28
.06.2008

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St. Galler Tagblatt

*  "Falsches Geschichtsbild"
Von Pascal Beucker

Umstrittener Vergleich Türken-Juden – Konflikt um Chef des Zentrums für Türkeistudien in Essen.

Wegen eines umstrittenen, für viele aber ganz einfach inakzeptablen Vergleichs zwischen Türken und Juden will sich das Zentrum für Türkeistudien (ZfT) in Essen von seinem Direktor Faruk Sen trennen. Dieser galt bisher als eine Institution in Integrationsfragen in Deutschland.

Faruk SenEin von Faruk Sen verfasster Artikel hat ihn in die Bredouille gebracht – und er versteht jetzt die Welt nicht mehr. «Ich beziehe deutlich Stellung gegen Antisemitismus in der Türkei und bekomme jetzt Prügel in Deutschland, das kann doch nicht richtig sein», empört sich Sen. Doch so einfach ist der Fall nicht.

Corpus Delicti ist ein Beitrag in der türkischen Wirtschaftszeitung «Referans». Darin schreibt Sen, die Türken seien «die neuen Juden Europas». Obwohl sie seit 47 Jahren in Mittel- und Westeuropa beheimatet seien, «werden sie – wenn auch in unterschiedlichem Ausmass und unterschiedlichen Erscheinungsformen – wie die Juden diskriminiert und ausgeschlossen».

Seit Bekanntwerden des Artikels diese Woche in Deutschland ist die Empörung gross. Nicht nur der Zft-Vorstandsvorsitzende und ehemalige Staatssekretär Fritz Schaumann (FDP) bescheinigte dem 60jährigen Professor Sen ein «eklatant verzerrtes Geschichtsbewusstsein», sondern am Donnerstag beschloss auch der Zentrumsvorstand, Sens Abberufung zu beantragen.

Zentrum kritisiert Schaden

Er habe «dem deutsch-türkischen Verhältnis, der Integrationspolitik und vor allem dem Stiftungszweck schwer geschadet», begründeten die Mitglieder des Vorstands ihre einstimmige Entscheidung. Die endgültige Entscheidung über seine Entlassung trifft das Kuratorium der übergeordneten ZfT-Stiftung.

Sen kündigte an, er werde sich gegen seine drohende Entlassung politisch, juristisch und in der Öffentlichkeit wehren. Der Abberufungsantrag sei «eine Überreaktion des Vorstands» des ZfT, sagte Sen dieser Zeitung.

Sen bedauert

Gleichzeitig betonte Sen, er bedauere inzwischen ausdrücklich seinen unhistorischen Vergleich. Es sei ihm «vollkommen klar, dass nicht nur das Schicksal der Juden in der Nazizeit und das der Türken unvergleichbar sind, sondern die gesamte 2000jährige Geschichte der Judenverfolgung eine einmalige Qualität hat, die historische Vergleiche überhaupt verbietet». Seine Absicht sei es gewesen, «gegen Antisemitismus in der Türkei Stellung zu beziehen und insbesondere die Auslandtürken, die in einer mitunter schwierigen Situation in Europa leben, für eine drohende Ausgrenzung der Juden in der Türkei zu sensibilisieren», beteuert Sen.

Konkreter Hintergrund des Artikels waren antisemitische Angriffe in zahlreichen türkischen Medien auf den jüdischen Unternehmer Isak Alaton. «Ich habe ihm meine Solidarität bekunden wollen», sagt Sen. Keineswegs habe er den Holocaust relativieren wollen.

In Telefongesprächen mit der Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, und dem früheren Präsidenten des Europäischen Jüdischen Kongresses, Michel Friedman, entschuldigte sich Faruk Sen für seinen Fauxpas. «Er hat eingeräumt, einen grossen Fehler gemacht zu haben», sagte uns Knobloch. «Ich höre solche Vergleiche leider immer wieder und kann sie absolut nicht akzeptieren.» Sens Entschuldigung habe sie «zur Kenntnis genommen».

Friedman bezeichnete die Äusserungen Sens als «Ausdruck eines völlig falschen Geschichts- und Gegenwartsbildes». Sie seien unhistorisch und höchst gefährlich. Das habe er Sen auch mit sehr deutlichen Worten mitgeteilt. «Natürlich werden Türken diskriminiert, auch in Deutschland», sagte Friedman dieser Zeitung. Doch das rechtfertige keinesfalls einen solch unhistorischen und politisch unhaltbaren Vergleich, wie Sen ihn gemacht habe.

Einmalige Institution

Das Zentrum für Türkeistudien in Essen forscht und informiert über Zuwanderung, Integration und Migration. Seit seiner Gründung 1985 steht Sen an der Spitze dieser in Deutschland einmaligen Einrichtung. Für seine Verdienste um die deutsch-türkischen Beziehungen erhielt das SPD-Mitglied 2003 das Bundesverdienstkreuz. Sen ist in Ankara geboren, lebt seit 36 Jahren in Deutschland und ist deutscher Staatsbürger.


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