Als Senior der neugewählten Abgeordneten stand dem
Ministerialrat a. D. ein ganz besonderes Privileg zu:
Traditionell eröffnet der älteste Abgeordnete als
Alterspräsident die konstituierende Sitzung des neuen
Bundestages. Vogel war voller Vorfreude auf diesen
historischen Moment. Mit "Sachlichkeit und Ernst", so
ließ er wissen, wolle er seine Eröffnungsansprache
vortragen. Doch Werner Vogel durfte seine große Rede nie
halten. Noch bevor das Parlament zusammentrat, war er
zurückgetreten, verstoßen, gestolpert über seine eigene
Vergangenheit.
Dabei war Werner Vogel alles andere als der aufmüpfige
Bürgerschreck, als welche die Medien seine grünen
Parteifreunde gerne abstempelten. Er trug weder Sandalen
noch Turnschuhe, keine Norwegerpullover oder lange
Haare. Seine politischen Erfahrungen hatte er nicht in
der Studentenbewegung, im Kampf gegen die Atomkraft, für
Frauenrechte oder Frieden oder gar einer K-Gruppe
gesammelt. Der dürre Herr mit der sanften Stimme war
durch und durch deutscher Beamter, der einen
großbürgerlichen Gesprächskreis ("Christ in
Verantwortung") pflegte, einem Kegelklub angehörte und
Alter Herr einer schlagenden Studentenverbindung war -
wie die Schmisse in seinem Gesicht unübersehbar
belegten.
Lücke im Lebenslauf
Doch war
Vogel von Anfang an eine feste Größe in dem bunten
Haufen namens Grüne. Bereits 1980, dem Gründungsjahr der
Bundespartei, kandidierte er - noch vergebens - bei der
nordrhein-westfälischen Landtags- wie bei der
Bundestagswahl. Mit 183 von 198 Stimmen wurde er dafür
in den Landesvorstand der Grünen in NRW gewählt - seine
"großväterliche integrative Fähigkeiten" und sein
soziales Engagement beeindruckten die Grünen-Aktivisten.
Vogel leistete Migranten und Flüchtlingen
Rechtsbeistand, trat für die Rechte von Homosexuellen
ein, betreute Strafgefangene, Rauschgiftsüchtige und
Trebegänger. Sein Politikverständnis sei "geprägt von
einer milden Liebesbereitschaft", schrieb der SPIEGEL
über den sanftmütigen Politrentner, der sogar die
Hauptrolle in einem der ersten grünen TV-Wahlspots
spielte. "Opa, warum sind die Fische tot?", fragt ihn
darin ein kleines Mädchen. "Weil die Industrie das
Rheinwasser vergiftet hat", antwortet Vogel.
Für die Vergangenheit des gutmütigen Großvaters vom
Jahrgang 1907 interessierten sich die Grünen nicht.
Keinem fiel so richtig auf, dass in Vogels schriftlicher
Bewerbung für einen Platz auf der NRW-Landesliste für
die Bundestagswahl 1983 für die Zeit des
Nationalsozialismus eine Lücke klaffte; lediglich als
"Kriegsteilnehmer" hatte sich Vogel dort geoutet. Die
Grünen von Rhein und Ruhr hatten ihn dennoch ohne
Nachfrage und in Abwesenheit (er war lieber in Urlaub
gefahren als zum Parteitag nach Geilenkirchen zu kommen)
zu ihrem Spitzenkandidaten erkoren.
Die Lücke im Lebenslauf allerdings hatte ihren Grund:
Der Kandidat hatte seinen Parteifreunden seine
Verstrickung in die NS-Diktatur vorenthalten.
Im
Windschatten des "Alten Kämpfers"
Bereits mit
15 Jahren hatte sich der Sprössling einer
deutsch-nationalen Familie aus Offenbach der
"Bismarck-Jugend" angeschlossen (der auch der
altersgleiche spätere Nazi-"Märtyrer" Horst Wessel
angehörte). Von dort führte ihn sein Weg über den
"Jungstahlhelm" in die SA; als Vogel 1934 sein
Assessorexamen ablegte, trug er bereits die Uniform
eines SA-Truppführers. Im Jahr der "Machtergreifung
"Hitlers, 1933, beantragt Vogel das erste Mal die
Mitgliedschaft in der NSDAP, 1938 wird er endlich
Parteigenosse.
Ebenfalls 1938 kam Vogel als Beamter ins Berliner
Reichsministerium des Inneren. Sein Vorgesetzter dort
ist Staatssekretär Wilhelm Stuckart. Der ist mit Vogel
bestens bekannt, man duzt sich: Stuckart - NSDAP-Mann
der ersten Stunde, hoher SS-Offizier und 1942 einer der
Teilnehmer der berüchtigten Wannsee-Konferenz zur
"Endlösung" der Judenfrage - ist der angeheiratete Onkel
seiner damaligen Frau. Als im März 1939 die Wehrmacht in
Prag einmarschiert, begleitete Vogel Stuckart in die
besetzte Stadt und wohnte Hitlers Proklamierung des
Protektorats Böhmen und Mähren bei. Im selben Monat wird
der treue Staatsdiener und Pg. zum SA-Sturmführer
ernannt.
