SPD und Grüne wollen nun doch
eine Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen bilden und
geraten damit in Abhängigkeit von der Linkspartei. CDU und
FDP kündigen eine Fundamentalopposition an.
Jetzt wagen sie es also doch. Seit
Dienstag verhandeln SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen
über einen Koalitionsvertrag. Nach vergeblichen
Sondierungsgesprächen mit CDU, FDP und Linkspartei versuchen
es die beiden Parteien nun ohne eigene Parlamentsmehrheit.
Mitte Juli will sich dann die SPD-Landesvorsitzende
Hannelore Kraft zur ersten Ministerpräsidentin des
bevölkerungsreichsten Bundeslandes wählen lassen – zur Not
im vierten Wahlgang, in dem ihr die relative Mehrheit
reichen würde. Mit 90 Sitzen verfügen SPD und Grüne im
Düsseldorfer Landtag zwar über zehn Stimmen mehr als CDU und
FDP, zur absoluten Mehrheit fehlt ihnen jedoch eine Stimme.
Zünglein an der Waage ist somit die Linkspartei mit ihren
elf Mandaten.
Zunächst hatte Kraft kein Risiko eingehen
wollen. Nach ihrer Einschätzung barg ein schneller Griff
nach der Macht zu viele unabwägbare Gefahren. Die 49jährige
Mülheimerin scheute sich, mit Unterstützung der Linkspartei
gewählt zu werden und dadurch eine neue Debatte über Rot-Rot
heraufzubeschwören. Da sie andererseits jedoch befürchtete,
ohne die Stimmen der neu im Parlament vertretenen
Linkspartei könnten ihr Abweichler in den eigenen Reihen das
gleiche Schicksal wie Andrea Ypsilanti und Heide Simonis
bereiten, wollte sie lieber Rüttgers als geschäftsführenden
Ministerpräsidenten vorläufig im Amt belassen. Deswegen ließ
sie noch am Montag vergangener Woche den SPD-Landesparteirat
einstimmig beschließen: »Eine SPD-geführte
Minderheitsregierung wird derzeit nicht angestrebt.« Sie
wolle »den Politikwechsel nun zunächst aus dem Parlament
heraus gestalten«, schrieb Kraft in einem Brief an die
Parteibasis. Ihre Absicht war es, mit einer
Zermürbungsstrategie den christdemokratischen Konkurrenten
zu besiegen. Wenn SPD und Grüne ihn nur lange genug
piesackten, werde Rüttgers schon irgendwann den Weg für
Neuwahlen freimachen.
Damit hätten die Sozialdemokraten
Rüttgers einen großen Gefallen getan.
Denn seine letzte Chance bestand darin, Zeit zu gewinnen.
Die schien ihm die SPD geben zu wollen. »Die Landesregierung
wird ihre Verantwortung so lange engagiert wahrnehmen, wie
der Landtag dies bestimmt«, reagierte der angeschlagene
Regierungschef denn auch gelassen. Sein Ziel war es nun, so
lange im Amt zu bleiben, bis sich die politische Stimmung
für die CDU wieder verbessert. Bis dahin wollte er sich als
über dem Bündnisgezänk stehender Landesvater präsentieren.
Die Verfassung hätte ihm dabei weit mehr Spielraum gelassen,
als Kraft den Anschein erwecken wollte. Mehr als ein paar
symbolische Gesetzesinitiativen wären für sie kaum möglich
gewesen. Denn schließlich hätten SPD und Grüne bei allen
substantiellen Fragen, die Geld kosten, einen
Finanzierungsvorschlag mitliefern müssen. »Für zusätzliche
Ausgaben im Haushalt gelten Verfassung und Schuldenbremse«,
erklärte Rüttgers entsprechend selbstbewusst.
Während er hinter den Kulissen ausloten
ließ, wie er seine verfassungsrechtlichen Befugnisse maximal
ausnutzen kann, pflegte der CDU-Landeschef nach außen hin
die staatsmännische Pose: »Wir haben jetzt eine Phase, die
zur Zusammenarbeit zwingt.« Die von ihm geführte
Landesregierung und die CDU-Landtagsfraktion würden sich
deshalb auch nicht von vornherein Anträgen anderer Parteien
verweigern, sondern »unterstützen, was im Interesse des
Landes und seiner Menschen ist«. Gleichzeitig betonte
Rüttgers seine Bereitschaft zu einer großen Koalition, um
Kraft den schwarzen Peter zuzuschieben: »An mir liegt’s
nicht.« Die Verweigerung der SPD sei eine »Form der
Gestaltungsverweigerung«.
