Guido Westerwelles Äußerungen über
Hartz-IV-Empfänger sind die Fortführung der Strategie von
Jürgen W. Möllemann.
Das Ziel des »Projekts 18« schien greifbar
nahe, man wähnte sich bereits auf dem Weg zur Volkspartei.
Doch nach der Bundestagswahl, die der FDP mit 14,6 Prozent
der Stimmen das beste Ergebnis ihrer Geschichte beschert
hatte, folgte schnell die Ernüchterung. Der völlig
missratene Start der schwarz-gelben Koalition bescherte der
FDP dramatische Verluste in den Umfragen der
Meinungsinstitute. Von Monat zu Monat sanken die Werte,
zuletzt auf nur noch zwischen acht (Infratest Dimap) und
sieben Prozent (Forsa). Schwarz-Gelb muss nun sogar um den
Sieg bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai
fürchten.
Guido Westerwelles verbale Angriffe auf
die vermeintlich faulen Hartz-IV-Empfänger, die sich auf
Kosten der Allgemeinheit ein schönes Leben machten, sind da
der plumpe Versuch eines Befreiungsschlags. Die Ausfälle des
Parteivorsitzenden gegen die Schwächsten der Schwachen sind
mitnichten einer Panikattacke entsprungen, wie einige
Kommentatoren vorschnell urteilten.
Westerwelle verfolgt vielmehr eine
aus Oppositionszeiten bewährte Strategie.
In der Pose des einsamen Kämpfers gegen die politische
Korrektheit und den »linken Zeitgeist« versucht er es mit
ideologischer Polarisierung: »Fleißige« versus »Faule«,
guter Markt gegen bösen Staat, die leuchtende liberale
Freiheit gegen die finstere sozialistische Versuchung. In
einem Gastkommentar in der Welt fasste Westerwelle seine
schlichte Botschaft in jenen zwei grotesken Sätzen zusammen,
die den Beginn seiner unappetitlichen Kampagne markierten:
»Die Hartz-IV-Debatte trägt sozialistische Züge«, lautete
der eine. »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand
verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein«, lautete der
andere. Westerwelle sei »neben und außer sich« und auf einem
rhetorischen »Amoklauf«, kommentierte Heribert Prantl in der
Süddeutschen Zeitung und prognostizierte, er »erreicht so
das Gegenteil dessen, was er eigentlich will«. Prantl irrt.
Die Aufregung, die Westerwelles zynische Sätze hervorgerufen
haben, war wohlkalkuliert.
Mit Verve versucht Westerwelle, den
»Extremismus der Mitte« zu aktivieren und die zu erreichen,
die ohne Rücksicht auf »die da unten« oben ankommen wollen.
Er appelliert an die niederen Instinkte eines
sozialdarwinistisch radikalisierten Kleinbürgertums, das
nach oben buckelt, aber allzu gerne auf die eintritt, die
ohnehin am Boden liegen. Seine Strategie ist ohne Zweifel
riskant. Denn mit dem Regierungseintritt haben sich die
Erwartungen an ihn gewandelt. Von einem Außenminister
verlangt die Öffentlichkeit eigentlich ein distinguierteres
Auftreten.
Sogar in den eigenen Reihen zeigte man
sich daher zunächst irritiert, und manch bürgerlich
wohlerzogener Freidemokrat rümpfte indigniert die Nase über
die Äußerungen seines Vorsitzenden. Aber das Kalkül scheint
aufzugehen. Nicht nur, dass innerhalb weniger Tage die
öffentliche Empörung über Spenden von Mövenpick und betuchte
Steuerhinterzieher der Aufregung über Arbeitslose, die sich
angeblich in der »sozialen Hängematte« vergnügen, gewichen
ist. Auch die Umfragewerte der FDP steigen. Nach dem am
Freitag vergangener Woche veröffentlichten
»Deutschland-Trend« von Infratest Dimap liegt die Partei
wieder bei zehn Prozent.
Das scheint auf den ersten Blick
paradox angesichts der großen
Empörung über Westerwelles rabiate Wortwahl. Aber es
entspricht der einfachen Rechnung, die Westerwelles
einstiges Vorbild, sein späterer Rivale Jürgen W. Möllemann,
aufstellte: Wenn er in einer Kneipe mit zehn Leuten
diskutiere, sei sein Ziel nicht, die Mehrheit am Tisch zu
überzeugen. Wenn ihm nur einer oder zwei beipflichteten,
reiche ihm das schon, denn dann liege seine Partei schon bei
zehn oder 20 Prozent.
»Es ist Zeit, der Neidgesellschaft eine
neue Anerkennungskultur entgegenzusetzen«, lautet ein immer
wieder gerne in die Reden Westerwelles eingeflochtener Satz.
Für Hartz-IV-Empfänger gilt er offenbar nicht. In seinem
Kommentar in der Welt empörte sich der Vizekanzler darüber,
dass es Menschen gibt, »die für ihre Arbeit weniger
bekommen, als wenn sie Hartz IV bezögen«. Das ist
tatsächlich empörend, weil es bedeutet, dass der Verkauf
ihrer Arbeitskraft ihnen nicht einmal mehr die Sicherung der
Existenz auf niedrigstem Niveau gewährleistet. Die Zahlen
sind alarmierend: 11,5 Millionen Bundesbürger lebten einer
aktuellen Erhebung des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung zufolge im Jahr 2008 in Armut, und das
bei »nur« 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfängern. Das entspricht
gut 14 Prozent der Gesamtbevölkerung – und rund einem
Drittel mehr als vor zehn Jahren.
