An seinem 125. Todestag ist Karl Marx noch
immer en vogue. Von der Linkspartei bis zu Heiner Geißler berufen
sich viele auf ihn. Doch als Politfolkore zu enden, hat der Denker
nicht verdient.
Für einen,
der bereits vor so langer Zeit hingeschieden ist, zeigt sich Karl
Marx bis heute erstaunlich zählebig. Dabei wurde der revolutionäre
Denker mit dem Rauschebart, der am 14. März vor 125 Jahren in London
starb, doch schon so oft totgesagt. Endgültig am Ende schien er mit
dem Zusammenbruch jenes osteuropäischen Staatensystems, das sich auf
ihn berief und in dem doch alles realer war als der Sozialismus.
Aber auch das hat Marx nach einer
leichten Schwächeperiode in den neunziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts erstaunlich gut überlebt – auch wenn Wolf Biermann
schon lange nicht mehr mit Marx- und Engelszungen singt, manch einst
glühender Marxist seine blauen Bände verschämt in den Keller
verfrachtet hat und Chemnitz wieder Chemnitz heißt. Aber dafür gibt
es in Worms immer noch eine Karl-Marx-Siedlung, deren Bewohner vor
wenigen Tagen beim traditionellen Stabhausfest den Winter vertrieben
haben.
Aller voreiligen Nachrufe zum Trotz:
Marx ist wieder en vogue. Nicht nur in Mittel- und Südamerika, wo
seit den Wahlsiegen von Chavez, Morales, Ortega, „Lula“ da Silva,
Bachelet & Co. die Castro-Brüder mittlerweile ihren Carlos nicht
mehr alleine hochleben lassen müssen. Auch in der Bundesrepublik
scheint Marx wieder Konjunktur zu haben. Vielleicht sogar mehr denn
je: Beim großen ZDF-Zuschauervoting „Unsere Besten - Wer ist der
größte Deutsche?“ belegte Marx 2003 sensationell den 3. Platz. Gut
möglich, dass der scharfsinnige Analytiker und grandiose Polemiker
inzwischen auch noch die beiden seinerzeit noch vor ihm liegenden
Adenauer und Luther schlagen könnte.
Anlässlich seines Todestagsjubiläums
zeigte seine Geburtsstadt Trier am Donnerstag im Atrium des
Angela-Merici-Gymnasiums in einer Erstaufführung das Doku-Drama
„Karl Marx – ein Philosoph macht Geschichte“. In dem knapp
einstündigen Film der Brüder Gernot und Carsten Jaeger kommt auch
der rheinland-pfälzische Ministerpräsident und SPD-Vorsitzende Kurt
Beck zu Wort – und zwar genauso bräsig provinziell, wie zu
befürchten war: „Ich habe mit der Philosophie von Karl Marx nie so
sehr viel anfangen können.“ Das glaubt man ihm sofort. Um ein Bonmot
des Göttinger Politikprofessors Franz Walter aufzugreifen: Hätte
Beck die Gelegenheit, Marx heutzutage einmal zu begegnen, würde er
dem berühmtesten Rheinland-Pfälzer wohl erst einmal raten, sich
gefälligst zu waschen, zu rasieren und sich dann eine ordentliche
Arbeit zu suchen.
Die SPD und ihr
Ahnherr
Die SPD tut sich schwer mit ihrem
geistigen Ahnherrn, über den Willy Brandt sagte: „Wir sind durch die
Tür getreten, die auch der Denker Marx geöffnet hat.“ Das Verhältnis
seiner Partei zum einstigen Vordenker der Arbeiterbewegung sei
„immer schwierig, auch anregend, aber nicht prägend“ gewesen, sagte
der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering anlässlich der
Wiedereröffnung des von der Friedrich-Ebert-Stiftung betriebenen
Karl-Marx-Hauses in Trier im Juni 2005. Zwischen Marx und der SPD
stünden „das Godesberger Programm und 142 Jahre praktischer
Politik“. Und: Die Beschäftigung mit Marx gehöre „heute überwiegend
an die Universitäten und ins Museum“.
Konsequenterweise erwähnt ihn die SPD
auch nur noch an einer einzigen Stelle indirekt in ihrem im
vergangenen Jahr in Hamburg beschlossenen Grundsatzprogramm. Die SPD
verstehe sich „als linke Volkspartei, die ihre Wurzeln in Judentum
und Christentum, Humanismus und Aufklärung, marxistischer
Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung hat“,
heißt es dort. Mehr fällt der Partei zu Marx heute nicht mehr ein.
Wenn Geißler Marx
zitiert
Dafür manchem Christdemokraten umso
mehr. Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler bemüht das
„Kommunistische Manifest“, um auf Missstände aufmerksam zu machen:
„Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel
zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die
Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie
jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen
Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes
ausgesetzt.“ Dieses Zitat sei „eine hinreichende Beschreibung des
jetzigen Weltwirtschafts- und Finanzsystems, das moralisch krank und
auf Dauer nicht konsensfähig ist“, schrieb Geißler unlängst im
Tagesspiegel. Heutzutage fehle die politische Macht, um in der
Welt- und Finanzwirtschaft für Ordnung zu sorgen. Wenn die
westlichen Staatsfrauen und -männer nicht endlich aufwachten, würden
sich die Prophezeiungen von Marx und Engels doch noch erfüllen,
warnt der Christdemokrat.
