Nr. 46 / 66. Jhrg. / 17.11.2011

Startseite
Jüdische Allgemeine

  Auch Juden im Visier?
Von Pascal Beucker

Behörden prüfen, ob die »NSU« in Anschläge auf jüdische Einrichtungen verwickelt war.

Fünfzehn Minuten dauert der Film, den Ermittler in den Trümmern des Wohnhauses von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in Zwickau gefunden haben wollen. Fünfzehn Minuten, in denen sich eine Gruppe namens »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) unter dem Motto »Taten statt Worte« ihrer Verbrechen rühmt: von der zynisch als »Aktion Dönerspieß« bezeichneten Mordserie, der zwischen 2000 und 2006 acht türkisch- und ein griechischstämmiger Ladenbesitzer in verschiedenen deutschen Städten zum Opfer fielen, bis zum Nagelbomben-Attentat in der Keupstraße im Kölner Stadtteil Mülheim im Sommer 2004. Der Sprengkörper verletzte 22 Menschen türkischer Herkunft, vier davon schwer.

Immer monströser wird die Liste der Taten, die auf das Konto der Zwickauer Rechtsterroristenzelle gehen sollen. Auf dem Bekennervideo finden sich ebenfalls Hinweise auf einen bisher unaufgeklärten Sprengstoffanschlag auf einen Lebensmittel- und Getränkeshop in der Kölner Innenstadt im Januar 2001, bei dem eine 19-jährige Deutsch-Iranerin schwer verletzt wurde. Auch die Erschießung einer Polizistin in Heilbronn sowie mindestens vierzehn Banküberfälle rechnen die Ermittlungsbehörden der neonazistischen Gruppe zu. Doch das könnte noch nicht alles gewesen sein. »Wir beschränken uns nicht nur auf die Hinweise, die uns die DVD liefert«, sagt der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD). »Wir überprüfen erneut alle unaufgeklärten Verbrechen, für die sich bislang kein schlüssiges Tatmotiv finden ließ und rechtsextremistische Motive denkbar sind.«

ANSCHLAG Einer der bislang unaufgeklärten Fälle, die laut Jäger »wegen der ähnlichen Tatstrukturen« jetzt wieder aufgerollt werden sollen: der Anschlag auf die Düsseldorfer S-Bahn-Station Wehrhahn am 27. Juli 2000. Bei der Detonation eines in einer Plastiktüte deponierten Sprengsatzes wurden damals zehn Menschen verletzt, einige davon schwer. Eine junge Frau verlor ihr ungeborenes Baby durch einen Bombensplitter im Mutterleib. Bei den Opfern handelte es sich um Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, die sich auf dem Heimweg von einer nahegelegenen Sprachschule befanden. Sechs der aus der Ukraine, Russland und Aserbaidschan stammenden Menschen waren Juden, Mitglieder der Jüdischen Gemeinden in Wuppertal und Düsseldorf.

Der Anschlag löste eine bundesweite Debatte über die Gefahr von Rechts aus. Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft ermittelte zunächst »gezielt und vorrangig in Richtung ausländerfeindlich beziehungsweise antisemitisch motivierte Tat«. Nachdem umfangreiche Ermittlungen in der Düsseldorfer Neonazi-Szene kein Ergebnis brachten, neigte sie jedoch später eher der Spekulation zu, die Russenmafia könnte hinter dem Anschlag stecken. Das sei »sicherlich eine Theorie, die man nicht einfach von der Hand weisen kann«, sagte ein Jahr nach der Tat der Sprecher der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, Johannes Mokken.

Gegen einen rechten Anschlag spräche, erläuterte Mocken damals, dass sich niemand dazu bekannt habe. Das stehe im Widerspruch zum Bekenntniseifer der Rechten. Eine Einzeltäterschaft sei ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich. Wie im Fall des österreichischen Briefbombenattentäters Franz Fuchs handele es sich hierbei in der Regel um Wiederholungstäter – und es habe bislang keine erkennbare Wiederholungstat gegeben.

Auch dem damaligen Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) lag die Mafiatheorie »gefühlsmäßig am nächsten«. Aber egal, wohin sich der Blick auch richtete: Alle Spuren verliefen im Sande. Im Juli 2009 übergab der Leiter der Ermittlungskommission (EK) Acker, Dietmar Wixfort, seinen 80-seitigen Abschlussbericht der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft. Damit schien der Fall zu den Akten gelegt. In der Hochphase gehörten bis zu 80 Beamte der Kommission an, zuletzt nur noch Wixfort.

RELEVANZ Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen könnten allerdings zwei Spuren, denen die EK Acker vergeblich nachging, neue Relevanz erhalten. Zum einen blieb seinerzeit die Suche nach zwei Männern erfolglos, die mehrere Zeugen zum Zeitpunkt der Bombenexplosion in unmittelbarer Nähe zum Tatort gesehen hatten. Die damals erstellten Phantombilder wurden sogar in der Moskauer U-Bahn ausgehängt, nicht jedoch in Jena oder Zwickau. Jetzt sollen sie mit Fotos von Mundlos und Böhnhardt verglichen werden. Zum anderen ist da der benutzte Sprengsatz: Zunächst waren die Ermittler von einem Handgranatenanschlag ausgegangen.