»Es mag mich der linke Zeitgeist dafür
kritisieren, ich bleibe dabei: Leistung muss sich lohnen«,
tönte Westerwelle bei seinem Auftritt am politischen
Aschermittwoch der FDP im bayrischen Straubing. Er wolle
»nicht leben in einer Gesellschaft, die nur noch aus Reich
besteht und nur noch aus Arm«. Ginge es ihm um mehr als um
Demagogie, müsste Westerwelle kämpferisch den immer weiter
wachsenden Niedriglohnsektor kritisieren und ein deutlich
höheres Einkommen für die von ihm so gerne angeführte
verheiratete Kellnerin mit zwei Kindern fordern, anstatt
Kürzungen bei Hartz IV zu propagieren. Dann würde sich
Leistung für sie tatsächlich wieder lohnen. Davon, dass
andere noch weniger Geld zum Leben bekommen sollen, hat
hingegen weder die Kellnerin noch sonst ein Billigjobber
etwas.
Aber eine derartige Sichtweise ist
Westerwelle selbstverständlich gänzlich fremd.
Schließlich müsste er sonst konsequenterweise dagegen sein,
dass jene Klientel, der sich die FDP verpflichtet fühlt,
andere zu Hungerlöhnen ausbeutet. Doch die wählen seine
Partei ohnehin nicht. Wie könnte er das tun? Also propagiert
er lieber niedrige Steuersätze als den Schlüssel zu
Wohlstand und Fortschritt. Als »Prätorianergarde beleidigter
Banker, Großunternehmer und Spekulanten« (Franz Walter)
bedient die FDP nun mal genau jene Bevölkerungsgruppe, die
nicht gerne Steuern zahlt und der üppige Gewinne wichtig,
sozialstaatliche Leistungen aber zuwider sind. Zutreffend
bezeichnete der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel,
Westerwelle am Aschermittwoch als den »Dienstboten
derjenigen, die sich den Staat zur Beute machen wollen«.
Westerwelle rufe »Neidreflexe« hervor, »um für seine
Klientel daraus Vorteile zu ziehen«, erkannte die bayerische
Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) ganz richtig.
Mit Eltern, die beide Rechtsanwälte sind,
und eine eigene Kanzlei sowie eine Pferdezucht besitzen,
entstammt Westerwelle keiner Familie, in der materielle Not
zu den brennendsten Problemen gehörte. Stets großzügig
alimentiert von Papa, Partei und Parlament, hat er es noch
nicht nötig gehabt, seine Arbeitskraft auf dem
vielgepriesenen freien Markt zum Kauf feilzubieten. Nach
seinem Studium verbrachte Westerwelle die kurze Zeit, bis er
sich auch offiziell als Berufspolitiker bezeichnen konnte,
in der väterlichen Kanzlei.
Schon familiär bedingt galt seine
Solidarität von jeher jenen, die schwer an ihrer Steuerlast
zu tragen haben, weil sie den Hals nicht voll genug kriegen
können. Deren Nöte kennt er aus nächster Nähe: Mitte der
neunziger Jahre ermittelte die Staatsanwaltschaft auch gegen
ihn, weil sie den Verdacht hegte, der Vater habe
steuerpflichtige Einnahmen aus seiner anwaltlichen Tätigkeit
auf ein Konto des Filius überwiesen und damit dem Fiskus
entzogen. Der gerade frisch gekürte FDP-Generalsekretär
beteuerte seinerzeit, von den Transaktionen des Seniors
nichts gewusst zu haben. Als 21jähriger Jurastudent habe er
seinem Vater bei der Kontoeröffnung 1983 eine Vollmacht
erteilt und sich dann nie wieder um das Konto gekümmert. Die
Staatsanwaltschaft glaubte ihm, das Ermittlungsverfahren
wurde Anfang 1995 eingestellt.
Seit Mitte der neunziger Jahre lebt
Westerwelle bereits als Bundestagsabgeordneter von
staatlichen Transferleistungen,
die weit über dem Regelsatz für einen Hartz-IV-Empfänger
oder dem Einkommen der verheirateten Kellnerin mit zwei
Kindern liegen. Mit den für Leistungsempfänger seiner
Kategorie üblichen Hinzuverdienstmöglichkeiten und
Minijobs – Vorträge, Aufsichts- und
Beiratsmitgliedschaften – verdiente er sich nach eigenen
Angaben in der vergangenen Legislaturperiode mindestens
270 000 Euro hinzu. Die tatsächliche Summe dürfte noch
deutlich höher gelegen haben.
Einer »klassischen« Erwerbsarbeit musste
der 48jährige Schmock bislang noch nicht nachgehen. Eine
Ahnung davon, wie es sich in den Souterrains der
Gesellschaft lebt, besitzt er erst recht nicht. Seine
Vorstellungen vom Prekariat speisen sich vor allem aus einem
Kurzbesuch im »Big-Brother«-Container vor zehn Jahren. In
seiner Welt trifft er ansonsten solche Menschen nicht. Unter
den 93 Abgeordneten der FDP-Bundestagsfraktion finden sich
76 Abgeordnete mit Universitätsabschluss, aber kein einziger
Hauptschüler. Gerade einmal sechs der Parlamentarier
verfügen nur über die Mittlere Reife. Da verwundert es
übrigens auch nicht, dass die FDP, verbissen wie keine
andere Partei, am dreigliedrigen Schulsystem festhält und
sich etwa für den reaktionären Volksentscheid gegen das
schwarz-grüne Schulreförmchen in Hamburg einsetzt: Oben muss
oben, unten muss unten bleiben.
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