Das Duo Kraft-Löhrmann hat bewiesen: In
Deutschland kann eine Minderheitsregierung funktionieren. Dafür winkt
Rot-Grün nun der Wahlsieg.
Hannelore
Kraft hat es eilig. Sie blickt nicht nach rechts oder links. Umkurvt
schnellen Schritts die Kollegen, die langsam aus den
Abgeordnetenreihen quellen. Eben ist die Wahl Joachim Gaucks zum
Präsidenten beendet, Bundestagspräsident Lammert ruft zum Büfett. Aber
nicht der Hunger treibt die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin
aus dem Plenarsaal des Reichstags. Der Flieger nach Düsseldorf wartet
nicht. Denn dort ist seit ein paar Tagen Wahlkampf. Ein Wahlkampf, den
niemand erwartet hatte, auf den niemand vorbereitet ist und für den
kaum Zeit bleibt.
Die Ministerpräsidentin hat ihn selbst eröffnet. Um
12.03 Uhr bat Hannelore Kraft am Mittwoch vergangener Woche im Landtag
ums Wort. „Wir stehen zur verfassungsrechtlichen Verpflichtung der
Schuldenbremse“, sagte sie mit getragener Stimme. „Für uns war und ist
es aber auch immer klar, dass zu einer verantwortungsvollen Politik
für Nordrhein-Westfalen gehört, in eine gute Zukunft zu investieren:
in Kinder, Bildung, Vorbeugung und in die Handlungsfähigkeit unserer
Kommunen.“
Schon nach ihren ersten Worten war klar: Der
Sozialdemokratin ging es nicht mehr darum, die eine oder andere
Oppositionsfraktion vor der entscheidenden Haushaltsabstimmung
vielleicht doch noch auf ihre Seite zu ziehen und damit die rot-grüne
Minderheitskoalition zu retten. Der Fall war für sie längst erledigt.
Nicht „taktische Spielchen“, sondern „klare Kante“ sei angesagt, rief
Kraft den Abgeordneten entgegen. „Dafür stehen wir, und dafür stehe
ich ganz persönlich.“ Am Ende wurde sie pathetisch: „Es geht um viel:
Es geht um das Wohl unseres Landes Nordrhein-Westfalen!“ Es war ihre
erste Wahlkampfrede, fünf Stunden später löste sich der Landtag auf.
Hannelore Kraft wirkte entschlossen und
überzeugend. Dabei war die „klare Kante“ nicht ihre Idee gewesen,
sondern die ihrer Stellvertreterin Sylvia Löhrmann. Mal wieder. Die
taktisch und strategisch versierte Grüne wollte sich die günstige
Gelegenheit nicht entgehen lassen. „Man kann und darf das Scheitern
nicht planen“, sagte sie der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
„Aber als FDP und Linke uns mit der zweiten Lesung erpressen wollten,
war der Casus Belli da.“ Die Grünen machten dicht, beriefen sich auf
eine verbindliche Absprache, sich von der Opposition nicht die Preise
hochtreiben zu lassen. Damit war das Aus für die rot-grüne
Minderheitsregierung beschlossene Sache.
Kraft hatte zunächst noch gezögert, nachdem ihr
mitgeteilt worden war, dass der Landeshaushalt bereits in der 2.
Lesung eine Mehrheit finden muss, um nicht zu scheitern. Gerne hätte
sich die 50-Jährige darum bemüht, mit der FDP oder zur Not auch der
Linkspartei einen Ausweg zu finden. So wie sie in der kurzen Zeit
ihrer Regentschaft immer eine Lösung gefunden hatte. 20 Monate
regierte Krafts „Koalition der Einladung“ mit wechselnden Mehrheiten
im bevölkerungsreichsten Bundesland. Und sie funktionierte nicht
schlecht: Gemeinsam mit der Linkspartei führte Rot-Grün ein
beitragsfreies Kita-Jahr ein, schaffte die Studiengebühren ab und
stellte die von der schwarz-gelben Vorgängerregierung drastisch
eingeschränkte Mitbestimmung im Öffentlichen Dienst wieder her. Mit
der CDU beschloss sie den als „Schulkonsens“ bezeichneten Einstieg in
den Ausstieg aus dem dreigliedrigen Schulsystem. Mit der FDP
vereinbarte sie einen „Stärkungspakt“ für die finanziell notleidenden
Kommunen.
Aus Fehlern
gelernt
Seit ihrem Amtsantritt im Juli 2010 war ihrer
Koalition in schöner Regelmäßigkeit ein vorzeitiges Ende prophezeit
worden. Als es tatsächlich so weit war, rechnete keiner damit. Allem
anfänglichen Zweifel zum Trotz hat Kraft das in der Bundesrepublik
ungewohnte, in etlichen skandinavischen Ländern jedoch gut
funktionierende Modell schätzen gelernt. Es habe „der Demokratie in
diesem Land gutgetan“, sagt sie. Nun ist das Politexperiment beendet.
