Das Jahr endet, wie es für die FDP begonnen hat: in
einer tiefen Krise. Der einzige gravierende Unterschied ist
der Name des Parteivorsitzenden, über dessen Ablösung
spekuliert wird.
Wähnten vor zwölf Monaten wenigstens noch einige
Meinungsforschungsinstitute die FDP, damals noch unter dem
Vorsitz Guido Westerwelles, auf der Höhe der
Fünfprozenthürde, taxieren die Demoskopen die Partei
inzwischen einhellig im Bereich von drei Prozent, an der
Schwelle zur Bedeutungslosigkeit. Das ist die Bilanz des
neuen Vorsitzenden Philipp Rösler. Nicht nur der Altliberale
Gerhart Baum sieht die FDP inzwischen »in höchster
Lebensgefahr«. Wie schlecht es um die FDP bestellt ist,
zeigt sich auch an den Nachrufen, die jene publizistischen
Weggefährten, auf die die Partei in den vergangenen
Jahrzehnten stets bauen konnte, bereits vorsorglich
veröffentlichen. »Die FDP begeht gerade politischen
Selbstmord – das macht nichts«, schreibt die FAZ. Die »Idee
des Liberalismus« habe »Besseres verdient als diese
verwirrte Partei«, nimmt das Handelsblatt Abschied. Sogar
die Financial Times Deutschland, die zur Bundestagswahl 2005
noch eine explizite Wahlempfehlung zugunsten der FDP
abgegeben hatte, ist mittlerweile pessimistisch: Um noch
eine Chance zu haben, müsste sich die Partei »schon komplett
neu erfinden«, doch dazu fehlten ihr »die Kraft und das
Personal«.
Daran ändert auch nichts, dass die Mitglieder ihre Führung
in der vergangenen Woche noch einmal gestützt haben – manche
aus Überzeugung, die meisten aus schlichtem Desinteresse.
Nur knapp ein Drittel beteiligte sich an dem
Mitgliederentscheid zum »Europäischen
Stabilitätsmechanismus« (ESM). Dass davon eine knappe
Mehrheit der gültigen Stimmen für den Antrag des Vorstands
votierte, ist alles andere als ein Vertrauensbeweis. Die
44,2 Prozent für den Gegenantrag der Euro-Abweichler um den
Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler zeigen, wie tief
gespalten die Partei europapolitisch ist. Und wer weiß, wie
es ausgegangen wäre, wenn noch jene Wahlbriefe hätten
mitgezählt werden müssen, die keine Versicherung über die
Parteimitgliedschaft enthielten und deswegen nach Ansicht
der Zählkommission »nicht als Stimmabgabe zu bewerten«
waren. Zumindest wäre das notwendige Quorum an Stimmen
erreicht worden. Doch hätte dann auch noch der
Vorstandsantrag vorne gelegen? Die FDP bleibe »klar
proeuropäisch«, verkündete Rösler nach Bekanntgabe des
Ergebnisses – eine zumindest gewagte Behauptung.
Trotzdem hat die Abstimmung dem angeschlagenen Rösler eine
Verschnaufpause verschafft.
Nach einem völlig desaströsen Jahr, in dem die FDP bei
sieben Landtagswahlen scheiterte, hofft die Partei nun auf
den großen Befreiungsschlag bei ihrem traditionellen
Dreikönigstreffen Anfang Januar. Doch Rösler wirkt
überfordert und ideenlos. Eine wirkliche Ahnung, was die
Gründe für die tiefe Krise seiner Partei sein könnten, hat
er nicht. Stattdessen flüchtet er sich in Phrasen. »Jetzt
geht es darum, dass wir gemeinsam nach vorne schauen«,
lautet seine Parole. Auch zum Rücktritt seines
Generalsekretärs fiel Rösler nicht viel mehr ein. »Ich mache
mir keine Gedanken darüber, aus welchen Gründen Christian
Lindner zurückgetreten ist«, gab er zu Protokoll. Lindner
hatte vergangene Woche sibyllinisch mitgeteilt: »Es gibt den
Moment, in dem man seinen Platz frei machen muss, um eine
neue Dynamik zu ermöglichen.« Damit ließ er viel Platz für
Spekulationen.
Rösler wäre gut beraten, sich intensiver mit der
Amtsniederlegung Lindners zu befassen. Denn was auch der
konkrete Anlass gewesen sein mag, sie offenbart das
Scheitern eines Konzepts: Der 32jährige, der als großes
politisches Talent galt, hatte in seiner knapp zweijährigen
Amtszeit versucht, die FDP mit einem neuen Grundsatzprogramm
wieder intellektuell zu grundieren. Er beschwor dabei
liberale Traditionen und berief sich auf die Exponenten
sowohl der marktradikalen Richtung als auch des
linksliberalen Flügels: von Friedrich August von Hayek über
Ralf Dahrendorf bis zu Karl-Hermann Flach. Was inhaltlich
nicht zusammenpasst, wurde von Lindner rhetorisch passend
gemacht. Sein Ziel war eine Imageverbesserung, weg von der
kaltherzigen Partei hin zu einem »mitfühlenden
Liberalismus«. Lindner wollte seine Partei strategisch neu
aufstellen, wozu für ihn eine zumindest verbale
Rückbesinnung auf verschüttete liberale Grundwerte gehörte.