Kein Wunder, dass die Grünen äußerst
verstimmt auf das strategische Chaos der Sozialdemokraten
reagierten. »Herr Rüttgers klebt am Sessel, obwohl er
krachend abgewählt worden ist, und die SPD verweigert sich
dem Regierungswechsel«, klagte die grüne
Landtagsfraktionsvorsitzende Sylvia Löhrmann. Der von Kraft
eingeschlagene Weg sei der falsche. »Allein aus dem
Parlament heraus zu gestalten, stößt unmittelbar an
Grenzen«, kritisierte sie. Deshalb plädierten die Grünen
nachdrücklich »für die Minderheitsregierung einer rot-grünen
Koalition auf der Grundlage eines Koalitionsvertrages«.
Falls die Sozialdemokraten das »Wagnis scheuen« würden, gebe
es aus grüner Sicht nur eine Alternative: Dann müsse die SPD
»in die große Koalition gehen«.
Nicht ganz ohne Druck der
Bundespartei setzte Kraft am
Donnerstag vergangener Woche zur Rolle rückwärts an – mit
einer abenteuerlichen Begründung: Die politische Situation
habe sich »grundlegend verändert«, erklärte Kraft. Zuvor
hatte der FDP-Landesvorsitzende Andreas Pinkwart gegenüber
der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung geäußert, dass der
Koalitionsvertrag der vergangenen Legislaturperiode
»abgearbeitet« sei und dass keine Verpflichtung zum Konsens
zwischen CDU und FDP mehr bestehe. Der stellvertretende
Ministerpräsident hatte damit eigentlich nur signalisieren
wollen, dass für ihn ein unterschiedliches
Abstimmungsverhalten beider Parteien noch kein Anlass wäre,
aus der Übergangsregierung auszusteigen. Doch Kraft deutete
seine Aussagen ganz anders: »Jürgen Rüttgers kann sich nach
den Aussagen von Herrn Pinkwart nur noch auf die 67 Stimmen
der CDU-Fraktion im Landtag stützen. Eine handlungsfähige
Regierung gibt es damit in Nordrhein-Westfalen nicht mehr.«
Das Land brauche »jetzt eine stabilere Regierung, als sie
Jürgen Rüttgers noch bieten kann«, so Kraft, die nunmehr
umgehend eine rot-grüne Minderheitsregierung bilden will. Am
Samstag segnete der SPD-Landesparteirat die neue Linie ab –
genauso einstimmig, wie er zuvor das Gegenteil beschlossen
hatte.
Krafts überraschender Kurswechsel
erwischte Schwarz-Gelb auf dem falschen Fuß. Dass er mit
seinen Äußerungen den Anstoß für das rot-grüne Experiment
gegeben habe, sei »absurd«, empörte sich Pinkwart. Es sei
»ja ganz offensichtlich, dass Frau Kraft ein Argument suchen
musste, um ihre überraschende Kehrtwende überhaupt nur
begründen zu können«, meinte der düpierte Freidemokrat. Die
Art und Weise, wie Kraft die Aussagen Pinkwarts missbraucht
habe, sei »politisch wie menschlich gleichermaßen schäbig«,
tobte FDP-Landtagsfraktionschef Gerhard Papke. Für ihn stehe
jetzt fest, dass die Sondierungsgespräche von SPD und Grünen
mit seiner Partei nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver
gewesen seien. »SPD und Grüne setzen brutal auf eine
strategische Mehrheit mit den Linksextremisten«, sagte
Papke.
Als »vorgeschoben und unwahr« bezeichnete
auch Jürgen Rüttgers die Begründung Krafts. »Jetzt droht die
schlimmste Wählertäuschung, die es je in der Geschichte
Nordrhein-Westfalens gegeben hat.« Kraft mache sich mit
ihrer Entscheidung »zum Spielball« und zur »Geisel« einer
Partei, »die nicht auf dem Boden der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht«. Ihr Handeln
sei »unwürdig und unglaubwürdig«, giftete Rüttgers. Von
einem »Verrat an den Idealen der Sozialdemokratie« und einer
»Kampfansage an die demokratischen Parteien« sprach gar
CDU-Landesgeneralsekretär Andreas Krautscheid. Diese Worte
zeigen, wie tief der Schock bei der Union sitzt.
