22.07.2010

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Jungle World

 Alles muss raus
Von Pascal Beucker

Nach wochenlangen Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen hat sich in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheitsregierung gebildet. Zu ihrem Regierungsantritt beschränken sich SPD und Grüne auf Aufräumarbeiten und versuchen die Entscheidungen ihrer Vorgänger zu revidieren.

Hannelore Kraft & Sylvia LöhrmannAls sie es geschafft hatte, kamen Hannelore Kraft die Tränen. Sichtlich gerührt nahm die neue nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin nach ihrer Wahl am Mittwoch voriger Woche im Landtag die Glückwünsche entgegen. Lange hatte die SPD-Landesvorsitzende gezögert und musste von der grünen Landtagsfraktionsvorsitzenden Sylvia Löhrmann zum Sprung in die Düsseldorfer Staatskanzlei gedrängt werden. Die Angst vor dem Scheitern war groß. Doch keiner der grünen und sozialdemokratischen Abgeordneten verweigerte der rot-grünen Minderheitsregierung die Zustimmung, und auch die Linkspartei ließ sie nicht auflaufen. Ob das Experiment mehr als ein Interregnum sein wird, ist allerdings offen. »Wir wollen keine Übergangslösung, die unweigerlich zu schnellen Neuwahlen führt«, heißt es im rot-grünen Koalitionsvertrag. Doch das ist vorerst nur ein Wunsch. »Wir können nicht wissen: Hält das für fünf Monate oder für fünf Jahre«, räumt Krafts grüne Partnerin Löhrmann ein.

Löhrmann und Kraft, die ersten beiden Frauen an der Spitze des bevölkerungsreichsten Bundeslands, hätten die große Chance zu einem Neuanfang. Die Frage ist allerdings, ob sie auch den Mut dazu haben. Mit der Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung, so hat FDP-Generalsekretär Christian Lindner der Ministerpräsidentin vorgeworfen, verlasse sie den Traditionspfad von Wolfgang Clement und Peer Steinbrück. Schön wär’s. Denn dieser »Traditionspfad« hat nicht nur die SPD an Rhein und Ruhr in den Abgrund geführt. Kraft und Löhrmann würden einen groben Fehler begehen, knüpften sie einfach nur an die Politik des ersten und aus guten Gründen im Jahr 2005 gescheiterten rot-grünen Versuchs an. Der zwischen ihnen geschlossene Koalitionsvertrag verrät nicht, welchen Weg ihre »Koalition der Einladung« einschlagen wird. Auch wenn das 89seitige Papier nicht mit wohlklingender sozial-ökologischer Politprosa geizt und sich Wolfgang Clement in Focus bitter beklagte, es lese sich »wie ein Bußgeldkatalog für die Agenda 2010«, enthält der Vertrag nur wenig Konkretes und ist entsprechend in alle Richtungen interpretierbar.

So erscheint die Aufregung der Opposition von CDU und FDP insbesondere bei der Bildungspolitik reichlich verfrüht. Rot-Grün werde die Axt an das geliebte Gymnasium legen, klagte sie lautstark. FDP-Fraktionschef Gerhard Papke warf der neuen Regierung sogar eine Schulpolitik vor, wie es sie sonst nur in der DDR gegeben habe: »Das ist nichts anderes als ein Fünfjahresplan zur Zerstörung der Bildungsvielfalt.« Doch davon kann keine Rede sein. Die grüne Schulministerin Löhrmann möchte sich die Lust am Regieren offenkundig nicht durch Proteste konservativer Elternverbände und der schwarz-gelben Opposition, die im Wahlkampf das Gespenst von der »Einheitsschule« gezeichnet hatte, vermiesen lassen. Zwar heißt es im Koalitionsvertrag: »Längeres gemeinsames Lernen macht unser Bildungssystem gerechter und leistungsstärker.« Aber das dreigliedrige Schulsystem soll auch unter Rot-Grün nicht abgeschafft, sondern nur ergänzt werden. Neben den als Alternative bereits bestehenden Gesamtschulen könnten demnächst ähnlich wie in Hamburg »Gemeinschaftsschulen« entstehen (Jungle World 28/10). Die Entscheidung über deren Errichtung und auch, ob sie anstelle bestehender Schulen etabliert oder zu diesen addiert werden sollen, wollen SPD und Grüne den einzelnen Städten überlassen. Damit verlagern sie den »Schulkampf« auf die lokale Ebene. De facto dürfte das vor allem auf eine Bestandsgarantie für Gymnasien hinauslaufen.

