Die Grenzanlagen sind aus dem Weg geräumt,
jedoch längst nicht alle strittigen Fragen. Dennoch hat sich nach
dem Amtsantritt des neuen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk
das deutsch-polnische Verhältnis entspannt.
Unlängst gestand Donald Tusk, dass er
»kein besonderer Freund« von Günter Grass sei. Und das, obwohl beide
in Danzig geboren wurden. »Er ermüdet mich einfach, das ist alles«,
sagte der neue polnische Ministerpräsident über den alten deutschen
Großschriftsteller. Dass er mit ihm nicht viel anfangen kann, gehört
durchaus zu den sympathischen Seiten von Tusk – wenn sich auch
andere Gründe, Grass nicht zu mögen, finden ließen.
Der Grund für diese Abneigung reicht
zurück in die Zeit des Kriegsrechts in Polen. Anfang der achtziger
Jahre war es, da traf sich Grass unter mehr oder weniger
konspirativen Bedingungen mit dem damaligen Solidarnosc-Mitglied
Tusk in ihrer gemeinsamen Geburtsstadt. Beide behielten die
Begegnung, an der auch noch andere Gesinnungsgenossen Tusks von der
liberalen Untergrundzeitung Prezeglad Polityczny teilnahmen,
in Erinnerung. »Ich erinnere mich an ein Treffen mit einer Gruppe
extremer Nationalisten«, erzählte Grass später. Tusk sah das anders.
Zum einen habe Grass ihre antisowjetische Haltung »ganz platt als
provinziellen, polnischen Antirussizismus« bewertet, zum anderen
habe er ihnen weiszumachen versucht, die Solidarnosc sei so etwas
wie die Bewegung der Sandinistas. »Dass Grass das parakommunistische
Regime in Nicaragua mit der Solidarnosc verglich, schien uns einfach
beleidigend«, sagte Tusk. Die deutsch-polnische Verständigung ist
eben nicht immer einfach.
Da verstehen sich Tusk und
Bundeskanzlerin Angela Merkel schon besser. Kurz vor Weihnachten
trafen sich die Duzfreunde am deutsch-polnischen Grenzübergang in
Zittau, um gemeinsam Polens Beitritt zum Schengener Abkommen und den
damit verbundenen Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den beiden
Staaten zu feiern. Was Merkel von einem »historischen Moment«
sprechen ließ, bezeichnete Tusk ergriffen als einen »Triumph der
Freiheit«. Aufgewachsen sei er in einer Welt, in der viele Grenzen
unüberwindbar schienen. »Jetzt ist es gelungen, auch die
schwierigste Grenze zu überwinden: die der Angst, der Furcht.«
Wie um ihren Aufbau zu verhindern,
hat Polen noch vor dem Jahreswechsel zahlreiche ausgediente
Grenzeinrichtungen zu wohltätigen Zwecken versteigert. Neben Teilen
von Schlagbäumen sollen vor allem Schilder mit Aufschriften wie
»Staatsgrenze – Durchfahrt verboten« oder »Der Kommandant der
Grenztruppen nimmt Beschwerden montags von 13 bis 17 Uhr entgegen«
unter den Hammer gekommen sein, meldete die Tageszeitung Gazeta
Wyborcza.
Seit Mitte November steht der
50jährige Tusk der Regierung Polens vor. Seitdem lässt der
Vorsitzende der rechtsliberalen Bürgerplattform (PO), der in einer
Koalition mit der ebenfalls proeuropäischen gemäßigten Bauernpartei
(PSL) regiert, nichts unversucht, sich von der Krawallrhetorik
seines Vorgängers Jaroslaw Kaczynski von der nationalkonservativen
Partei »Recht und Gerechtigkeit« (Pis) abzugrenzen.
So führte Tusk eine seiner ersten
Auslandsreisen – selbstverständlich erst nach einem Antrittsbesuch
im Vatikan, wie es sich für einen Premierminister im erzkatholischen
Polen gehört – Anfang Dezember nach Berlin. Schon einen Tag vor
seinem Eintreffen verkündete er in einem »Grußwort« in der
Bild-Zeitung: »Unsere Botschaft ist klar: Gemeinsam erreichen wir
mehr.« Nach dem Treffen mit Merkel lobte er beinahe überschwänglich
die gute Stimmung. Er habe mit der Christdemokratin in kurzer Zeit
»eine gemeinsame Sprache gefunden«.
