Behörden prüfen, ob die »NSU« in
Anschläge auf jüdische Einrichtungen verwickelt war.
Fünfzehn Minuten
dauert der Film, den Ermittler in den Trümmern des Wohnhauses von Uwe
Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in Zwickau gefunden haben
wollen. Fünfzehn Minuten, in denen sich eine Gruppe namens
»Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) unter dem Motto »Taten
statt Worte« ihrer Verbrechen rühmt: von der zynisch als »Aktion
Dönerspieß« bezeichneten Mordserie, der zwischen 2000 und 2006 acht
türkisch- und ein griechischstämmiger Ladenbesitzer in verschiedenen
deutschen Städten zum Opfer fielen, bis zum Nagelbomben-Attentat in
der Keupstraße im Kölner Stadtteil Mülheim im Sommer 2004. Der
Sprengkörper verletzte 22 Menschen türkischer Herkunft, vier davon
schwer.
Immer monströser wird die Liste der Taten, die
auf das Konto der Zwickauer Rechtsterroristenzelle gehen sollen. Auf
dem Bekennervideo finden sich ebenfalls Hinweise auf einen bisher
unaufgeklärten Sprengstoffanschlag auf einen Lebensmittel- und
Getränkeshop in der Kölner Innenstadt im Januar 2001, bei dem eine
19-jährige Deutsch-Iranerin schwer verletzt wurde. Auch die
Erschießung einer Polizistin in Heilbronn sowie mindestens vierzehn
Banküberfälle rechnen die Ermittlungsbehörden der neonazistischen
Gruppe zu. Doch das könnte noch nicht alles gewesen sein. »Wir
beschränken uns nicht nur auf die Hinweise, die uns die DVD liefert«,
sagt der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD). »Wir
überprüfen erneut alle unaufgeklärten Verbrechen, für die sich bislang
kein schlüssiges Tatmotiv finden ließ und rechtsextremistische Motive
denkbar sind.«
ANSCHLAG Einer der
bislang unaufgeklärten Fälle, die laut Jäger »wegen der ähnlichen
Tatstrukturen« jetzt wieder aufgerollt werden sollen: der Anschlag auf
die Düsseldorfer S-Bahn-Station Wehrhahn am 27. Juli 2000. Bei der
Detonation eines in einer Plastiktüte deponierten Sprengsatzes wurden
damals zehn Menschen verletzt, einige davon schwer. Eine junge Frau
verlor ihr ungeborenes Baby durch einen Bombensplitter im Mutterleib.
Bei den Opfern handelte es sich um Kontingentflüchtlinge aus der
ehemaligen Sowjetunion, die sich auf dem Heimweg von einer
nahegelegenen Sprachschule befanden. Sechs der aus der Ukraine,
Russland und Aserbaidschan stammenden Menschen waren Juden, Mitglieder
der Jüdischen Gemeinden in Wuppertal und Düsseldorf.
Der Anschlag löste eine
bundesweite Debatte über die Gefahr von Rechts aus. Die Düsseldorfer
Staatsanwaltschaft ermittelte zunächst »gezielt und vorrangig in
Richtung ausländerfeindlich beziehungsweise antisemitisch motivierte
Tat«. Nachdem umfangreiche Ermittlungen in der Düsseldorfer
Neonazi-Szene kein Ergebnis brachten, neigte sie jedoch später eher
der Spekulation zu, die Russenmafia könnte hinter dem Anschlag
stecken. Das sei »sicherlich eine Theorie, die man nicht einfach von
der Hand weisen kann«, sagte ein Jahr nach der Tat der Sprecher der
Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, Johannes Mokken.
Gegen einen rechten Anschlag
spräche, erläuterte Mocken damals, dass sich niemand dazu bekannt
habe. Das stehe im Widerspruch zum Bekenntniseifer der Rechten. Eine
Einzeltäterschaft sei ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich. Wie im Fall
des österreichischen Briefbombenattentäters Franz Fuchs handele es
sich hierbei in der Regel um Wiederholungstäter – und es habe bislang
keine erkennbare Wiederholungstat gegeben.
Auch dem damaligen
Düsseldorfer Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) lag die
Mafiatheorie »gefühlsmäßig am nächsten«. Aber egal, wohin sich der
Blick auch richtete: Alle Spuren verliefen im Sande. Im Juli 2009
übergab der Leiter der Ermittlungskommission (EK) Acker, Dietmar
Wixfort, seinen 80-seitigen Abschlussbericht der Düsseldorfer
Staatsanwaltschaft. Damit schien der Fall zu den Akten gelegt. In der
Hochphase gehörten bis zu 80 Beamte der Kommission an, zuletzt nur
noch Wixfort.
RELEVANZ Vor dem
Hintergrund der jüngsten Entwicklungen könnten allerdings zwei Spuren,
denen die EK Acker vergeblich nachging, neue Relevanz erhalten. Zum
einen blieb seinerzeit die Suche nach zwei Männern erfolglos, die
mehrere Zeugen zum Zeitpunkt der Bombenexplosion in unmittelbarer Nähe
zum Tatort gesehen hatten. Die damals erstellten Phantombilder wurden
sogar in der Moskauer U-Bahn ausgehängt, nicht jedoch in Jena oder
Zwickau. Jetzt sollen sie mit Fotos von Mundlos und Böhnhardt
verglichen werden. Zum anderen ist da der benutzte Sprengsatz:
Zunächst waren die Ermittler von einem Handgranatenanschlag
ausgegangen.
