Nach wochenlangen Sondierungs- und
Koalitionsverhandlungen hat sich in Nordrhein-Westfalen eine
rot-grüne Minderheitsregierung gebildet. Zu ihrem
Regierungsantritt beschränken sich SPD und Grüne auf
Aufräumarbeiten und versuchen die Entscheidungen ihrer
Vorgänger zu revidieren.
Als
sie es geschafft hatte, kamen Hannelore Kraft die Tränen.
Sichtlich gerührt nahm die neue nordrhein-westfälische
Ministerpräsidentin nach ihrer Wahl am Mittwoch voriger
Woche im Landtag die Glückwünsche entgegen. Lange hatte die
SPD-Landesvorsitzende gezögert und musste von der grünen
Landtagsfraktionsvorsitzenden Sylvia Löhrmann zum Sprung in
die Düsseldorfer Staatskanzlei gedrängt werden. Die Angst
vor dem Scheitern war groß. Doch keiner der grünen und
sozialdemokratischen Abgeordneten verweigerte der rot-grünen
Minderheitsregierung die Zustimmung, und auch die
Linkspartei ließ sie nicht auflaufen. Ob das Experiment mehr
als ein Interregnum sein wird, ist allerdings offen. »Wir
wollen keine Übergangslösung, die unweigerlich zu schnellen
Neuwahlen führt«, heißt es im rot-grünen Koalitionsvertrag.
Doch das ist vorerst nur ein Wunsch. »Wir können nicht
wissen: Hält das für fünf Monate oder für fünf Jahre«, räumt
Krafts grüne Partnerin Löhrmann ein.
Löhrmann und Kraft, die ersten beiden Frauen an der Spitze
des bevölkerungsreichsten Bundeslands, hätten die große
Chance zu einem Neuanfang. Die Frage ist allerdings, ob sie
auch den Mut dazu haben. Mit der Bildung der rot-grünen
Minderheitsregierung, so hat FDP-Generalsekretär Christian
Lindner der Ministerpräsidentin vorgeworfen, verlasse sie
den Traditionspfad von Wolfgang Clement und Peer Steinbrück.
Schön wär’s. Denn dieser »Traditionspfad« hat nicht nur die
SPD an Rhein und Ruhr in den Abgrund geführt. Kraft und
Löhrmann würden einen groben Fehler begehen, knüpften sie
einfach nur an die Politik des ersten und aus guten Gründen
im Jahr 2005 gescheiterten rot-grünen Versuchs an. Der
zwischen ihnen geschlossene Koalitionsvertrag verrät nicht,
welchen Weg ihre »Koalition der Einladung« einschlagen wird.
Auch wenn das 89seitige Papier nicht mit wohlklingender
sozial-ökologischer Politprosa geizt und sich Wolfgang
Clement in Focus bitter beklagte, es lese sich »wie ein
Bußgeldkatalog für die Agenda 2010«, enthält der Vertrag nur
wenig Konkretes und ist entsprechend in alle Richtungen
interpretierbar.
So erscheint die Aufregung der Opposition von CDU und FDP
insbesondere bei der Bildungspolitik reichlich verfrüht.
Rot-Grün werde die Axt an das geliebte Gymnasium legen,
klagte sie lautstark. FDP-Fraktionschef Gerhard Papke warf
der neuen Regierung sogar eine Schulpolitik vor, wie es sie
sonst nur in der DDR gegeben habe: »Das ist nichts anderes
als ein Fünfjahresplan zur Zerstörung der Bildungsvielfalt.«
Doch davon kann keine Rede sein. Die grüne Schulministerin
Löhrmann möchte sich die Lust am Regieren offenkundig nicht
durch Proteste konservativer Elternverbände und der
schwarz-gelben Opposition, die im Wahlkampf das Gespenst von
der »Einheitsschule« gezeichnet hatte, vermiesen lassen.
Zwar heißt es im Koalitionsvertrag: »Längeres gemeinsames
Lernen macht unser Bildungssystem gerechter und
leistungsstärker.« Aber das dreigliedrige Schulsystem soll
auch unter Rot-Grün nicht abgeschafft, sondern nur ergänzt
werden. Neben den als Alternative bereits bestehenden
Gesamtschulen könnten demnächst ähnlich wie in Hamburg
»Gemeinschaftsschulen« entstehen (Jungle World 28/10). Die
Entscheidung über deren Errichtung und auch, ob sie anstelle
bestehender Schulen etabliert oder zu diesen addiert werden
sollen, wollen SPD und Grüne den einzelnen Städten
überlassen. Damit verlagern sie den »Schulkampf« auf die
lokale Ebene. De facto dürfte das vor allem auf eine
Bestandsgarantie für Gymnasien hinauslaufen.