An den Sitzungstagen vor der Sommerpause beschäftigte sich Rot-Grün ausschließlich mit Aufräumarbeiten. In einem Parforceritt manövrierten SPD und Grüne am Donnerstag und Freitag voriger Woche zahlreiche Gesetzentwürfe in der ersten Lesung durch den Landtag, mit denen Entscheidungen der abgewählten schwarz-gelben Regierung korrigiert werden sollen. Den Kommunen soll wieder mehr wirtschaftlicher Handlungsspielraum eingeräumt und Einschränkungen der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst zurückgenommen werden. Auch das umstrittene Kinderbildungsgesetz (KiBiz) soll reformiert, die Drittelparität in den Schulkonferenzen wiedereingeführt und die Kopfnoten auf Schulzeugnissen und die verbindlichen Grundschulempfehlungen abgeschafft werden. Von einem »Tribunal über die ehemalige Landesregierung« sprach der CDU-Abgeordnete Klaus Kaiser.

Beim Thema Studiengebühren entging die neue rot-grüne Regierung nur knapp einer Abstimmungsniederlage. Öffentlichkeitswirksam hatte sie beschließen lassen wollen, diese »schnellstmöglich abzuschaffen«. Das war der Linkspartei nicht schnell genug. Der Streit konzentrierte sich um ein Semester. SPD und Grüne wollen die von Schwarz-Gelb eingeführten Studiengebühren im Wintersemester 2011/2012 abschaffen. Ein früherer Zeitpunkt sei nicht möglich, weil sonst die Hochschulen keinen vollen finanziellen Ausgleich erhalten können. Die Abgeordneten der Linkspartei sahen das anders. Sie brachten einen eigenen Gesetzentwurf für die sofortige Abschaffung ein und forderten als Kompromiss, dass sich Rot-Grün zu einer Vorverlegung auf das Sommersemester bereiterklärt. Nachdem alle Versuche einer Einigung gescheitert waren und die Linkspartei daraufhin angekündigt hatte, gegen die rot-grüne Vorlage zu stimmen, verzichteten SPD und Grüne unter höhnischem Gelächter aus den Reihen von CDU und FDP am späten Donnerstagnachmittag auf die Abstimmung ihres Antrags, um das vorhersehbare Scheitern zu vermeiden. Ebenso wie der Gesetzentwurf der Linkspartei wurde er an die Fachausschüsse übergeben. Dort wird nun weiter verhandelt.

Für die Linkspartei stellt die rot-grüne Minderheitsregierung eine nicht minder große Herausforderung als für SPD und Grüne dar. Mit ihrer geschlossenen Enthaltung bei der Wahl Krafts zur Ministerpräsidentin haben die elf Neueinsteiger des Parlaments ihre erste Bewährungsprobe bestanden: Sie hielten ihr Wahlversprechen, dass die Ablösung der schwarz-gelben Landesregierung an ihnen nicht scheitern werde. Es wird sich zeigen, ob sie nun auch bei ihrer Ankündigung bleiben, rot-grüne Reforminitiativen zu unterstützen, solange diese den eigenen inhaltlichen Zielen nicht grundsätzlich widersprechen. »Wir wollen, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen für der Mehrheit der Menschen in diesem Land verbessern«, sagte der Vorsitzende der Linksfraktion, Wolfgang Zimmermann. »Allen Initiativen, die diesem Ziel dienen, werden wir zustimmen.«