Dass es nach der für den 13. Mai angesetzten Landtagswahl seine
Wiederauferstehung erlebt, ist unwahrscheinlich. Glaubt man den
Umfragen, sieht alles nach einer stabilen rot-grünen Mehrheit aus. Die
anderen Parteien schwächeln bedenklich.
Mit großer Freude beobachtet Kraft, wie sich der
CDU-Landesvorsitzende Norbert Röttgen in seinen eigenen
Karriereambitionen verheddert. Am Tag der Auflösung des Düsseldorfer
Parlaments präsentierte er sich noch kampfeslustig als ihr
Herausforderer. Doch der Bundesumweltminister verweigert bis heute
beharrlich die Antwort, ob er nach der Wahl auch als Oppositionsführer
nach NRW wechseln wird und verspielt damit die kleine Chance auf die
Sensation. Röttgen bleibt sich treu: Wagemutig ist er nur mit Netz und
doppeltem Boden. So war es schon 2006, als er nur unter der Bedingung,
sein Bundestagsmandat behalten zu können, Hauptgeschäftsführer des
Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) werden wollte. Durch sein
Lavieren demonstriert Röttgen, dass nicht mal er selbst daran glaubt,
die populäre Amtsinhaberin ablösen zu können. CDU-Wähler mögen keine
Vollkasko-Politiker.
Dabei hätte „Muttis Klügster“ aus dem Debakel
Norbert Blüms lernen können: Der damalige Bundesarbeitsminister hatte
1990 auch nur im Falle eines Wahlsiegs nach Düsseldorf gehen wollen –
und musste sich dafür von Johannes Rau als Kandidat auf Durchreise
verspotten lassen. Die Konsequenz: Blüm bescherte der CDU mit 36,7
Prozent das zweitschlechteste Ergebnis in der Landesgeschichte. Nach
den Umfragen sehen die Perspektiven heute noch deutlich schlechter
aus.
Rot-Grün kann die Neuwahlen so gelassen wie selten
angehen. Was auch daran liegt, dass Kraft aus den Fehlern ihrer
Vorgänger gelernt hat. Unter Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer
Steinbrück war das Verhältnis zwischen SPD und Grünen stets äußerst
gespannt. So unterschiedlich die drei auch waren, betrachteten sie
doch allesamt NRW als sozialdemokratisches Eigentum. Und duldeten die
Grünen höchstens als Mehrheitsbeschaffer auf Zeit, bis es endlich
wieder zur eigenen absoluten Mehrheit reichen würde. Aus ihrer tiefen
Abneigung gegenüber den schmuddeligen Ökopaxen machten Rau, Clement
und Steinbrück nie den kleinsten Hehl.
Hannelore Kraft pflegt andere, verträglichere
Umgangsformen, sie stammt aus einer Generation, die den
sozialdemokratischen Absolutismus nicht mehr aktiv miterlebt hat. Die
Diplom-Ökonomin trat erst 1994 in die SPD ein. Da waren die
Sozialdemokraten in ihrer Heimatstadt Mülheim an der Ruhr nach 40
Jahren selbstverliebter Herrschaft gerade sensationell abgewählt
worden. Mülheim wurde die erste Ruhrgebietsstadt, in der Schwarz-Grün
regierte – als „Notgemeinschaft gegen SPD-Filz und Genossenfilz“.
In der SPD ging es für die aus einer
Arbeiterfamilie stammende „Seiteneinsteigerin“ rasant bergauf. Im Jahr
2000 wurde sie erstmals in den Landtag gewählt, ein Jahr später holte
sie Clement als Europaministerin in sein Landeskabinett, und 2002
machte sie Steinbrück zur Wissenschaftsministerin. Als Rot-Grün 2005
die Landtagswahl gegen Schwarz-Gelb verlor, wurde Hannelore Kraft
Oppositionsführerin. Zwei Jahre später übernahm sie auch den
Landesvorsitz der Partei. Das war damals kein begehrter Posten.
Niemand in der SPD rechnete damals ernsthaft damit,
CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers nach nur einer Legislaturperiode
wieder stürzen zu können. Es kam bekanntlich anders.
Auch nach der Landtagswahl im Mai 2010 zögerte
Kraft lange, ob sie die einmalige Chance nutzen sollte, die ihr die
unklaren Mehrheitsverhältnisse boten. Das Risiko, wie Andrea
Ypsilanti und Heide Simonis in Hessen und Schleswig-Holstein bei der
Ministerpräsidentenwahl durchzufallen, schien ihr zu groß. Sie wollte
deshalb auf Nummer sicher gehen und lieber in der Opposition bleiben.
