Unter den Politikern der Union gibt es einen neuen
Trend. Anscheinend freiwillig verzichten führende Vertreter
der Partei auf ihre Ämter und ziehen sich ins Privatleben
zurück. Nur der Oberbürgermeister von Duisburg verweigert
den Rücktritt, obwohl er mittlerweile deutlich dazu
aufgefordert wurde.
Ein kleiner Lokalpolitiker aus dem Ruhrgebiet sorgt dafür,
dass das Thema Rücktritt trotz des Beginns der
parlamentarischen Sommerpause nicht an Brisanz verliert.
Sein Name ist Adolf Sauerland. Politiker aller Parteien
fordern den Christdemokraten zum Rücktritt auf. Sogar sein
Parteifreund Christian Wulff hat ihm inzwischen diesen
Schritt indirekt, für bundespräsidiale Verhältnisse jedoch
recht unverblümt nahegelegt. Unabhängig von konkreter
persönlicher Schuld gebe es »auch eine politische
Verantwortung«, sagte Wulff. Das müsse Sauerland »genau
abwägen«. Doch Duisburgs Oberbürgermeister bleibt auch knapp
zwei Wochen nach der Katastrophe bei der Loveparade
standhaft und unbelehrbar. 21 Tote hin, mehr als 500
Verletzte her. Der bullige Kinnbartträger will sich lieber
abwählen lassen, als dass er freiwillig sein Amt aufgibt.
Schön, dass zumindest noch ein bürgerlicher Politiker den
Klischees entspricht.
Nach dem sofortigen Rücktritt von Wulffs Amtsvorgänger Horst
Köhler sowie den angekündigten Demissionen von Roland Koch
und insbesondere Ole von Beust konnten einen ja schon
Zweifel beschleichen. »Da ist so eine richtige bürgerliche
Null-Bock-Generation entstanden«, befürchtete die
Grünen-Vorsitzende Claudia Roth. Von einem »Hauch von
Fahnenflucht« sprach Spiegel Online. Auch der
Augsburger Germanist Mathias Mayer, der ein Buch über die
»Kunst der Abdankung« verfasst hat, kam zu einer ähnlichen
Schlussfolgerung. »Die momentanen inflationären Fälle haben
wenig von einer stilvollen Abdankung und mehr von
Fahnenflucht und mangelndem Pflichtbewusstsein«, sagte Mayer
im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Seiner
Einschätzung nach habe »diese Rücktreterei erschreckende
Dimensionen angenommen«. Fahnenflucht? So etwas hat es
früher in Deutschland nicht gegeben. Wie gut, dass
wenigstens Adolf Sauerland durchhält.
»Die biblische Erkenntnis, alles hat seine Zeit, gilt auch
für Politiker«,
sagte Ole von Beust in seiner Rücktrittsrede Mitte Juli.
Auch ein gänzlich Ungläubiger kann sich dieser recht banalen
Einsicht nicht wirklich verschließen. Allerdings war es
bislang üblich, dass Politiker sie gleichwohl ignorierten.
Vom früheren rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter
Altmeier, den einst sein aufstrebender Parteifreund Helmut
Kohl aufs Altenteil beförderte, bis zu Kurt Biedenkopf in
Sachsen: Sie schafften es nicht, sich einen würdigen Abgang
zu verschaffen. Von ungeduldigen Jüngeren unsanft ins
Abseits geschoben, gingen sie, weil sie gehen mussten. Er
sei »unwürdig fortgejagt« worden, klagte Baden-Württembergs
früherer Ministerpräsident Erwin Teufel im Jahr 2005, als er
seine Abschiedsrede hielt. Er trete ab, weil er »nicht mehr
gefragt« sei. Das galt bisher als der Normalfall – nicht nur
in der Union. Helmut Schmidt wäre wahrscheinlich heute noch
Bundeskanzler, wenn man ihn gelassen und nicht zum Glück
1982 per konstruktivem Misstrauensvotum abgewählt hätte.
Er sei der erste Ministerpräsident Hessens, »der aus
souveräner eigener Entscheidung das Amt aufgibt«, sagte Koch
auf seiner Abschiedspressekonferenz Ende Mai. »Es hätte ja
nun wirklich bei mir auch anders kommen können.« Das stimmt.