Damit würde die Linkspartei in NRW einer längst vergessenen Überlegung eines Teils des einstigen ökosozialistischen Flügels der Grünen zu einem Praxistest verhelfen. Im seinerzeit heftig geführten Streit über den Umgang mit der SPD zwischen Fundamentalopposition und Regierungsbeteiligung hatte Mitte der achtziger Jahre ein Kreis um Michael Stamm, Verena Krieger, Michael Barg und Jürgen Reents, der mittlerweile Chefredakteur des Neuen Deutschland ist, der grünen Partei eine »weiche« Tolerierung ohne Bündnisverhandlungen und Vereinbarungen vorgeschlagen. Eine Idee, die auch Hermann L. Gremliza 1987 aufgriff und der Hamburger GAL als »unerbetenen Vorschlag« unterbreitete. Er schlug vor, sie solle einen ausschließlich von der SPD gebildeten Senat wählen, dem von ihm vorgelegten Haushalt zustimmen und alle Gesetzentwürfe und Entschließungsanträge des Senats bei Abstimmungen unterstützen, »wenn diese nicht gegen Beschlüsse des Bundesparteitags der SPD verstoßen«. So sollte die SPD gezwungen werden, Farbe zu bekennen, wie ernst sie ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse nimmt – so »harmlos, widersprüchlich und Welten entfernt von notwendiger Veränderung« sie auch seien.

Es handele sich um eine »eiskalte Ermächtigung« der SPD, formulierte Gremliza, »als das erklärte kleinere Übel ihre hoffnungslose Politik alleine machen zu müssen, gnadenlos an der Regierung gehalten von Leuten, die im Parlament und außerhalb erklären: Diese Regierung ist mies, ihre Politik beschissen, und wir sagen allen, warum; aber wir werfen unsere Stimmkärtchen in den Ja-Kasten, weil wir den Hamburger Arbeitslosen, Sozialmietern, Realschülern mit unserem Nein bloß noch eine noch ein bisschen miesere Regierung und beschissenere Politik aufhalsen würden.« Es ging also keineswegs darum, auf Kritik zu verzichten: »Im Gegenteil: gerade die Tatsache, dass die GAL sich nicht in eine wie auch immer geartete Partnerschaft ›einkauft‹, sondern autonom entscheidet, gibt ihr die Freiheit ihre Kritik und ihre eigenen Konzepte ohne taktische Rücksichten zu entfalten.« Gremliza blitzte mit seinem Vorschlag ab.

Was der Konkret-Herausgeber damals vergeblich der GAL vorschlug, könnte jetzt für die Linkspartei in Nordrhein-Westfalen Realität werden. Um Rot-Grün im Amt zu halten, wäre nicht einmal die verständlicherweise schwerfallende Zustimmung zum Haushalt nötig, wie bei der Wahl der Ministerpräsidentin würde eine Enthaltung reichen. Aber die Verlockung ist groß, letztlich doch lieber auf Verhandlungen zu setzen – und dann entweder durch das Beharren auf der eigenen Position das Experiment scheitern zu lassen oder sich, wie bei der Tolerierung der Höppner-Regierung in Sachsen-Anhalt, auf faule Kompromisse einzulassen. »Wir müssten die Sicherheit bekommen, dass gegen unseren Willen im Landtag nichts Wesentliches mehr beschlossen wird«, plädierte Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi bereits am Wochenende in der Super Illu. SPD und Grüne müssten »im Laufe des Herbstes auf uns zukommen, sich mit uns inhaltlich einigen, die nötigen Regularien und Gremien vereinbaren und dies dann schließlich auch öffentlich erklären«. Eine solche Tolerierung wäre eine Art Regierungsbeteiligung ohne Kabinettsbeteiligung – und damit gegenüber einer »richtigen« Koalition die schlechtere Variante.

»Wir müssen den schmalen Grat zwischen Sektierertum und Opportunismus finden«, sagt der neue Landesvorsitzende Hubertus Zdebel, der der »Antikapitalistischen Linken« (AKL) nahesteht und sich auf einem Landesparteitag Anfang Juli in einer Kampfabstimmung gegen den »Pragmatiker« Paul Schäfer durchsetzen konnte. Jetzt führt der Ex-Grüne gemeinsam mit der wiedergewählten Katharina Schwabedissen (AKL) den viertgrößten Landesverband der Linkspartei. Seine Erfahrungen bei den Grünen, die er vor drei Jahren verließ, hätten ihn »gelehrt, wie schnell Inhalte durch angebliche Sachzwänge weichgespült und schließlich aufgegeben werden«, so Zdebel. Weder Anbiederung noch Totalverweigerung – das sei der nicht einfache Spagat, der seiner Partei gelingen müsse.


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