Rüttgers hat nach dem Wahldesaster
lange nicht wahrhaben wollen,
dass seine Zeit in der Düsseldorfer Staatskanzlei nach nur
einer Legislaturperiode schon wieder abgelaufen ist. Er
glaubte, eine große Koalition unter seiner Führung sei für
Kraft alternativlos und er bräuchte nur stoisch abzuwarten,
bis sie zu Kreuze kriecht. Nach der Sitzung des
CDU-Landesvorstands am Samstag kündigte Rüttgers nun an,
nicht gegen Kraft anzutreten. Auch für den Vorsitz der
CDU-Landtagsfraktion stehe er nicht zur Verfügung.
Vorsitzender der Landespartei will er allerdings zunächst
bleiben. Auch wenn es ein Rückzug auf Raten ist, er dürfte
unumkehrbar sein. Die Zeit von Rüttgers ist abgelaufen. Mit
ihm tritt der letzte Getreue Kohls innerhalb der CDU von der
politischen Bühne ab.
Ob das Experiment der rot-grünen
Minderheitsregierung gelingt, ist völlig offen. Kraft geht
es vor allem darum, sich die bestmögliche Ausgangsposition
für Neuwahlen zu erarbeiten, um dann eine stabile Mehrheit
für Rot-Grün zu erreichen. Das kann allerdings nur gelingen,
wenn sie die neue Regierung nicht sofort an die Wand fährt.
Da CDU und FDP bereits angekündigt haben,
Fundamentalopposition zu betreiben, dürfte es um die
erhofften wechselnden Mehrheiten zugunsten ihrer »Koalition
der Einladung« eher schlecht bestellt sein. SPD und Grüne
wären somit abhängig vom Wohlwollen der Linkspartei. Die
Sozialdemokraten gehen dabei davon aus, dass deren
Abgeordnete auch ohne vorherige Absprachen rot-grüne
Gesetzesinitiativen nicht ablehnen werden. Am Wochenende
kündigte Kraft an, zu den ersten Vorhaben werde die
Abschaffung der Studiengebühren gehören: »Ich kann mir nicht
vorstellen, dass das an der Linkspartei scheitert.« Da
dürfte sie richtig liegen.
Krafts Ausgangssituation ist weitaus
komfortabler als die von Andrea Ypsilanti in Hessen 2008.
Wegen eines Vorsprungs von zehn Stimmen gegenüber
Schwarz-Gelb ist sie nicht auf die Unterstützung aller
Linkspartei-Abgeordneten angewiesen. Es reicht bereits, wenn
ein oder zwei Linke nicht gemeinsam mit CDU und FDP gegen
ihre Vorhaben stimmen, sondern sich enthalten. Wirklich
problematisch dürfte es aber beim Haushalt werden, der bis
spätestens Anfang kommenden Jahres verabschiedet sein muss.
Alleine schon, um gegen
Heckenschützen aus den eigenen Reihen abzusichern,
wäre Rot-Grün gut beraten, sich nicht nur auf linke
Einzelstimmen zu verlassen. Um eine Perspektive zu haben,
wird die rot-grüne Minderheitsregierung auf die Linkspartei
zugehen müssen. Bislang jedoch ist das Verhältnis mehr als
unterkühlt. Nach einem gemeinsamen Sondierungsgespräch
bescheinigten SPD und Grüne Mitte Mai der Linkspartei, sie
sei »in der jetzigen Verfassung weder regierungs- noch
koalitionsfähig«. NRW-Linksfraktionschef Wolfgang Zimmermann
sprach hingegen von »offensichtlichen Scheingesprächen«.
Trotzdem gibt sich die Linkspartei weiter
kooperationsbereit. »Wer etwas von uns will, kann mit uns
sprechen«, sagt Zimmermann. Für seine Partei gelte die
Maxime: »Wir wollen, dass sich die Arbeits- und
Lebensbedingungen für die Mehrheit der Menschen in diesem
Land verbessern: für abhängig Beschäftigte, Erwerbslose,
Schüler, Studierende und Rentner.« Das bedeute: »Allen
Initiativen, die diesem Ziel dienen, werden wir zustimmen.«
Einen Blankoscheck für Rot-Grün werde es jedoch nicht geben.
So seien Sozialabbau, Stellenabbau und die Privatisierung
öffentlichen Eigentums mit der Linkspartei »nicht zu
machen«. Da müssten sich SPD und Grüne die Unterstützung von
anderen holen.
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