14.03.2008

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*   Zum 125. Todestag: Der deutsche Denker mit dem Rauschebart
Von Pascal Beucker

An seinem 125. Todestag ist Karl Marx noch immer en vogue. Von der Linkspartei bis zu Heiner Geißler berufen sich viele auf ihn. Doch als Politfolkore zu enden, hat der Denker nicht verdient.

Marx-Engels-Denkmal in BerlinFür einen, der bereits vor so langer Zeit hingeschieden ist, zeigt sich Karl Marx bis heute erstaunlich zählebig. Dabei wurde der revolutionäre Denker mit dem Rauschebart, der am 14. März vor 125 Jahren in London starb, doch schon so oft totgesagt. Endgültig am Ende schien er mit dem Zusammenbruch jenes osteuropäischen Staatensystems, das sich auf ihn berief und in dem doch alles realer war als der Sozialismus.

Aber auch das hat Marx nach einer leichten Schwächeperiode in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erstaunlich gut überlebt – auch wenn Wolf Biermann schon lange nicht mehr mit Marx- und Engelszungen singt, manch einst glühender Marxist seine blauen Bände verschämt in den Keller verfrachtet hat und Chemnitz wieder Chemnitz heißt. Aber dafür gibt es in Worms immer noch eine Karl-Marx-Siedlung, deren Bewohner vor wenigen Tagen beim traditionellen Stabhausfest den Winter vertrieben haben.

Aller voreiligen Nachrufe zum Trotz: Marx ist wieder en vogue. Nicht nur in Mittel- und Südamerika, wo seit den Wahlsiegen von Chavez, Morales, Ortega, „Lula“ da Silva, Bachelet & Co. die Castro-Brüder mittlerweile ihren Carlos nicht mehr alleine hochleben lassen müssen. Auch in der Bundesrepublik scheint Marx wieder Konjunktur zu haben. Vielleicht sogar mehr denn je: Beim großen ZDF-Zuschauervoting „Unsere Besten - Wer ist der größte Deutsche?“ belegte Marx 2003 sensationell den 3. Platz. Gut möglich, dass der scharfsinnige Analytiker und grandiose Polemiker inzwischen auch noch die beiden seinerzeit noch vor ihm liegenden Adenauer und Luther schlagen könnte.

Anlässlich seines Todestagsjubiläums zeigte seine Geburtsstadt Trier am Donnerstag im Atrium des Angela-Merici-Gymnasiums in einer Erstaufführung das Doku-Drama „Karl Marx – ein Philosoph macht Geschichte“. In dem knapp einstündigen Film der Brüder Gernot und Carsten Jaeger kommt auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident und SPD-Vorsitzende Kurt Beck zu Wort – und zwar genauso bräsig provinziell, wie zu befürchten war: „Ich habe mit der Philosophie von Karl Marx nie so sehr viel anfangen können.“ Das glaubt man ihm sofort. Um ein Bonmot des Göttinger Politikprofessors Franz Walter aufzugreifen: Hätte Beck die Gelegenheit, Marx heutzutage einmal zu begegnen, würde er dem berühmtesten Rheinland-Pfälzer wohl erst einmal raten, sich gefälligst zu waschen, zu rasieren und sich dann eine ordentliche Arbeit zu suchen.

Die SPD und ihr Ahnherr

Die SPD tut sich schwer mit ihrem geistigen Ahnherrn, über den Willy Brandt sagte: „Wir sind durch die Tür getreten, die auch der Denker Marx geöffnet hat.“ Das Verhältnis seiner Partei zum einstigen Vordenker der Arbeiterbewegung sei „immer schwierig, auch anregend, aber nicht prägend“ gewesen, sagte der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering anlässlich der Wiedereröffnung des von der Friedrich-Ebert-Stiftung betriebenen Karl-Marx-Hauses in Trier im Juni 2005. Zwischen Marx und der SPD stünden „das Godesberger Programm und 142 Jahre praktischer Politik“. Und: Die Beschäftigung mit Marx gehöre „heute überwiegend an die Universitäten und ins Museum“.

Konsequenterweise erwähnt ihn die SPD auch nur noch an einer einzigen Stelle indirekt in ihrem im vergangenen Jahr in Hamburg beschlossenen Grundsatzprogramm. Die SPD verstehe sich „als linke Volkspartei, die ihre Wurzeln in Judentum und Christentum, Humanismus und Aufklärung, marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung hat“, heißt es dort. Mehr fällt der Partei zu Marx heute nicht mehr ein.

Wenn Geißler Marx zitiert

Dafür manchem Christdemokraten umso mehr. Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler bemüht das „Kommunistische Manifest“, um auf Missstände aufmerksam zu machen: „Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“ Dieses Zitat sei „eine hinreichende Beschreibung des jetzigen Weltwirtschafts- und Finanzsystems, das moralisch krank und auf Dauer nicht konsensfähig ist“, schrieb Geißler unlängst im Tagesspiegel. Heutzutage fehle die politische Macht, um in der Welt- und Finanzwirtschaft für Ordnung zu sorgen. Wenn die westlichen Staatsfrauen und -männer nicht endlich aufwachten, würden sich die Prophezeiungen von Marx und Engels doch noch erfüllen, warnt der Christdemokrat.

