Auch das noch: Die FDP entdeckt die »soziale
Gerechtigkeit«. Mit kurioser Rhetorik und der Bereitschaft zu früher
undenkbaren Bündnissen will es die Partei wieder in die Regierung
schaffen.
Guido Westerwelle
scheut keine Mühen, um sich in Szene zu setzen. Auch an
ausgefallenen Orten versucht der liberale Menschenfischer noch seine
Schäfchen zu erreichen. Da bleibt nicht einmal die Katholische
Nachrichtenagentur von einem Gastbeitrag verschont. »Ein kleiner
Kreis Überzeugter, der nur zu sich selber predigt oder gar nur noch
mit sich selber streitet, ist zu wenig«, verkündete der
FDP-Bundesvorsitzende. Ȁhnlich, wie damals das Christentum sichtbar
selbstbewusster und stärker wurde, als die Jünger dafür quasi Feuer
und Flamme waren, wird auch unsere Bürgergesellschaft nur dann
selbstbewusst und stark bleiben, wenn wir außerhalb des kleinen
Kreises von Berufspolitikern wieder mehr Zuversicht und Begeisterung
wecken können für politische Ideen«, fuhr Westerwelle fort. Nur:
Welche Ideen meint er bloß?
Wenn der FDP gar nichts mehr
einfällt, dann beschäftigt sie sich mit ihrem Lieblingsthema: der
Steuerpolitik. Denn nichts kann freidemokratische Geister mehr
erregen als zu hohe Steuern. Wenn andere längst eingenickt sind,
können sie sich immer noch trefflich über sie ereifern. Auch auf dem
59. Bundesparteitag, den die FDP vom 31. Mai bis zum 1. Juni in
München begeht, widmet sie sich dem Thema: »Im Zentrum der
Beratungen sollen dabei die Steuerpolitik und damit
Leistungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit und die Erneuerung der
Sozialen Marktwirtschaft stehen.« Das wurde aber auch mal wieder
Zeit, nachdem die CSU gerade ihr Steuermodell präsentiert und der
SPD-Vorsitzende Kurt Beck prompt auch eines in Aussicht gestellt
hatte.
Der FDP-Bundesschatzmeister Hermann
Otto Solms wird also in der bayrischen Landeshauptstadt wieder
einmal das altbekannte FDP-Steuerkonzept darlegen. The same
procedure as every year! Nicht zu Unrecht beklagte der
Generalsekretär der nordrhein-westfälischen FDP, Christian Lindner,
kürzlich erst eine »argumentative Materialermüdung« in seiner
Partei.
Diesmal trägt der Leitantrag des
Bundesvorstands den knackigen Titel: »Die gerechte Steuer – Einfach,
niedrig, und sozial. Das Nettokonzept der FDP«. Damit will sich die
Partei insbesondere gegen die CSU behaupten, die seit Wochen mit
einem alten freidemokratischen Slogan für Steuersenkungen wirbt:
»Mehr Netto vom Brutto«. Der Leitantrag sieht einen Dreistufentarif
bei der Lohn- und Einkommenssteuer vor. Bis 15.000 Euro
Jahreseinkommen sollen zehn Prozent, bis 40.000 Euro 25 Prozent und
darüber 35 Prozent Steuern gezahlt werden. Die von der Großen
Koalition eingeführte »Reichensteuer« mit einem Steuersatz von 45
Prozent ab 250.000 Euro Jahreseinkommen soll wieder abgeschafft
werden.
Außerdem sieht der Antrag eine Reform
der Unternehmensbesteuerung vor. So soll für Unternehmen künftig nur
noch ein Zwei-Stufen-Tarif von zehn und 25 Prozent gelten und die
Gewerbesteuer abgeschafft werden. Mit dem Antrag konkurrieren noch
zwei weitere der Landesverbände Nordrhein-Westfalen und
Rheinland-Pfalz. Die Nordrhein-Westfalen fordern einen dreistufigen
Satz von zehn, 20 und 30 Prozent. Die rheinland-pfälzische FDP tritt
mit einem »Flat-Tax«-Modell an.
Für welche Variante sich der
Parteitag auch immer entscheiden wird: Mit »sozialer Gerechtigkeit«
hat keine zu tun. Das verwundert nur insofern, als dass sich
dieser Begriff seit einigen Wochen einer erstaunlichen Beliebtheit
in den Reihen der FDP erfreut. Ihre Partei müsse »auch für die
Bürger attraktiv werden, die das Portemonnaie nicht so dicke voll
haben«, forderte beispielsweise die stellvertretende
Bundesvorsitzende Cornelia Pieper. »Mit der FDP muss man zur Wahl
das Thema soziale Chancengerechtigkeit verbinden«, sagte sie der
Leipziger Volkszeitung. Auch der Berliner Landesvorsitzende Markus
Löning verlangte: »Die FDP muss sich mit dem Thema der sozialen
Gerechtigkeit auseinandersetzen.« Man dürfe »uns Liberale nicht auf
die Steuersenkungspartei reduzieren«, sagte Löning dem
Tagesspiegel.
