Geklaute Stahlbügel, gefälschte Bauprotokolle: Der Kölner
U-Bahn-Skandal weitet sich aus. Am Samstag muss ein Bauloch geflutet
werden.
Die Stimmung im altehrwürdigen Gürzenich ist
gereizt. Die Informationsveranstaltung der Stadt Köln und ihrer
Verkehrsbetriebe KVB dauert nicht einmal eine Minute, da schallt
bereits der erste erboste Zwischenruf durch den Saal. "Verbrecher",
ruft eine Frau in Richtung des Podiums. Dort, wo im Karneval sonst
der Elferrat seinen Platz hat, sitzen an diesem Abend die
Verantwortlichen für Kölns größtes Bauvorhaben: die
Nord-Süd-Stadtbahn. Aufgereiht auf der Bühne, versuchen sie die von
immer neuen Skandalmeldungen tief verunsicherten Bürger und Anwohner
zu beruhigen.
Fast ein Jahr ist es nun her, dass die Domstadt
die größte Katastrophe ihrer jüngeren Geschichte erlebte: den
Einsturz des historischen Stadtarchivs. Immer noch ist nicht
geklärt, was genau das Unglück am 3. März 2009 ausgelöst hat, bei
dem zwei Menschen ihr Leben verloren. Fest steht nur: Ohne den
umstrittenen U-Bahn-Bau würde das mehrstöckige Magazingebäude in der
Kölner Severinstraße heute noch stehen.
Fest steht inzwischen ebenfalls: Sowohl an der
unmittelbar angrenzenden U-Bahn-Baustelle am Waidmarkt als auch an
weiteren geplanten Haltestellen wurde in einem erschreckenden Ausmaß
gepfuscht und manipuliert. Wer daran die Schuld trägt? "Schau’n Sie,
Schuld werden alle akzeptieren, wenn sie tatsächlich erwiesen ist",
sagt Jochen Keysberg, der die in der "Arge Los Süd"
zusammengeschlossenen Baufirmen Bilfinger Berger, Wayss & Freitag AG
und die Ed. Züblin AG auf dem Podium repräsentiert. Er habe volles
Verständnis für den eingetretenen Vertrauensverlust.
Unumwunden räumt Keysberg ein, dass zahlreiche
Vermessungsprotokolle gefälscht wurden. Auch dass – der
Stabilisierung der Schlitzwandlamellen dienende – Stahlbügel nicht
verbaut, sondern an Altmetallhändler verscherbelt wurden, bestreitet
der Ingenieur der Firma Bilfinger Berger nicht. Beides sei zwar
absolut inakzeptabel und sicherlich kriminell, aber scheide als
Ursache für die Havarie am Waidmarkt aus, betont er.
Die entdeckten Manipulationen hätten auch keine
Auswirkungen auf die Standfestigkeit der anderen Baustellen. "Die
Sicherheit auch am Heumarkt ist jederzeit gegeben", wiegelt Keysberg
ab. "Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen."
Auch wenn es weder Keysberg noch sonst einer der
elf Vertreter auf dem Podium offen ausspricht: Stunde um Stunde
steigt der Wasserstand des Rheins und damit auch der
Grundwasserspiegel. Am Samstag wird die kritische Hochwassermarke
von 6,50 Meter überschritten werden. Dann bleibt nur noch die
Flutung, damit die unterirdischen Wände dem Druck des Grundwassers
standhalten. Am Freitag wird bekannt, dass bis Sonntagmorgen 14.500
Kubikmeter Wasser in die Grube gepumpt werden. Abhängig von der
Entwicklung des Grundwasserstandes wird später noch aufgefüllt.
"Fluten bedeutet für Sie Sicherheit", versucht
der sozialdemokratische Stadtdirektor Guido Kahlen die Befürchtungen
der Zuhörer zu zerstreuen. "Wenn wir das ordnungsgemäß hinkriegen,
gibt es keinen Grund zu evakuieren." Denn sonst werde das Vertrauen
in das Bauwerk ja vollends zerstört.
Allerdings ist auch so das Vertrauen in das
Projekt und seine Verantwortlichen tief erschüttert. Zu viel wurde
in der Vergangenheit vertuscht und schöngeredet. Hausbesitzer, die
Setzrisse feststellten, wurden lange Zeit nicht ernst genommen. Mehr
als 400 Gebäudeschäden soll der Bau der U-Bahn bereits verursacht
haben. Selbst als ein Kirchturm umzukippen drohte, vermittelte die
KVB stets den Eindruck, sie habe alles im Griff – bis dann das
Stadtarchiv einstürzte.
Die jüngsten Enthüllungen über die entwendeten
Stahlbügel und gefälschten Messungsprotokolle haben nun den Kölnern
den Rest gegeben. Die beiden ersten Grundsatzbeschlüsse für den Bau
der neuen U-Bahn-Strecke stammen noch aus den Jahren 1992 und 1996.