Noch höher im Kurs steht Marx in der Partei „Die Linke“. Sie nennt selbst ein „Marxistisches Forum“ ihr eigen. In Bremen hatte die Ex-PDS zur Bürgerschaftswahl im vergangenen Jahr sogar jemanden als Spitzenkandidaten aufgestellt, der mit seiner dichten Haarmähne und seiner Bartbracht der einstigen realsozialistischen Ikone äußerlich ähnlich sah – was die Lokalpresse flugs dazu verführte, Peter Erlanson zum „Karl Marx von Bremen“ zu ernennen. Was weder der eine, noch der andere verdient hat.

Auf jeden Fall beruft sich in der SED-Nachfolgepartei nicht nur die „Kommunistische Plattform“ immer mal wieder auf den ollen Zausel aus Trier. Gerne schlagen sich die Genossen von Gysis bunter Truppe – nicht wenige von ihnen in früheren Zeiten gründlich in „Marxismus-Leninismus“ geschult – beim Ringen um die richtige politische Linie Marx-Zitate um die Ohren. Eben gerade so, wie es passt. Gelernt ist gelernt.

Marx oder Schiller

Gemäß dem alten Handwerkermotto „Was nicht passt, wird passend gemacht“ bedient sich auch Partei- und Fraktionschef Oskar Lafontaine gerne bei Marx. Der frühere SPD-Chef weiß schließlich, was sein Publikum erwartet. Schon im Sommer 2005 hatte er bei einer seiner ersten Auftritte in seinem neuen politischen Umfeld – bei der Kandidatur auf dem Essener Parteitag der nordrhein-westfälischen Linkspartei für den Spitzenplatz auf deren Landesliste für die Bundestagswahl - für frenetischen Jubel gesorgt, als er gleich zu Anfang seiner Rede recht frei das „Kommunistische Manifest“ adaptierte: „Ein Gespenst geht um in Deutschland, es ist das Gespenst der Linkspartei.“

Doch es wäre falsch, solcherlei Anleihen ideologisch überzubewerten. Denn zu Lafontaines rhetorischem Repertoire gehörte es von jeher, mit einem kräftigen Griff in seinen großen Fundus an Zitaten aus der guten, alten Zeit die Herzen seiner Zuhörer zu erwärmen. Entscheidend ist ihm dabei der Effekt, weniger der konkrete Inhalt. So wie bei seiner furiosen Rede auf dem Mannheimer SPD-Parteitag im November 1995, mit der er den glücklosen Rudolf Scharping vom Thron stürzte. Die Arbeiterbewegung habe immer die „Internationale“ gesungen, schmetterte der Napoleon von der Saar damals unter Beifallsstürmen den Delegierten entgegen: „Alle Menschen werden Brüder.“ Lafontaine baute auf die Unwissenheit des sozialdemokratischen Parteivolks: Was scherte es schon, dass der von ihm zitierte Satz keineswegs aus der „Internationalen“ stammte, sondern vielmehr aus jener Ode „An die Freude“ Friedrich Schillers, die Beethoven in seiner 9. Sinfonie verarbeitet hat. Es kommt ihm halt nicht so drauf an.

Was bleibt, ist die Dialektik

Was außer Politfolklore ist von Marx geblieben? Es gäbe keine bessere Weise denken zu lernen, als Marx zu lesen, behauptete kürzlich der österreichische Publizist Robert Misik. Er hat recht. Denn die Marxsche Methode der radikalen Kritik und des dialektischen Denkens ist weiterhin hilfreich, um zu verstehen, warum die gesellschaftlichen Verhältnisse so sind, wie sie sind. Viel zu wenig beachtet, obwohl höchst aktuell ist überdies angesichts der Gefahr des islamistischen Terrorismus, aber auch des Wiedererstarkens christlicher Fundamentalismen die von Marx in seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ analytisch brillante wie kompromisslos formulierte Kritik der – sprich: jeglicher – Religion als „verkehrtes Weltbewusstsein“.

Als Säulenheiliger hat Marx zum Glück ausgedient. Zeitlebens hatte er selbst nur Verachtung für Hagiografien, Personenkult und Dogmen übrig. Nicht einmal vom Marxismus hat er viel gehalten: „Tout ce que je sais, c'est que je ne suis pas Marxiste.“ („Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.“) Allerdings konnte er sich leider nach seinem Ableben nicht aussuchen, von wem er sich vereinnahmen lassen wollte. Nicht nur unzählige sonderbar-skurrile Sektierergrüppchen beriefen (und berufen) sich auf ihn, sondern auch Schlächter wie Stalin, Mao oder Pol Pot.

Trotz alledem bleibt von Marx an seinem 125. Todestag seine zutiefst humanistische Erkenntnis, „dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist. Und was auch bleibt, ist sein daraus abgeleiteter „kategorischer Imperativ“: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Wer wollte diesem Ziel ernsthaft widersprechen?


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