Sogar der ehemalige Parteivorsitzende
Wolfgang Gerhardt, der derzeit Vorstandsvorsitzender der
Friedrich-Naumann-Stiftung ist, entdeckt seine soziale Ader: »Wir
dürfen in der Gerechtigkeitsdiskussion nicht passiv bleiben.« Die
»neue soziale Frage« sei, »wie wir Menschen davor bewahren, aus der
Gesellschaft herauszubrechen«. Nicht einmal der Leitantrag des
Bundesvorstands blieb von dieser kuriosen Rhetorik verschont.
»Soziale Gerechtigkeit ist mit Steuersenkungen allein nicht zu
erreichen«, heißt es dort, für die Partei der Marktgläubigen klingt
derlei geradezu ketzerisch.
Noch im April hatte Westerwelle auf
dem Landesparteitag der nordrhein-westfälischen FDP den
vermeintlichen »Linksruck in der CDU« kritisiert und seine Partei
als das »richtige Kontrastprogramm zu Murks und Marx in Berlin«
bezeichnet. Der FDP-Fraktionsvorsitzende im nordrhein-westfälischen
Landtag, Gerhard Papke, sprach unter Beifall gar von einem
»Linkspopulismus, der von der PDS bis zur CDU alle erfasst hat« –
außer natürlich die FDP. Bei der liberalen Basis kommt ein solcher
Klamauk gut an.
Aber er führt nicht aus dem
strategischen Dilemma, in dem sich die Partei befindet. In den
bundesweiten Umfragen schneidet sie gut ab. Gleich bleibend erzielt
die FDP in der Sonntagsfrage um die zehn Prozent. Doch statt
Feierlaune herrscht Depression. Drei Mal ist die Partei daran
gescheitert, in die Bundesregierung zurückzukehren. Sie befindet
sich derzeit in der erfolglosesten Phase in ihrer 60jährigen
Geschichte. Das ist fatal für eine Klientelpartei wie die FDP, zumal
sich die Aussichten seit der vergangenen Bundestagswahl weiter
verschlechtert haben.
Die FDP stand dank ihres
Parteivorsitzenden allzu lange in unverbrüchlicher Treue zur Union.
Wohl als letzter hat Westerwelle nun erkannt, dass das Bündnissystem
nach dem Auftauchen der »Linken« in Bewegung geraten ist. Erst nach
der Pleite in Hamburg Ende Februar und der daraus resultierenden,
erstmals in einem Bundesland entstandenen Verbindung der CDU mit den
Grünen dämmerte es den Liberalen. Auf einer Klausurtagung am 9. März
beschloss das FDP-Präsidium eine erste Änderung. Man werde künftig
nur noch Koalitionspräferenzen nennen, die von dem gewünschten
Partner auch erwidert würden, verkündete der Vorsitzende
anschließend. Sollte es nach der Wahl für ein Zweierbündnis nicht
reichen, werde die FDP auch mit anderen Fraktionen verhandeln.
»Hamburg passiert uns kein zweites Mal«, kündigte Westerwelle an.
Seitdem wagen es die Liberalen, wenn
auch noch zaghaft, bei den vor nicht allzu langer Zeit noch als
»Schutzmacht der Feldhamster und Windrädchen« verspotteten Grünen um
Sympathien zu werben. Sogar mit seinem Lieblingsfeind Jürgen
Trittin, den er einst als »Störfall, reif für die Endlagerung«
bezeichnete, glaubt Westerwelle inzwischen »zivilisierte Gespräche«
führen zu können – in der Erkenntnis, dass der Weg zurück an die
Macht wohl nur gemeinsam zu schaffen ist. Auch die verbalen
Verrenkungen in Sachen der »sozialen Gerechtigkeit« dienen dazu, die
strategischen Möglichkeiten zu erweitern. Inhaltlich sind diese
Anwandlungen selbstverständlich nicht sonderlich ernst zu nehmen.
Denn sonst könnte sich die FDP die Diskussion über die drei zum
Bundesparteitag eingebrachten Steuermodelle sparen. Aber worüber
könnten sich die Delegierten dann noch unterhalten?
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