Dann stellte sich jedoch heraus, dass es sich um
eine selbst gefertigte Bombe handelte, für die verunreinigtes
Trinitrotoluol (TNT) benutzt wurde. Stammen soll es aus einem
ehemaligen Ostblockstaat – und war bis Mitte der 90er-Jahre in den
»neuen Bundesländern« noch relativ problemlos auf dem Schwarzmarkt zu
bekommen. Auch für Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe: Als
sie 1998 abtauchten, fanden die Fahnder in einer von Zschäpe
angemieteten Garage in Jena neben Nazi-Propagandamaterial und vier
funktionsfähigen Rohrbomben auch 1.392 Gramm TNT.
PRÜFFALL Für die
Bundesanwaltschaft ist der Anschlag auf die S-Bahnstation in
Düsseldorf-Wehrhahn derzeit noch ein »Prüffall«. Anders als bei dem
Kölner Nagelbomben-Attentat oder den sogenannten Döner-Morden ist es
völlig offen, ob sie auch für diesen Fall die Zuständigkeit an sich
ziehen will. Bislang gebe es »noch keine zureichenden Anhaltspunkte«
dafür, sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft der Jüdischen
Allgemeinen.
Auch besäße die Behörde zum gegenwärtigen
Zeitpunkt »keine greifbaren Hinweise« auf andere verübte oder geplante
Anschläge auf jüdische Menschen oder Einrichtungen, die der
terroristischen Vereinigung »NSU« zugerechnet werden könnten. Aber, so
betont der Behördensprecher: »Wir stehen noch sehr, sehr am Anfang der
Ermittlungen.« Zu den ungeklärten Verbrechen, die jetzt von den
Landeskriminalämtern neu überprüft werden, gehören die beiden im
September und Dezember 1998 verübten Sprengstoffanschläge auf das Grab
von Heinz Galinski in Berlin, auf die Wehrmachtsausstellung im März
1999 in Saarbrücken sowie auf den jüdischen Friedhof in
Berlin-Charlottenburg im März 2002. Vieles liegt noch im Dunkeln.
TRIO Der 38-jährige Uwe
Mundlos und der 34 Jahre alte Uwe Böhnhardt waren Anfang November nach
einem Banküberfall im thüringischen Eisenach tot in einem Wohnmobil
aufgefunden worden. Beate Zschöpe stellte sich am Dienstag vergangener
Woche der Polizei. Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat
gegen die 36-Jährige Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts der
Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie
der besonders schweren Brandstiftung erlassen.
Bevor
sie vor fast 14 Jahren in den Untergrund verschwanden, bewegten sich
Mundlos, Böhnhardt und Zschöpe in der militanten Neonaziszene: in den
Reihen der »Kameradschaft Jena« und des »Thüringer Heimatschutzes«
(THS). An dessen Spitze stand mit Tino Brandt ein V-Mann des
Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen. Auch nach dessen
Abtauchen traf sich Brandt nachweislich mehrfach mit dem Terror-Trio.
Die Rolle des Verfassungsschutzes ist eine der großen Fragen, die noch
aufzuklären ist.
Der Professorensohn Mundlos, ein glühender
Bewunderer des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, galt als der
»Intellektuelle« des Trios, während Zschöpe von Szenekundigen als
»Mitläuferin« beschrieben wird. Der Hilfsarbeiter Böhnhardt sei
schlicht gestrickt und ein Waffennarr gewesen. Seine erste
»öffentlichkeitswirksame« Aktion startete er im April 1996: Auf einer
Autobahnbrücke in Jena platzierte er einen Puppentorso, bekleidet mit
einem Sweatshirt mit gelben Judenstern. Umgehängt hatte Böhnhardt der
Puppe ein Schild mit der Aufschrift: »Vorsicht Bombe!« Unter anderem
wegen dieser Tat wurde er im Oktober 1997 zu einer Jugendstrafe von
zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Er und seine
Gesinnungsgenossen sollen auch hinter Briefbombenattrappen mit
Hakenkreuzen stehen, die Anfang 1997 bei der »Thüringische
Landeszeitung« sowie der Stadtverwaltung und der Polizeidirektion in
Jena auftauchten.
Im Herbst 1997 folgte die nächste Stufe der
Eskalation: Zwei rote Koffer, die mit einem Hakenkreuz auf weißem
Grund bemalt waren, wurden vor dem Theaterhaus und der Gedenkstätte
für den antifaschistischen Widerstand auf dem Nordfriedhof von Jena
gefunden. In dem einen Koffer befand sich eine glücklicherweise nicht
zündfähige Bombe mit zehn Gramm TNT, im anderen ein mit Benzin
gefüllter Kanister. Doch dann verlor sich die Spur: Obwohl die Polizei
Böhnhardt bereits observierte, verschwanden er, Mundlos und Zschöpe
Anfang 1998 für über ein Jahrzehnt von der Bildfläche. Welche Kontakte
und Unterstützer sie in ihrem Leben in der Illegalität hatten, bleibt
ebenfalls eine spannende Frage.
Bislang haben die
Ermittlungsbehörden nur einen mutmaßlichen Helfer ausfindig gemacht:
Wegen »des dringenden Verdachts der Unterstützung einer
terroristischen Vereinigung« wurde am Montag Haftbefehl gegen den
ebenfalls aus Jena stammenden und inzwischen in Niedersachsen lebenden
37-jährigen Holger G. erlassen.
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