Seit der Gründung der BRD verließen alle seine Vorgänger
unfreiwillig ihren Posten. Bei dem legendären Georg August
Zinn (SPD) war es die schwer angeschlagene Gesundheit, die
ihn 1969 nach 19 langen Jahren im Amt zum Rücktritt zwang,
bei seinem Nachfolger Albert Osswald (SPD) ein
Finanzskandal; Holger Börner (SPD), Walter Wallmann (CDU)
und Hans Eichel (SPD) wurden von den Wählern in die Wüste
geschickt. Koch hingegen hat alle Krisen und Skandale
überstanden.
Dabei wäre er eigentlich schon vor zehn Jahren »fällig«
gewesen, als der »brutalstmögliche Aufklärer« zugeben
musste, Parlament und Öffentlichkeit im Zusammenhang mit den
angeblichen »jüdischen Vermächtnissen« der hessischen CDU
belogen zu haben. Aber Koch überlebte – dank
sozialdemokratischer Unfähigkeit – sogar noch seine
Wahlniederlage vom Januar 2008. Seinen Rücktritt kündigte er
ausgerechnet zu einem Zeitpunkt an, an dem das ausnahmsweise
mal niemand von ihm verlangt hatte.
Das lädt zu Verschwörungstheorien ein.
»Dass er jetzt freiwillig geht, ist so glaubhaft wie die
Beteuerung, nichts mit den schwarzen Kassen zu tun gehabt zu
haben«, raunte der Schriftsteller Jakob Hein in der taz.
»Vielleicht hat er gut verhandelt, dann erfahren wir es erst
in zehn Jahren, vielleicht schlecht, dann wissen wir es
schon früher. Aber die zeitliche Nähe von Eurokrise und
Rücktrittsankündigung des diensthöchsten Politikers der
Bankenhauptstadt Frankfurt – da ist noch oberhalb der
Hochhäuser ein Gerüchle wahrzunehmen.« Wie manch noch
wildere Spekulation im Internet dürfte das schlicht Blödsinn
sein. Aber er ist verständlich: Es fällt mehr als schwer,
dem Nachlassverwalter der Stahlhelme in der Union
irgendetwas Positives anzurechnen – und sei es nur seinen
Abgang. Ob Edmund Stoiber oder Johannes Rau, andere harrten
noch lange – viel zu lange – trotzig auf ihrem Posten aus,
nachdem sie ihre Kanzlerambitionen hatten begraben müssen.
Koch nicht. Ausgerechnet Koch.
Wirklich selbst zu bestimmen, wann und unter welchen
Umständen sie ihr Amt niederlegen, das gelingt nur wenigen.
Er wolle »nicht mit den Füßen zuerst aus dem Rathaus
getragen werden«, begründete der Sozialdemokrat Henning
Scherf im Jahr 2005 seinen überraschenden Rücktritt als
Bremer Bürgermeister. »Ich fühle mich wie ein Methusalem in
der deutschen Politik«, erklärte der populäre Regierungschef
wenige Wochen vor seinem 67. Geburtstag. Seit 1978 hatte er
der Landesregierung in dem kleinen Stadtstaat angehört.
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher war 65 Jahre alt,
als er 1992 nach 23jähriger Zugehörigkeit aus der
Bundesregierung ausschied. Genscher sei es gelungen, »sich
vor der Götterdämmerung im Mantel des Erfolges zu
verabschieden«, urteilte der Rheinische Merkur.
Doch solche Fälle sind selten. Andere Politiker, wie
CDU-Bundespräsident Heinrich Lübke oder der
SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Herbert Wehner, blieben
auf ihren Posten, bis ihre Demenz gegenüber der
Öffentlichkeit nicht mehr zu kaschieren war. Als sie endlich
abtraten, waren sie 74 beziehungsweise 76 Jahre alt. Rente
mit 65 oder 67? Das wäre ihnen nie in den Sinn gekommen. Im
Alter von 73 Jahren schied der bayrische Ministerpräsident
Franz-Josef Strauß 1988 noch anständig durch Tod aus dem
Dienst – und verzichtete dadurch großzügig auf seine
Pensionsansprüche.
Adolf Sauerland ist erst 55 Jahre alt.
