ISLAMISMUS Necmettin Erbakan, Gründer von
Milli Görüs, ruft in Duisburg die Massen zusammen und wettert gegen
den Westen. Dafür wird er von seinen Anhängern verehrt.
Der
Beifall ist ohrenbetäubend, als Necmettin Erbakan um kurz nach 12
Uhr die Bühne betritt. "Mücahid Erbakan", tönt es in der Duisburger
Mercatorhalle aus tausenden Kehlen, was sich in etwa mit "Anführer
Erbakan" übersetzen lässt. Der frühere türkische Ministerpräsident
wirkt sehr gebrechlich. Das Gehen fällt dem 83-Jährigen schwer. Es
könnte der letzte Auftritt des islamistischen Politikers in
Deutschland sein.
Vor der
Halle stehen unzählige Reisebusse. Aus ganz Europa sind die Anhänger
Erbakans an diesem Sonntag nach Duisburg gekommen. Sie wollen mit
dem Greis, eine Art Jean-Marie Le Pen des türkischen Islamismus, das
40-jährige Jubiläum der von ihm in der Türkei gegründeten
Milli-Görüs-Bewegung feiern. Im Foyer haben sich riesige Schlangen
gebildet. Akribisch wird jeder abgetastet, der in den großen
Veranstaltungsraum möchte. Im Saal herrscht strikte
Geschlechtertrennung. Der Innenraum ist den Männern vorbehalten. Die
Frauen - ausnahmslos mit Kopftuch, einige im Tschador - sitzen hoch
oben auf der Empore.
Mit Erbakan
auf dem Podium sitzt die Führung der Islamischen Gemeinschaft Milli
Görüs (IGMG). Die Organisation, der bis heute das Kainsmal
"Beobachtung durch den Verfassungsschutz" anhängt, gilt als die
größte Interessenvertretung der im europäischen Ausland lebenden
Türken. Nach eigenen Angaben gehören der IGMG 87.000 Mitglieder an,
die in 514 Gemeinden in Europa organisiert sind, 323 soll es in der
Bundesrepublik geben. Der Verfassungsschutz spricht von 29.000
Mitgliedern.
Fast zwei
Stunden redet Erbakan, der in den Fünfzigerjahren an der Technischen
Hochschule Aachen studiert hat. Er wettert gegen den Westen, dessen
"rassistischen Imperialismus" und beschwört die gute alte Zeit des
Osmanischen Reichs, die er gerne wiederauferstehen lassen würde. Der
Kommunismus habe ausgedient, der Kapitalismus sei in der Krise,
beide unterdrückten die Menschheit. Milli Görüs arbeite "für die
Erlösung der ganzen Menschheit", verkündet er.
Es gebe nur
zwei Kategorien von Menschen: die Milli-Görüsler, die für
Gerechtigkeit einträten - und die anderen, die das nicht täten. Es
ist ein einfaches, schlichtes Weltbild, das Erbakan vermittelt. Die
Führungsspitze der IGMG schaut verkniffen.
1971 in
Braunschweig auf Anweisung Erbakans unter dem Namen Türkische Union
Deutschland e. V. gegründet, trägt die IGMG nach einigen
Transformationen und Umbenennungen seit 1994 ihren heutigen Namen.
Der Begriff milli görüs
(religiöse nationale Weltsicht) geht auf ein 1973 veröffentlichtes
gleichnamiges Buch Erbakans zurück, in dem er seine Strategie zur
Errichtung einer islamischen Republik in der Türkei darlegt.
Seit einigen
Jahren bemüht sich die IGMG, eine größere Eigenständigkeit von der
türkischen Milli-Görüs-Bewegung zu erreichen. Doch heute ist davon
nichts zu erkennen. "Wir müssen Rücksicht nehmen auf unsere älteren
Mitglieder", sagt ein junger Funktionär hinter vorgehaltener Hand.
Die IGMG sei eben kein homogener Verband. Also macht die
Verbandsspitze gute Miene zum bösen Spiel. Denn es ist offenkundig:
Trotz aller Modernisierungsbemühungen verehren viele IGMG-Anhänger
bis heute Erbakan abgöttisch.