Attila Keskin wirkt etwas
gebrechlich. Vorsichtig schreitet der 62-jährige Obsthändler aus
Mönchengladbach die drei Stufen hinauf aufs Podium. Seit 28 Jahren
lebt er in der Bundesrepublik. Jetzt ist er in das Kölner
Bürgerzentrum Alte Feuerwache gekommen, um eine vergessene
Geschichte zu erzählen: die der Studentenbewegung in der Türkei. Der
leicht untersetzte Mann mit dem ergrauten Schnäuzer und der Brille
war einer ihrer bekanntesten Aktivisten.
"68 à la Turka" hat die
Stipendiatische Projektgruppe Türkei der Hans-Böckler-Stiftung die
von ihr organisierte Veranstaltung überschrieben. Sie hat etwas von
einem Veteranentreffen: Aus Ankara sind Ayten Gümüşel und Halil
Çelimli angereist, die wie Keskin in den bewegten Jahren in der
türkischen Hauptstadt studierten und protestierten. Der Verleger
Ragıp Zarakolu und der Journalist Ertuğrul Kürkçü gehörten zu den
Anführern der Studentenbewegung in Istanbul.
68 à la Turka - das ist tatsächlich
eine vergessene Geschichte. Zu Unrecht. Denn auch in der Türkei
besetzten die Studenten die Universitäten, kämpften für die
Demokratisierung der Hochschulen und der Gesellschaft - und
radikalisierten sich. "Wir glaubten damals, an der Schwelle zur
Revolution zu stehen", erzählt Zarakolu. "Es war bei uns der gleiche
Kampf wie in der Bundesrepublik", sagt Kürkçü. "Nur ihr ward auf der
reicheren Seite des Globusses, und wir kämpften auf der ärmeren
Seite."
Kürkçü gehörte der Föderation der
Revolutionären Jugend an, deren türkisches Kürzel Dev-Genc lautet.
Rund 15.000 Mitglieder umfasste der Studentenverband, der in seiner
Bedeutung mit dem SDS in der Bundesrepublik vergleichbar war. Der
heute 60-Jährige war sein letzter Vorsitzender vor dem Verbot von
Dev-Genc nach dem Militärputsch 1971. Da hatte sich Kürkçü
allerdings bereits entschieden, in den bewaffneten Untergrund zu
gehen. Mit Mahir Çayan gehörte er zu den Mitbegründern der
Volksbefreiungspartei und -front der Türkei (THKP-C). 1972 wurde
Kürkçü verhaftet, bis 1987 saß er im Gefängnis. Keskin hingegen
gründete mit Deniz Gezmis die "Volksbefreiungsarmee der Türkei"
(THKO). "Wir wollten einen Guerillakrieg führen wie Che Guevara in
Südamerika", erzählt er. Doch daraus wurde nichts. 1971 wurden sie
verhaftet und beide zum Tode verurteilt. Gezmis wurde 1972
hingerichtet.
1974 gab das Militär die politische
Macht an eine zivile Regierung unter dem sozialdemokratischen
Kemalisten Bülent Ecevit zurück. Seine Regierung erließ eine
Generalamnestie für politische Gefangene. Die brachte auch Keskin
die Freiheit. Seine THKO hatte sich in dutzende maoistische Gruppen
und Grüppchen aufgespalten. Keskin ging nach Deutschland ins Exil.
Aus der THKP-C Kürkçüs war als dritte Strömung neben den moskau- und
pekingorientierten Organisationen die "unabhängige Linke"
entstanden. Auch sie teilte sich in rivalisierende Gruppen, deren
bedeutendste sich Dev Yol ("Revolutionärer Weg") nannte.
Auch die Entwicklung der aus der
Studentenbewegung entstandenen Neuen Linken in der Türkei ähnelt der
der K-Gruppen in der Bundesrepublik. Und für die einen wie für die
anderen stellte das Jahr 1980 eine Zäsur dar. Die allerdings könnte
unterschiedlicher nicht sein: In der BRD gründeten sich in diesem
Jahr die Grünen, mit deren Hilfe zahlreiche K-Gruppen-Anhänger den
Weg aus ihrer ideologischen Sackgasse fanden. In der Türkei putschte
indes am 12. September erneut das Militär. Mehr als 180.000 Menschen
wurden verhaftet, drei Viertel davon Linksorientierte und
Gewerkschafter. Zehntausende flüchteten ins Ausland.
"Es wird Zeit, dass sich die
Sozialisten in der Türkei neu vereinigen", sagt Halil Celimli, und
die anderen nicken. Das dürfte ein Wunschtraum bleiben. Die Zeit ist
über die Studentenbewegten von einst hinweggegangen. Gleichwohl
erlebt "68" auch in der Türkei derzeit eine erstaunliche
Renaissance. Ertugrul Kürkçü bemerkt zum Abschluss: "Heute ist es
trendy, ein 68er in der Türkei zu sein." Attila Keskin lächelt.