An den Sitzungstagen vor der Sommerpause beschäftigte sich
Rot-Grün ausschließlich mit Aufräumarbeiten. In einem
Parforceritt manövrierten SPD und Grüne am Donnerstag und
Freitag voriger Woche zahlreiche Gesetzentwürfe in der
ersten Lesung durch den Landtag, mit denen Entscheidungen
der abgewählten schwarz-gelben Regierung korrigiert werden
sollen. Den Kommunen soll wieder mehr wirtschaftlicher
Handlungsspielraum eingeräumt und Einschränkungen der
Mitbestimmung im öffentlichen Dienst zurückgenommen werden.
Auch das umstrittene Kinderbildungsgesetz (KiBiz) soll
reformiert, die Drittelparität in den Schulkonferenzen
wiedereingeführt und die Kopfnoten auf Schulzeugnissen und
die verbindlichen Grundschulempfehlungen abgeschafft werden.
Von einem »Tribunal über die ehemalige Landesregierung«
sprach der CDU-Abgeordnete Klaus Kaiser.
Beim Thema Studiengebühren entging die neue rot-grüne
Regierung nur knapp einer Abstimmungsniederlage.
Öffentlichkeitswirksam hatte sie beschließen lassen wollen,
diese »schnellstmöglich abzuschaffen«. Das war der
Linkspartei nicht schnell genug. Der Streit konzentrierte
sich um ein Semester. SPD und Grüne wollen die von
Schwarz-Gelb eingeführten Studiengebühren im Wintersemester
2011/2012 abschaffen. Ein früherer Zeitpunkt sei nicht
möglich, weil sonst die Hochschulen keinen vollen
finanziellen Ausgleich erhalten können. Die Abgeordneten der
Linkspartei sahen das anders. Sie brachten einen eigenen
Gesetzentwurf für die sofortige Abschaffung ein und
forderten als Kompromiss, dass sich Rot-Grün zu einer
Vorverlegung auf das Sommersemester bereiterklärt. Nachdem
alle Versuche einer Einigung gescheitert waren und die
Linkspartei daraufhin angekündigt hatte, gegen die rot-grüne
Vorlage zu stimmen, verzichteten SPD und Grüne unter
höhnischem Gelächter aus den Reihen von CDU und FDP am
späten Donnerstagnachmittag auf die Abstimmung ihres
Antrags, um das vorhersehbare Scheitern zu vermeiden. Ebenso
wie der Gesetzentwurf der Linkspartei wurde er an die
Fachausschüsse übergeben. Dort wird nun weiter verhandelt.
Für die Linkspartei stellt die rot-grüne
Minderheitsregierung
eine nicht minder große Herausforderung als für SPD und
Grüne dar. Mit ihrer geschlossenen Enthaltung bei der Wahl
Krafts zur Ministerpräsidentin haben die elf Neueinsteiger
des Parlaments ihre erste Bewährungsprobe bestanden: Sie
hielten ihr Wahlversprechen, dass die Ablösung der
schwarz-gelben Landesregierung an ihnen nicht scheitern
werde. Es wird sich zeigen, ob sie nun auch bei ihrer
Ankündigung bleiben, rot-grüne Reforminitiativen zu
unterstützen, solange diese den eigenen inhaltlichen Zielen
nicht grundsätzlich widersprechen. »Wir wollen, dass sich
die Arbeits- und Lebensbedingungen für der Mehrheit der
Menschen in diesem Land verbessern«, sagte der Vorsitzende
der Linksfraktion, Wolfgang Zimmermann. »Allen Initiativen,
die diesem Ziel dienen, werden wir zustimmen.«
Damit würde die Linkspartei in NRW einer längst vergessenen
Überlegung eines Teils des einstigen ökosozialistischen
Flügels der Grünen zu einem Praxistest verhelfen. Im
seinerzeit heftig geführten Streit über den Umgang mit der
SPD zwischen Fundamentalopposition und Regierungsbeteiligung
hatte Mitte der achtziger Jahre ein Kreis um Michael Stamm,
Verena Krieger, Michael Barg und Jürgen Reents, der
mittlerweile Chefredakteur des Neuen Deutschland ist, der
grünen Partei eine »weiche« Tolerierung ohne
Bündnisverhandlungen und Vereinbarungen vorgeschlagen. Eine
Idee, die auch Hermann L. Gremliza 1987 aufgriff und der
Hamburger GAL als »unerbetenen Vorschlag« unterbreitete. Er
schlug vor, sie solle einen ausschließlich von der SPD
gebildeten Senat wählen, dem von ihm vorgelegten Haushalt
zustimmen und alle Gesetzentwürfe und Entschließungsanträge
des Senats bei Abstimmungen unterstützen, »wenn diese nicht
gegen Beschlüsse des Bundesparteitags der SPD verstoßen«. So
sollte die SPD gezwungen werden, Farbe zu bekennen, wie
ernst sie ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse nimmt – so
»harmlos, widersprüchlich und Welten entfernt von
notwendiger Veränderung« sie auch seien.