Dann kommt der Krieg. Der junge Regierungsrat Vogel wird
kurz vor dem Überfall auf Polen als Leutnant zur
Wehrmacht eingezogen. An der Ostfront gerät er 1945 in
sowjetische Gefangenschaft; wegen seiner früheren
Position im NS-Apparat schicken ihn die Russen für 25
Jahre nach Sibirien; erst 1953 kehrt er als Mitvierziger
nach Deutschland zurück. Ab 1954 arbeitete Vogel wieder
als Beamter im Düsseldorfer Innenministerium; unter
seinen Kollegen galt er als "sehr rechtsbewusster und
untadeliger Beamter". Als Leitender Regierungsrat geht
Vogel 1972 in Pension.
Tränen auf der Krisensitzung
Politisch
hatte sich Vogel nach dem Krieg kurz in der
nationalkonservativen Deutschen Partei engagiert, dann
bis Anfang der Sechziger mit Erich Mendes
nationalliberaler FDP geliebäugelt. Über den lodengrünen
CDU-Renegaten Herbert Gruhl ("Ein Planet wird
geplündert") und dessen öko-konservative "Grüne Aktion
Zukunft" landete Vogel schließlich bei den Grünen. Dort
gelingt ihm noch eine späte Polit-Karriere, die ihn 1983
in den Bundestag führt. Fast.
Erste Gerüchte über die braune Vergangenheit eines der
neuen Grünen-MdBs kursierten unter Bonner Journalisten
bereits am Tag nach der Wahl. Am folgenden Freitag
fragte die Nachrichtenagentur Associated Press bei den
Grünen an, ob Vogel Mitglied der NSDAP und der SA
gewesen sei; eine deutsche Sonntagszeitung bereite einen
entsprechenden Artikel vor. Vogel gab die
Mitgliedschaften umgehend zu, beteuerte jedoch, er habe
"nichts getan, was ich mir persönlich vorwerfen müsste".
Die siegestrunkenen Grünen trafen die Schlagzeilen
völlig unvorbereitet. Eine Wahlnachlese in Bonn am
Wochenende nach dem Urnengang geriet zur turbulenten
Krisensitzung: Die einen verlangten von Vogel den
sofortigen Mandatsverzicht, andere wollten, dass er in
der Rede als Alterspräsident seinen Rücktritt erklärt.
Wieder andere meinten, dass Vogel das Mandat annehmen
soll – schließlich sei er "geläutert". Tränen fließen,
dann ist klar: eine deutliche Mehrheit will Vogels
Abgang. Der fügte sich schweren Herzens. "Ich bin von
meiner Vergangenheit eingeholt worden", erklärt er vor
der Presse.
Bekenntnis ohne Folgen
Auch noch
nach Vogels Verzicht sorgte der Fall weiter für heftige
Verwerfungen bei den Grünen. Denn alsbald kam heraus,
dass der geschasste Fast-Alterspräsident seine
NS-Vergangenheit keineswegs gezielt verheimlicht hatte.
Auf einer Klausurtagung in Altenmelle hatte sich Vogel
vielmehr schon 1981 dem NRW-Landesvorstand offenbart.
"Wie ihr schon aus meinem Geburtsdatum erkennen könnt,
gehöre ich zu denen, die alle Grundtorheiten dieses
Jahrhunderts mitgemacht haben", hatte er seinerzeit den
übrigen zwölf Teilnehmern erklärt - und Auskunft über
seinen Lebensweg inklusive der Mitgliedschaften in SA
und NSDAP gegeben.
Doch sein Bekenntnis blieb folgenlos. Es sei damals ein
"für uns selbst schwer erklärbarer Vorgang abgelaufen,
über den wir sehr erschrocken sind", verlautbarte die
grüne NRW-Spitze dann, als der Skandal zwei Jahre später
über sie hereinbrach. "Niemand von uns hat noch jemals
über Werners NS-Vergangenheit nachgedacht und das obwohl
wir uns alle als dezidierte Antifaschisten verstehen."
Für Vogel zog am 29. März 1983 der 28-jährige Maurer
Dieter Drabiniok aus Bottrop in den Bundestag ein. Die
Eröffnungsrede als Alterspräsident hielt an diesem Tag
der damals 69-jährige SPD-Vorsitzende Willy Brandt, ein
Exiliant und aktiver Gegner des Nationalsozialismus. Als
erster Grüner trat in der konstituierenden Sitzung der
35-jährige Bochumer Studienrat Eckhard Stratmann ans
Rednerpult, in Cordhosen und offenem Hemd - nach dem
Abritt Vogels trug in der Grünen-Fraktion nur noch Otto
Schily Anzug und Krawatte.
Werner Vogel, der Mann, der nicht Alterspräsident werden
durfte, blieb den Grünen noch einige Jahre treu und
engagierte sich auf kommunaler Ebene für die Partei. Für
Schlagzeilen sorgte er bis zu seinem Tod 1992 nicht
mehr. Geblieben ist der Wahlwerbespot von 1980, der
gerne auf grünen Jubiläumsfeiern gezeigt wird und immer
für Erheiterung sorgt. Manch einer fragt sich, wer wohl
der ältere Mann in dem Film ist. Eine Antwort gibt es
meistens nicht.
Auch in seiner eigenen Partei ist
Werner Vogel längst vergessen.
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