„Eine SPD-geführte Minderheitsregierung wird derzeit nicht
angestrebt“, ließ Kraft nach zahlreichen Sondierungsgesprächen noch
Mitte Juni den SPD-Landesparteirat einstimmig beschließen. Der
Beschluss hielt jedoch nur einen Tag. Auch damals war es Löhrmann, die
Kraft den nötigen Stoß versetzte. Deren Strategie des „Politikwechsels
aus dem Parlament heraus“ sei hilflos und werde nicht funktionieren,
warnte die Fraktionschefin der Grünen – und setzte Kraft selbstbewusst
die Pistole auf die Brust: Wenn sie „das Wagnis einer rot-grün
geführten Minderheitsregierung“ scheue, müsse die SPD eben in die
Große Koalition. Kraft müsse sich umgehend entscheiden, die Grünen
seien kein Partner im Wartestand. Sie entschied sich.
Berlin ruft
bereits
Seitdem duzen sich Kraft und Löhrmann – und führen
gemeinsam die rot-grüne Landesregierung an. Sie begegnen sich auf
Augenhöhe. Die beiden Frauen wissen um ihre gegenseitigen Stärken und
Schwächen. Es ist keine tiefe Freundschaft zwischen ihnen, aber eine
Beziehung, die von Loyalität und gegenseitigem Respekt geprägt ist.
Auch wenn mitunter ein gewisses sportliches Konkurrenzverhältnis
durchscheint. Eine kleine Begebenheit veranschaulicht das: Mitte
Dezember vergangenen Jahres lud die Landesregierung Journalisten zum
traditionellen Weihnachtsessen in die Staatskanzlei ein. Hoch oben in
der 11. Etage des Düsseldorfer Stadttors eröffnete wie üblich die
Ministerpräsidentin die Runde. Selbstverständlich habe sie eine lange
Rede vorbereitet, sie aber leider im Auto liegen lassen, flachste
Kraft und wünschte nach ein paar launigen Sätzen einen schönen Abend.
Jetzt hätte der erste Gang kommen können. Stattdessen jedoch ergriff
Löhrmann überraschend das Wort – und bilanzierte in aller
Ausführlichkeit und mit der größten Selbstverständlichkeit das
vergangene Jahr. Kraft verzog keine Miene. Doch sie nahm die
Herausforderung an. Erneut begab sie sich ans Mikrofon, um eine
zweite, jetzt ausführlichere und rhetorisch anspruchsvolle Rede zu
halten. Denn sie weiß: Rhetorik gehört nicht zu Löhrmanns Stärken.
Kraft genießt an Rhein und Ruhr eine hohe
Popularität. Sie präsentiert sich gerne pragmatisch, zupackend und
volksnah. Das kommt an. Die Rolle der „Landesmutter“ liegt ihr. So
sehr, dass Genossen bereits mit dem Spruch werben: „Im Mutterland der
Sozialdemokratie am Muttertag die Landesmutter wählen!“ Falls ihr der
Wahlsieg tatsächlich gelingen sollte, wäre sie eigentlich
prädestiniert für die nächste Herausforderung: die Bundestagswahl im
kommenden Jahr. Dass sie, anders als die bisher als
SPD-Kanzlerkandidaten Gehandelten Sigmar Gabriel, Peer Steinbrück und
Frank-Walter Steinmeier, bereits gezeigt hat, wie man Wahlen gewinnt,
wäre nicht der einzige Vorteil. Auch an der Parteibasis ist Kraft
beliebt. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende schaffte bei ihrer
Wiederwahl Ende des vergangenen Jahres ein Rekordergebnis von 97,2
Prozent. Mit dem von ihr propagierten Konzept einer vorbeugenden
Sozialpolitik entwickelte Kraft darüber hinaus die einzige praktisch
brauchbare Idee, die die SPD seit dem Desaster der Agenda 2010
hervorgebracht hat. In einem Duell zwischen Angela Merkel und
Hannelore Kraft ginge es nicht um Ost-Frau gegen West-Frau, sondern am
Ende um politische Alternativen.
Reizvoll daran ist, dass auch Kraft im Gegensatz zu
Gerhard Schröder keine Durchzieherin ist, keine „Basta!“-Politikerin.
Sie lotet aus, wägt ab, sucht Verständigung. Möglicherweise könnte
deshalb mit ihr ein abermaliger rot-grüner Versuch auf Bundesebene
nicht erneut im politischen Bankrott enden. Aber es wird keine Probe
aufs Exempel geben. Einen Fehler wie Röttgen will sie nicht begehen
und hat sich deshalb eindeutig festgelegt: „Es ist ausgeschlossen,
dass ich 2013 Kanzlerkandidatin der SPD werde.“ Ihr Herz schlage in
Nordrhein-Westfalen. Ob sie diesmal das letzte Wort behält?