Anders als der gleichaltrige von Beust oder der drei Jahre
jüngere Koch will Duisburgs OB nicht einfach abtreten. »Das
können Sie in die Tonne kloppen«, kommentierte er noch am
Wochenende entsprechende Gerüchte. Er nennt das
»Pflichtbewusstsein«. Allerdings käme ihm auch eine
freiwillige Amtsniederlegung im wortwörtlichen Sinne teuer
zu stehen. Deswegen will Sauerland es lieber auf seine
Abwahl ankommen lassen. »Selbstverständlich« werde er sich
»einem gemäß der Gemeindeordnung für das Land NRW
vorgesehenen Abwahlverfahren stellen«, verkündete er am
Montag in einer persönlichen Erklärung. Bis dahin dürfte es
eine schwierige Zeit für ihn werden. Schon jetzt ist
Sauerland in Duisburg zur Persona non grata geworden, er
kann sich nur noch unter Polizeischutz in der Öffentlichkeit
bewegen.
Es geht um »politische Verantwortung«, die Sauerland
übernehmen soll, jedoch nicht will. Mit der verhält es sich
komplizierter als mit anderen Verantwortlichkeiten. Sie ist
schwerer greifbar. Bei einem nachweisbaren individuellen
Fehlverhalten ist das einfacher. Als der damalige Bremer
Wirtschafts- und Kultursenator Peter Gloystein (CDU) Mitte
Mai 2005 auf dem Marktplatz vor der Bremischen Bürgerschaft
offenbar in Sektlaune und mit der Bemerkung »Hier hast du
auch etwas zu trinken« einem in Tränen ausbrechenden
Obdachlosen Riesling-Sekt aus einer Magnumflasche über den
Kopf goss, dauerte es keine 24 Stunden bis zu seinem
Rücktritt. Er war die logische Konsequenz aus dem zynischen
Verhalten des früheren Bankers.
Allerdings gibt es einen Interpretationsspielraum, wann ein
solcher Schritt aus einem nicht unmittelbar persönlichen
Verschulden heraus notwendig wird. Als Bundesinnenminister
Rudolf Seiters (CDU) im Juli 1993 wegen des tödlichen
GSG9-Einsatzes in Bad Kleinen seinen Stuhl räumte, löste
seine Entscheidung sowohl beim damaligen Bundeskanzler
Helmut Kohl als auch in weiten Teilen der Bevölkerung
Kopfschütteln aus. In einer Umfrage des Focus
äußerte nur ein Drittel der Westdeutschen Verständnis für
den Rücktritt. Mehr als die Hälfte hielten diesen für
falsch. In seiner Rücktrittserklärung betonte Seiters
damals, er habe sich zwar persönlich nichts vorzuwerfen.
Aber es gebe »in Deutschland zu Recht den Begriff der
politischen Verantwortung«. Bei dem »Anti-Terror-Einsatz«,
der den BGSler Michael Newrzella und das RAF-Mitglied
Wolfgang Grams das Leben kostete, und bei dessen
anschließender Aufarbeitung seien »offensichtlich Fehler,
Unzulänglichkeiten und Koordinationsmängel innerhalb von
Bundesbehörden deutlich geworden«. Wer sollte dafür die
»politische Verantwortung übernehmen, wenn nicht ein
Minister?«
Die juristische Verantwortung für das Duisburger Fiasko
aufzuklären, wird Sache der Staatsanwaltschaft und später
der Gerichte sein. Um seine politische Verantwortung für das
Loveparade-Desaster wird sich jedoch auch Adolf Sauerland
nicht herumdrücken können, so sehr er sich auch hinter
Ausflüchten zu verstecken sucht. Als sich der joviale
Oberstudienrat 2004 das erste Mal um das
Oberbürgermeisteramt in Duisburg bewarb, räumte ihm kaum
jemand Chancen ein. Ein Christdemokrat an der Spitze dieser
traditionell sozialdemokratischen Stadt, das hatte es seit
der Gründung der BRD noch nie gegeben. Aber er schaffte das
Undenkbare, wurde fünf Jahre später sogar wiedergewählt. Er
war beliebt bei der Bevölkerung. Das ist nun Geschichte.
Sauerland wird in die Annalen der Stadt eingehen – jedoch
ganz anders, als er sich das vorgestellt hat. Aber immerhin
hat er es geschafft, mit Köhler, Koch und von Beust
gleichzuziehen: Auch seinen Namen kennt inzwischen ganz
Deutschland.
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