Dann stellte sich jedoch heraus, dass es sich um eine selbst gefertigte Bombe handelte, für die verunreinigtes Trinitrotoluol (TNT) benutzt wurde. Stammen soll es aus einem ehemaligen Ostblockstaat – und war bis Mitte der 90er-Jahre in den »neuen Bundesländern« noch relativ problemlos auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Auch für Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe: Als sie 1998 abtauchten, fanden die Fahnder in einer von Zschäpe angemieteten Garage in Jena neben Nazi-Propagandamaterial und vier funktionsfähigen Rohrbomben auch 1.392 Gramm TNT.

PRÜFFALL Für die Bundesanwaltschaft ist der Anschlag auf die S-Bahnstation in Düsseldorf-Wehrhahn derzeit noch ein »Prüffall«. Anders als bei dem Kölner Nagelbomben-Attentat oder den sogenannten Döner-Morden ist es völlig offen, ob sie auch für diesen Fall die Zuständigkeit an sich ziehen will. Bislang gebe es »noch keine zureichenden Anhaltspunkte« dafür, sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft der Jüdischen Allgemeinen.

Auch besäße die Behörde zum gegenwärtigen Zeitpunkt »keine greifbaren Hinweise« auf andere verübte oder geplante Anschläge auf jüdische Menschen oder Einrichtungen, die der terroristischen Vereinigung »NSU« zugerechnet werden könnten. Aber, so betont der Behördensprecher: »Wir stehen noch sehr, sehr am Anfang der Ermittlungen.« Zu den ungeklärten Verbrechen, die jetzt von den Landeskriminalämtern neu überprüft werden, gehören die beiden im September und Dezember 1998 verübten Sprengstoffanschläge auf das Grab von Heinz Galinski in Berlin, auf die Wehrmachtsausstellung im März 1999 in Saarbrücken sowie auf den jüdischen Friedhof in Berlin-Charlottenburg im März 2002. Vieles liegt noch im Dunkeln.

TRIO Der 38-jährige Uwe Mundlos und der 34 Jahre alte Uwe Böhnhardt waren Anfang November nach einem Banküberfall im thüringischen Eisenach tot in einem Wohnmobil aufgefunden worden. Beate Zschöpe stellte sich am Dienstag vergangener Woche der Polizei. Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat gegen die 36-Jährige Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie der besonders schweren Brandstiftung erlassen.

Bevor sie vor fast 14 Jahren in den Untergrund verschwanden, bewegten sich Mundlos, Böhnhardt und Zschöpe in der militanten Neonaziszene: in den Reihen der »Kameradschaft Jena« und des »Thüringer Heimatschutzes« (THS). An dessen Spitze stand mit Tino Brandt ein V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen. Auch nach dessen Abtauchen traf sich Brandt nachweislich mehrfach mit dem Terror-Trio. Die Rolle des Verfassungsschutzes ist eine der großen Fragen, die noch aufzuklären ist.

 

Der Professorensohn Mundlos, ein glühender Bewunderer des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, galt als der »Intellektuelle« des Trios, während Zschöpe von Szenekundigen als »Mitläuferin« beschrieben wird. Der Hilfsarbeiter Böhnhardt sei schlicht gestrickt und ein Waffennarr gewesen. Seine erste »öffentlichkeitswirksame« Aktion startete er im April 1996: Auf einer Autobahnbrücke in Jena platzierte er einen Puppentorso, bekleidet mit einem Sweatshirt mit gelben Judenstern. Umgehängt hatte Böhnhardt der Puppe ein Schild mit der Aufschrift: »Vorsicht Bombe!« Unter anderem wegen dieser Tat wurde er im Oktober 1997 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Er und seine Gesinnungsgenossen sollen auch hinter Briefbombenattrappen mit Hakenkreuzen stehen, die Anfang 1997 bei der »Thüringische Landeszeitung« sowie der Stadtverwaltung und der Polizeidirektion in Jena auftauchten.

Im Herbst 1997 folgte die nächste Stufe der Eskalation: Zwei rote Koffer, die mit einem Hakenkreuz auf weißem Grund bemalt waren, wurden vor dem Theaterhaus und der Gedenkstätte für den antifaschistischen Widerstand auf dem Nordfriedhof von Jena gefunden. In dem einen Koffer befand sich eine glücklicherweise nicht zündfähige Bombe mit zehn Gramm TNT, im anderen ein mit Benzin gefüllter Kanister. Doch dann verlor sich die Spur: Obwohl die Polizei Böhnhardt bereits observierte, verschwanden er, Mundlos und Zschöpe Anfang 1998 für über ein Jahrzehnt von der Bildfläche. Welche Kontakte und Unterstützer sie in ihrem Leben in der Illegalität hatten, bleibt ebenfalls eine spannende Frage.

Bislang haben die Ermittlungsbehörden nur einen mutmaßlichen Helfer ausfindig gemacht: Wegen »des dringenden Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« wurde am Montag Haftbefehl gegen den ebenfalls aus Jena stammenden und inzwischen in Niedersachsen lebenden 37-jährigen Holger G. erlassen.


© Pascal Beucker. Alle Rechte an Inhalt, Gestaltung, Fotos liegen beim Autor. Direkte und indirekte Kopien, sowie die Verwendung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung des Autors.