So setzte er vorsichtig laizistische und kirchenkritische
Akzente zur dezenten Abgrenzung von der Union. Immerhin
markierte das kirchenkritische Selbstverständnis einst die
entscheidende weltanschauliche Trennlinie, die die FDP davor
bewahrte, von der Union vereinnahmt zu werden.
Als Lindners Nachfolger ist Patrick Döring designiert.
Der Bundestagsabgeordnete ist Vorstandsmitglied bei zwei
Versicherungsunternehmen. Von daher dürfte es Döring nicht
schwerfallen, die FDP-Politik in höchsten Tönen anzupreisen.
Doch dem bisherigen Schatzmeister wird zwar ein enormer
persönlicher Ehrgeiz nachgesagt, aber auch, dass er
politisch schlicht und intellektuell limitiert sei. Döring
ist die Personifizierung der Krise der FDP, nicht ihr
Überwinder. Der Niedersachse ist ein politisches Ziehkind
des rechten FDP-Altpolitikers Detlef Kleinert, der lange
Jahre den »Schaumburger Kreis« in der FDP leitete. Diesem
Zusammenschluss des konservativen Wirtschaftsflügels steht
seit 1998 der heutige Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle
vor.
Mit dem Schaumburger Döring hat sich Rösler einen
Verbündeten an die Seite geholt, der ihm die rechte Flanke
vor etwaigen Putschgelüsten Brüderles absichern soll. Das
Bündnis mit dem strikt wirtschaftsliberalen Parteiflügel
bedeutet allerdings auch eine Absage an die von Lindner
gegen zahlreiche Widerstände versuchte Modernisierung der
FDP. Es ist die endgültige Kapitulation, nachdem die
»Boygroup« aus Rösler, Lindner und Daniel Bahr, dem
Vorsitzenden des starken nordrhein-westfälischen
Landesverbands und stellvertretenden Bundesvorsitzenden,
schon im Frühjahr nicht die Kraft und den Mut zu einem
radikalen Schnitt hatte, sondern sich mit einer
Personalrochade zufriedengab. Das böse Erwachen könnte
bereits nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein Anfang
Mai 2012 kommen, wenn auch hier die FDP aus dem Landtag
fliegt.
Die FDP hat prinzipiell zwei Möglichkeiten:
Sie könnte einerseits versuchen, wieder den Spagat zwischen
Wirtschafts- und Bürgerrechtspartei zu vollführen, also sich
auf die Lehre aus dem Scheitern des gespaltenen Liberalismus
in der Weimarer Republik besinnen. Die Erfolgsaussichten
stünden allerdings dank der grünen Konkurrenz schlecht, die
das Thema Bürgerrechte längst glaubwürdiger vertritt. Mit
dem Abgang Lindners hat sich die FDP von dieser Variante
verabschiedet. Erfolgversprechender wäre die
rechtspopulistische Variante, wie es die FPÖ in Österreich
oder die Partei von Geert Wilders in den Niederlanden
vorgemacht haben. Ausreichendes Wählerpotential wäre
sicherlich auch in der Bundesrepublik vorhanden, und manche,
wie der deutschnationale Politdesperado Jürgen Elsässer,
hatten bereits fest gehofft, dass bei einem Sieg der
Europa-Gegner beim Mitgliederentscheid der Weg in diese
Richtung geöffnet würde. Aber die Partei hat sich auch gegen
diese Möglichkeit entschieden. Wer die Auftritte von Frank
Schäffler verfolgt hat, weiß zudem, dass es schlichtweg am
notwendigen ausstrahlungsfähigen Personal hierfür fehlt. Ein
Jürgen W. Möllemann ist weit und breit nicht in Sicht.
Ist das Ende der FDP also unausweichlich? Es könnte
zumindest verfrüht sein, die Totenglocken zu läuten. Dass
sie auch bei der Bundestagswahl 2013 über die
Fünfprozenthürde kommt, ist allen derzeitigen Umfragen zum
Trotz keineswegs ausgemacht. Es hängt von der Konstellation
ab – und vom Willen des neoliberal-konservativen Teils der
Unionswählerschaft, die FDP als Funktionspartei noch einmal
ins Parlament zu hieven. Aus eigener Kraft jedoch dürfte sie
es nicht mehr schaffen.
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