Noch höher im Kurs steht Marx in der
Partei „Die Linke“. Sie nennt selbst ein „Marxistisches Forum“ ihr
eigen. In Bremen hatte die Ex-PDS zur Bürgerschaftswahl im
vergangenen Jahr sogar jemanden als Spitzenkandidaten aufgestellt,
der mit seiner dichten Haarmähne und seiner Bartbracht der einstigen
realsozialistischen Ikone äußerlich ähnlich sah – was die
Lokalpresse flugs dazu verführte, Peter Erlanson zum „Karl Marx von
Bremen“ zu ernennen. Was weder der eine, noch der andere verdient
hat.
Auf jeden Fall beruft sich in der
SED-Nachfolgepartei nicht nur die „Kommunistische Plattform“ immer
mal wieder auf den ollen Zausel aus Trier. Gerne schlagen sich die
Genossen von Gysis bunter Truppe – nicht wenige von ihnen in
früheren Zeiten gründlich in „Marxismus-Leninismus“ geschult – beim
Ringen um die richtige politische Linie Marx-Zitate um die Ohren.
Eben gerade so, wie es passt. Gelernt ist gelernt.
Marx oder Schiller
Gemäß dem alten Handwerkermotto „Was
nicht passt, wird passend gemacht“ bedient sich auch Partei- und
Fraktionschef Oskar Lafontaine gerne bei Marx. Der frühere SPD-Chef
weiß schließlich, was sein Publikum erwartet. Schon im Sommer 2005
hatte er bei einer seiner ersten Auftritte in seinem neuen
politischen Umfeld – bei der Kandidatur auf dem Essener Parteitag
der nordrhein-westfälischen Linkspartei für den Spitzenplatz auf
deren Landesliste für die Bundestagswahl - für frenetischen Jubel
gesorgt, als er gleich zu Anfang seiner Rede recht frei das
„Kommunistische Manifest“ adaptierte: „Ein Gespenst geht um in
Deutschland, es ist das Gespenst der Linkspartei.“
Doch es wäre falsch, solcherlei
Anleihen ideologisch überzubewerten. Denn zu Lafontaines
rhetorischem Repertoire gehörte es von jeher, mit einem kräftigen
Griff in seinen großen Fundus an Zitaten aus der guten, alten Zeit
die Herzen seiner Zuhörer zu erwärmen. Entscheidend ist ihm dabei
der Effekt, weniger der konkrete Inhalt. So wie bei seiner furiosen
Rede auf dem Mannheimer SPD-Parteitag im November 1995, mit der er
den glücklosen Rudolf Scharping vom Thron stürzte. Die
Arbeiterbewegung habe immer die „Internationale“ gesungen,
schmetterte der Napoleon von der Saar damals unter Beifallsstürmen
den Delegierten entgegen: „Alle Menschen werden Brüder.“ Lafontaine
baute auf die Unwissenheit des sozialdemokratischen Parteivolks: Was
scherte es schon, dass der von ihm zitierte Satz keineswegs aus der
„Internationalen“ stammte, sondern vielmehr aus jener Ode „An die
Freude“ Friedrich Schillers, die Beethoven in seiner 9. Sinfonie
verarbeitet hat. Es kommt ihm halt nicht so drauf an.
Was bleibt, ist die
Dialektik
Was außer Politfolklore ist von Marx
geblieben? Es gäbe keine bessere Weise denken zu lernen, als Marx zu
lesen, behauptete kürzlich der österreichische Publizist Robert
Misik. Er hat recht. Denn die Marxsche Methode der radikalen Kritik
und des dialektischen Denkens ist weiterhin hilfreich, um zu
verstehen, warum die gesellschaftlichen Verhältnisse so sind, wie
sie sind. Viel zu wenig beachtet, obwohl höchst aktuell ist überdies
angesichts der Gefahr des islamistischen Terrorismus, aber auch des
Wiedererstarkens christlicher Fundamentalismen die von Marx in
seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“
analytisch brillante wie kompromisslos formulierte Kritik der –
sprich: jeglicher – Religion als „verkehrtes Weltbewusstsein“.
Als Säulenheiliger hat Marx zum Glück
ausgedient. Zeitlebens hatte er selbst nur Verachtung für
Hagiografien, Personenkult und Dogmen übrig. Nicht einmal vom
Marxismus hat er viel gehalten: „Tout ce que je sais, c'est que je
ne suis pas Marxiste.“ („Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein
Marxist bin.“) Allerdings konnte er sich leider nach seinem Ableben
nicht aussuchen, von wem er sich vereinnahmen lassen wollte. Nicht
nur unzählige sonderbar-skurrile Sektierergrüppchen beriefen (und
berufen) sich auf ihn, sondern auch Schlächter wie Stalin, Mao oder
Pol Pot.
Trotz alledem bleibt von Marx an
seinem 125. Todestag seine zutiefst humanistische Erkenntnis, „dass
der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist. Und was auch
bleibt, ist sein daraus abgeleiteter „kategorischer Imperativ“:
„alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Wer
wollte diesem Ziel ernsthaft widersprechen?
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