Es handele sich um eine »eiskalte Ermächtigung« der SPD,
formulierte Gremliza, »als das erklärte kleinere Übel ihre
hoffnungslose Politik alleine machen zu müssen, gnadenlos an
der Regierung gehalten von Leuten, die im Parlament und
außerhalb erklären: Diese Regierung ist mies, ihre Politik
beschissen, und wir sagen allen, warum; aber wir werfen
unsere Stimmkärtchen in den Ja-Kasten, weil wir den
Hamburger Arbeitslosen, Sozialmietern, Realschülern mit
unserem Nein bloß noch eine noch ein bisschen miesere
Regierung und beschissenere Politik aufhalsen würden.« Es
ging also keineswegs darum, auf Kritik zu verzichten: »Im
Gegenteil: gerade die Tatsache, dass die GAL sich nicht in
eine wie auch immer geartete Partnerschaft ›einkauft‹,
sondern autonom entscheidet, gibt ihr die Freiheit ihre
Kritik und ihre eigenen Konzepte ohne taktische Rücksichten
zu entfalten.« Gremliza blitzte mit seinem Vorschlag ab.
Was der Konkret-Herausgeber damals vergeblich der GAL
vorschlug, könnte jetzt für die Linkspartei in
Nordrhein-Westfalen Realität werden. Um Rot-Grün im Amt zu
halten, wäre nicht einmal die verständlicherweise
schwerfallende Zustimmung zum Haushalt nötig, wie bei der
Wahl der Ministerpräsidentin würde eine Enthaltung reichen.
Aber die Verlockung ist groß, letztlich doch lieber auf
Verhandlungen zu setzen – und dann entweder durch das
Beharren auf der eigenen Position das Experiment scheitern
zu lassen oder sich, wie bei der Tolerierung der
Höppner-Regierung in Sachsen-Anhalt, auf faule Kompromisse
einzulassen. »Wir müssten die Sicherheit bekommen, dass
gegen unseren Willen im Landtag nichts Wesentliches mehr
beschlossen wird«, plädierte Bundestagsfraktionschef Gregor
Gysi bereits am Wochenende in der Super Illu. SPD und Grüne
müssten »im Laufe des Herbstes auf uns zukommen, sich mit
uns inhaltlich einigen, die nötigen Regularien und Gremien
vereinbaren und dies dann schließlich auch öffentlich
erklären«. Eine solche Tolerierung wäre eine Art
Regierungsbeteiligung ohne Kabinettsbeteiligung – und damit
gegenüber einer »richtigen« Koalition die schlechtere
Variante.
»Wir müssen den schmalen Grat zwischen Sektierertum und
Opportunismus finden«, sagt der neue Landesvorsitzende
Hubertus Zdebel, der der »Antikapitalistischen Linken« (AKL)
nahesteht und sich auf einem Landesparteitag Anfang Juli in
einer Kampfabstimmung gegen den »Pragmatiker« Paul Schäfer
durchsetzen konnte. Jetzt führt der Ex-Grüne gemeinsam mit
der wiedergewählten Katharina Schwabedissen (AKL) den
viertgrößten Landesverband der Linkspartei. Seine
Erfahrungen bei den Grünen, die er vor drei Jahren verließ,
hätten ihn »gelehrt, wie schnell Inhalte durch angebliche
Sachzwänge weichgespült und schließlich aufgegeben werden«,
so Zdebel. Weder Anbiederung noch Totalverweigerung – das
sei der nicht einfache Spagat, der seiner Partei gelingen
müsse.
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