Was ist da bloß passiert? Außer, dass
Tusk netter aussieht und einen weniger konfrontativen Politikstil
pflegt, hat sich offenbar auch die Grundorientierung der polnischen
Außenpolitik geändert. Mit ihrem rabiat nationalistischen Auftreten
hatten Jaroslaw Kaczynski und sein Bruder, der immer noch amtierende
Staatspräsident Lech Kaczynski, in nur zwei Jahren ihr Land
politisch an den äußersten Rand Europas manövriert. Ihr
demonstrativer Euroskeptizismus wird nun durch Tusk von einer
demonstrativen Europabegeisterung abgelöst. Sahen die Kaczynskis die
EU, deren Mitglied Polen seit Mai 2004 ist, als ein mehr oder
weniger notwendiges Übel an, so übt sich Tusk in proeuropäischen
Lobeshymnen.
Dennoch unterscheidet er sich nicht
in allen außenpolitischen Standpunkten von den Kaczynskis. So hat
auch er seine Probleme mit der geplanten Ostsee-Pipeline, die von
2010 an russisches Erdgas an Polen und dem Baltikum vorbei nach
Deutschland liefern soll. Ebenso wie die Kaczynskis kämpft Tusk für
eine stärkere Gewichtung der mittelgroßen Staaten in der
Europäischen Union – wenn auch diplomatisch besonnener, also weder
mit ständigen Blockadedrohungen noch mit der Instrumentalisierung
polnischer Opfer des Zweiten Weltkriegs.
Im polnisch-deutschen Verhältnis ist
die Veränderung in erster Linie eine atmosphärische. Tusk gilt als
ausgesprochen »deutschfreundlich« – was ihm bei der Präsidentenwahl
2005 noch zum Verhängnis geworden war. In der Stichwahl unterlag er
seinerzeit Lech Kaczynski nicht zuletzt, weil es den
Wahlkampfstrategen der Pis gelungen war, Tusk als unpatriotisch
darzustellen.
Auch wenn Tusk sich selbst als »prodeutsch«
bezeichnet, wäre es ein Fehler, zu meinen, er sei empfänglich für
die in Deutschland nach wie vor existierenden
geschichtsrelativierenden oder revanchistischen Gelüste. Die
Tatsache, dass die Polen heute besser als früher den deutschen
Standpunkt verstünden, bedeute nicht, »dass sie mit Versuchen der
Relativierung der Verantwortung und der historischen Wahrheit
einverstanden sind«, stellte Tusk in einem Interview mit der FAZ
klar. »Die Art und Weise, wie sich Deutsche heute der Geschichte
zuwenden, führt aber dazu, dass die Vergangenheit wieder zum Ballast
wird.«
So reicht es ihm auch nicht, dass die
Bundesregierung verkündet, sie lehne die wiederholten
Entschädigungsforderungen der in der »Preußischen Treuhand«
zusammengeschlossenen Vertriebenen ab. Die deutsche Seite solle
vielmehr die Verantwortung für die eventuellen finanziellen Folgen
der derzeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
anhängigen Klagen übernehmen – wozu sie nicht bereit ist.
Ein weiterer Konflikt bleiben die
Pläne der deutschen Regierung für das, was früher einmal »Zentrum
gegen Vertreibungen« hieß und heute als »sichtbares Zeichen« im
Berliner »Deutschlandhaus« errichtet werden soll, »um an das Unrecht
von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten«,
wie es im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD heißt. Tusks
Befürchtung ist, dass so »die andere Erinnerung« geschwächt werden
könnte – »nämlich die an die kollektive Verantwortung der
Deutschen«. Als Alternative zu dem Vorhaben hat er vorgeschlagen,
ein »Museum des Zweiten Weltkriegs« in Danzig zu bauen – und zwar in
europäischer Regie unter Beteiligung Russlands und Israels. In einem
solchen Museum könne dann auch »das Schicksal der Zwangsumsiedler
seinen Platz in dem entscheidenden und umfassenden Kontext finden«.
Merkel bezeichnete Tusks Vorschlag
diplomatisch als eine »interessante Idee«. Eine Alternative zu dem
»sichtbaren Zeichen« sei ein solches Museum allerdings nicht. Die
Umgangsformen sind freundlicher geworden, die Differenzen aber sind
geblieben.
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