Nr. 11 / 64. Jhrg. / 12.03.2009

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Jüdische Allgemeine

  Zu Staub
Von Pascal Beucker

Im eingestürzten Kölner Stadtarchiv lagerten auch viele jüdische Dokumente.

Noch trauert man in Köln um die zwei Toten, die beim Einsturz des Stadtarchivs zu beklagen sind. Und noch graben die Helfer, oft nur mit ihren Händen, nach den verschütteten  Archivalien. 30 Kilometer Regalfläche war in dem Gebäude untergebracht. Dokumente aus mehr als 1.000 Jahren kölnischer und rheinischer Geschichte. Die älteste Urkunde stammte aus dem Jahr 922. Zu den Archivalien, die zu verschwinden drohen, gehören auch zahlreiche Zeugnisse jüdischen Lebens im Rheinland. Ob sie unbeschädigt sind und geborgen werden können, wird man vermutlich erst in einigen Wochen, vielleicht Monaten sagen können.

Am Dienstag vergangener Woche war das 1971 bezogene sechsgeschossige Magazingebäude, das als das größte kommunale Archiv nördlich der Alpen galt, in einen tiefen Erdkrater gestürzt, der sich auf der Severinstraße in der Kölner Südstadt gebildet hatte. Verantwortlich dafür soll der Neubau einer Kölner U-Bahn-Strecke sein. Das Unglück sei ein „Super-GAU für die historische Forschung in Deutschland und Mitteleuropa“, sagte Kölns Kulturdezernent Georg Quander. Es handele sich um den wohl „größten Schaden an Archivgut seit dem Zweiten Weltkrieg“. Zum Stolz des Stadtarchivs gehörten nicht zuletzt die seit 1130 in Köln belegten  Schreinsbücher. Die Vorläufer der deutschen Grundbücher gelten als einzigartig und unersetzbar. „Das ist ein Häuserverzeichnis aus dem Mittelalter, alles Unikate, die so kostbar waren, dass sie in Schreinen aufbewahrt wurden“, erläutert Robert Kretzschmar, Vorsitzender des Verbands deutscher Archivare.

Die Schreinsbücher gelten auch als bedeutende Zeugnisse jüdischen Lebens am Rhein. Denn in ihnen wurden die gesamten Immobilienbewegungen im Kölner Judenviertel notiert, das im Mittelalter eines der wichtigsten Europas war. Die Juden hätten die Angewohnheit besessen, bei An- und Verkäufen an die auf Lateinisch verfassten Dokumente Anmerkungen auf Hebräisch zu setzen, so Helmuth Fußbroich vom Verein zum Bau eines Jüdischen Hauses und Museums in Köln. Dabei hätten sie nicht nur den Namen des Käufers vermerkt, sondern auch die der Väter und Großväter. „Damit konnte man in Köln ganze genealogische Stammbäume jüdischer Familien bestimmen“, sagt Fußbroich. „Das ist etwas Einmaliges auf der ganzen Welt, denn wir sprechen von der Zeit vom 12. bis 15. Jahrhundert.“

Im Stadtarchiv lagerten auch die „Judenprivilegien“, in denen beispielsweise die Aufenthaltsgenehmigungen der jüdischen Bevölkerung geregelt wurden, ebenso wie die Anordnungen des Rates, die einst das Leben der Juden in Köln bestimmten. Auch das Begründungsschreiben des Rates an den Kaiser Sigismund von 1431, in dem die Vertreibung der Juden aus der Domstadt begründet wurde, befand sich unter den Dokumenten des Archivs.

Doch nicht nur das Mittelalter war im dem Haus, das nunmehr nur noch ein Schuttberg ist, reich vertreten: Gravierend ist auch der mögliche Verlust der rund 750 Nachlässe oder Teilnachlässe aus der jüngeren Vergangenheit. Unter ihnen befanden sich auch die von gebürtigen Kölnern jüdischer Abstimmung, angefangen von dem Komponisten Jacques Offenbach bis hin zu dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer. So besaß das Archiv unter anderem die Korrespondenz, die Mayer mit  dem jüdischen Lyriker Paul Celan geführt hat. Aufbewahrt wurden im Übrigen auch Handschriften von Karl Marx, der mehrere Jahre in Köln gelebt und gearbeitet hatte. Dessen Beiträge in der „Rheinischen Zeitung“ konnte man ebenfalls hier lesen, da sich ihr Redaktionsarchiv in dem eingestürzten Gebäude befand. Ansonsten enthielt das Stadtarchiv das ein oder andere besonders aus jüdischer Sicht interessante Dokument jüngeren Datums, darunter die Akten der Vereinigung ehemaliger Kölner und Rheinländer in Haifa. 1993 hatte deren Vorsitzender Heinrich Schupler dem Archiv die Papiere übergeben. Außerdem befanden sich hier noch 28 Kartons an Unterlagen der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit von der Gründung 1958 bis Mitte der 90er-Jahre.

Klassische Judaica befanden sich hingegen nur sehr wenige in dem Haus. Das erklärt sich vor allem aus dem Umstand, dass in Köln auch noch die Germania Judaica ansässig ist. Die 1959 auf Initiative Kölner Bürger wie des Schriftstellers Heinrich Böll und des Journalisten Wilhelm Unger gegründete Institution, die im Gebäude der städtischen Zentralbibliothek im Josef-Haubrich-Hof untergebracht ist, besitzt mit etwa 80.000 Bänden zur Geschichte des deutschsprachigen Judentums ab der Frühen Neuzeit die größte Sammlung auf diesem Gebiet in Europa. Darüber hinaus gibt es noch die Bibliothek des Martin-Buber-Instituts für Judaistik an der Universität Köln. Deren Schwerpunkt liegt auf Literatur der rabbinischen Epoche und dem Mittelalter.

Gleichwohl wurden auch einige mittelalterliche Judaica in dem Gebäude in der Severeinstraße aufbewahrt. So enthielt die Handschriftensammlung des Stadtarchivs mehrere he- bräische Fragmente, darunter Teile einer Torarolle und mehrere Seiten aus dem babylonischen Talmud. Auch drei Blatt aus einem medizinischen Traktat von 1396/97 über den Aderlass befanden sich hier. Der Text zählte zu den frühesten erhaltenen jiddischen Schriftstücken. Insgesamt umfassten die hebräischen Fragmente 20 Mappen mit 34 Blättern. Sie könnten nun unwiederbringlich verloren sein. Wie so vieles andere.

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