Als einzige Fraktion stimmten damals die Grünen dagegen. Sie hatten
für eine oberirdische Lösung plädiert, die kostengünstiger und
sicherer gewesen wäre.
Im Jahr 2002 billigten sie jedoch den Vorschlag
der Verwaltung, den im U-Bahn-Bau völlig unerfahrenen Kölner
Verkehrsbetrieben die Bauherrenschaft aus steuerlichen Gründen zu
übertragen. Eine Milchmädchenrechnung: Die Kosten schnellten in die
Höhe. Derzeit sollen sie sich laut Walter Reinarz von den KVB auf
1,04 Milliarden Euro belaufen. Darin sind die durch das Unglück am
Waidmarkt und die nun veranlassten zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen
verursachten Mehrkosten nicht einmal einberechnet.
Hinzu kommen außerdem noch die Kosten für den
"Archivkomplex", die Stadtdirektor Kahlen auf deutlich mehr als 500
Millionen Euro beziffert. Die Ratsentscheidung, die Verkehrsbetriebe
mit dem Bau zu beauftragen, erwies sich als Riesenfehler. Noch
fataler aber war es, dass ihnen auch noch die Aufsicht über den Bau
übertragen wurde. Das sei gewollte und gelebte Praxis überall in
Nordrhein-Westfalen, kommentierte der frühere Kölner CDU-Chef
Reinarz schnoddrig.
Möglich wurde diese Übertragung durch die
Bundesverordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen
(Paragraf 5), die es der eigentlich zuständigen Bezirksregierung
Düsseldorf erlaubte, die Aufsicht an die Stadt Köln zu delegieren,
die sie an die Verkehrsbetriebe weiterreichte. Der Bauherr
kontrollierte sich also selbst – und somit gar nicht.
Wie widersinnig dieses Prinzip ist, hat nach dem
Einsturz des Stadtarchivs inzwischen auch das nordrhein-westfälische
Bauministerium erkannt – und nun eine "förmliche Trennung zwischen
technischer Aufsicht und Bauherrenfunktion" verfügt.
Außer auf die Kölner Verkehrsbetriebe richtet
sich die Wut der Bürger vor allem auf die von den Verkehrsbetrieben
beauftragte Arbeitsgemeinschaft (Arge) Los Süd. Stadtdirektor Kahlen
sagte bei der Veranstaltung im Gürzenich, man prüfe eine Kündigung
des Vertrags mit der Arge Los Süd. Außerdem hat die KVB inzwischen
Anzeige wegen Betrugs erstattet.
Besonders der federführende Konzern Bilfinger
Berger steht heftig in der Kritik. Er soll nicht nur in Köln Pfusch
am Bau geliefert haben. Die Deutsche Bahn engagierte Bilfinger
Berger für die neue Hamburger Oberhafenbrücke sowie den Bau der
ICE-Trasse Nürnberg-Ingolstadt. Inzwischen geht die
Staatsanwaltschaft Hinweisen nach, auch bei der milliardenteuren
Hochgeschwindigkeitsstrecke könnte es zu systematischen
Manipulationen gekommen sein. Es besteht der Verdacht, dass mehr als
die Hälfte der Protokolle zu 600 Metallankern, die die Stützwände
der Trasse sichern sollen, möglicherweise gefälscht wurden. Es sei
"alles eingeleitet, um Klarheit zu bekommen", versicherte Bahnchef
Rüdiger Grube nach einer Befragung im Verkehrsausschuss des
Bundestags in Berlin.
Anders sieht es in Düsseldorf aus. Am Dienstag
musste Bilfinger Berger eingestehen, dass es auch bei dem
U-Bahn-Projekt Wehrhahnlinie zu "Unregelmäßigkeiten" gekommen ist.
Es hätten sich Anzeichen ergeben, dass einige
Schlitzwand-Vermessungsprotokolle nicht ordnungsgemäß erstellt
wurden, teilte der Konzern mit. Darüber hinaus könne auch hier bei
mehreren Schlitzwandlamellen "nicht zweifelsfrei ausgeschlossen
werden, dass Schubhaken zur Verbindung von Bewehrungskörben nicht in
vorgeschriebenem Umfang eingebaut worden sind".
Allerdings sei der Bauzustand in Düsseldorf nicht
vergleichbar mit dem in Köln, beteuert Bilfinger Berger. Da das
650,5 Millionen Euro teure Projekt in der Landeshauptstadt erst am
Anfang stünde, könnten "im Zuge des weiteren Aushubs bei Bedarf
zusätzliche Verstärkungen eingebaut werden". Die Standsicherheit sei
in vollem Umfang gewährleistet. Aber wer glaubt solchen Beteuerungen
noch?