Die Grünen streiten sich über die Spitzenkandidatur
für die nächste Bundestagswahl.
Nüchtern betrachtet gibt es politisch wichtigere Fragen als
die, ob die Grünen zur Bundestagswahl im kommenden Jahr mit
einem, zwei oder ganz vielen Spitzenkandidatinnen oder
-kandidaten antreten. Dass einer oder eine der ihren ins
Kanzleramt einziehen wird, ist eher unwahrscheinlich. Die
Bundesrepublik ist schließlich nicht Baden-Württemberg. Nach
den Verlusten in den jüngsten Umfragen ist dies inzwischen
sogar den Optimisten in der Partei wieder schmerzlich
bewusst geworden. Es geht also nur um Symbolik, um eine
Frage des Marketings. Aber womit sollte sich die der
Staatsräson verpflichtet fühlende Hilfsregierungspartei
derzeit sonst beschäftigen? Mit Personalien lässt sich
hervorragend jedes Sommerloch füllen.
Für die Grünen begann das Sommerloch dieses Jahr bereits
Anfang März. Da verkündete die 57jährige Parteivorsitzende
Claudia Roth in einem Interview mit der
taz, sie stelle
sich »zur Wahl, wenn es um die Besetzung eines Spitzenteams
für die Grünen geht«. Am liebsten würde sie mit einem
Quartett antreten, das »die Breite der Grünen repräsentieren
und viele Wähler und Wählerinnen ansprechen« könne. Gut
denkbar sei allerdings auch ein quotiertes Tandem.
Mit ihrer wohlkalkulierten Äußerungen zielte Roth darauf ab,
die Pläne Jürgen Trittins zu durchkreuzen. Der grüne
Bundestagsfraktionsvorsitzende hat sich längst vom
Exponenten der Parteilinken zur Nummer eins der Gesamtpartei
entwickelt. Auch wenn er sich bis heute nicht öffentlich zu
seinen Ambitionen geäußert hat, gilt es als offenes
Geheimnis, dass der 58jährige Trittin gerne in die
Fußstapfen seines einstigen Widersachers Joseph Fischer
getreten würde. Der mittlerweile pensionierte Oberrealo
hatte die Grünen als alleiniger Spitzenkandidat in den
Bundestagswahlkämpfen 2002 und 2005 angeführt. Auch Roth
hatte sich seinerzeit dafür ausgesprochen, die ansonsten bei
den Grünen obligatorische Frauenquote in seinem Fall
flexibel zu handhaben.
Die Chancen für Trittin schienen nicht schlecht zu stehen.
Die Realos, ohnehin keine ausgewiesenen Anhänger der Quote,
signalisierten Unterstützung. Denn bei ihnen herrscht
Frauenflaute. Zur Bundestagswahl 2009 hatten sie Trittin
noch Renate Künast an die Seite stellen können. Doch seit
deren Scheitern als Herausforderin von Klaus Wowereit (SPD)
bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen 2011 gilt die
56jährige Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion als
angeschlagen. Ihr Image ist ramponiert und auch innerhalb
des Realo-Lagers genießt Künast keinen größeren Rückhalt
mehr. Das Problem für die Parteirechte: Ihr fehlt es an
adäquatem Ersatz.
Deswegen hätten die Realos nichts dagegen einzuwenden
gehabt, diesmal Trittin als einzigen Spitzenkandidaten
antreten zu lassen. Nach dem Kalkül ihrer Strategen hätten
sie sich ihr »Zugeständnis« mit einer informellen Zusage der
Gegenseite abkaufen lassen können, dass bei der Wahl 2017
dann ein Realo zum Zuge kommt. An Aufstiegswilligen
männlichen Geschlechts fehlt es ihnen schließlich nicht. Ob
der 46jährige Cem Özdemir, der 41jährige Tarek Al-Wazir oder
der 40jährige Boris Palmer: Sie stehen längst bereit, um die
alte Garde abzulösen, die seit Jahrzehnten die Geschicke der
Partei bestimmt. Noch hätte keiner von ihnen eine Chance in
einem Machtkampf gegen Trittin. Doch Roth vereitelte mit
ihrer Ankündigung die Verwirklichung solcher Gedankenspiele.
Die Vorstellung, dass nun mit dem als gesetzt geltenden
Trittin und der extrovertierten Roth gleich zwei »Linke« die
Grünen in den Bundestagswahlkampf führen könnten, ist vielen
Realos ein Graus. Schließlich würde diese Variante einen
Bruch mit einer liebgewonnenen Tradition bedeuten – und zwar
auf ihre Kosten. Begründet wurde diese Anfang der neunziger
Jahre: Nach dem Abgang der Ökosozialisten um Rainer Trampert
und Thomas Ebermann vor, dann der Radikalökologen um Jutta
Ditfurth und Manfred Zieran nach der verlorenen
Bundestagswahl 1990 schlossen die verbliebenen
anpassungswilligeren Parteilinken um Ludger Volmer und
Jürgen Trittin einen Burgfrieden mit Fischers Realos.
Seitdem teilen sich auf Bundesebene die beiden
vorherrschenden Strömungen die zentralen Positionen in
Partei und Fraktion. Möglich wurde dieser Proporz durch die
Instrumentalisierung der Frauenquote, die bei den Grünen
auch für die Partei- und Fraktionsspitze gilt. So waren
stets zwei gleichberechtigte Posten zu vergeben. Linke und
Realos mussten sich nur noch verständigen, wer die Frau und
wer den Mann stellt.
Dass diese informelle Regelung bis heute Bestand hat, liegt
nicht zuletzt daran, dass sich die einst politisch konträren
Flügel längst zu Seilschaften gewandelt haben, deren
inhaltliche Differenzen marginal sind. Wenn es darauf
ankommt, wie zuletzt beim Fiskalpakt, steht das
Führungspersonal beider Lager Seit’ an Seit’ auch gegen
Abweichler in den eigenen Reihen. Nicht einmal der Konflikt,
ob die Grünen sich offen für schwarz-grüne Koalitionen
zeigen sollten, hat Substanz. Ganz pragmatisch gilt für die
Realos wie für die Linken: Es wird genommen, was zu haben
ist, und koaliert wird, mit wem es im konkreten Fall am
besten geht. Eine andere Herangehensweise wäre aufgrund der
geringen Unterschiede zwischen Union und SPD auch
irrational. Allerdings glaubt die Parteilinke im Unterschied
zu den Realos, dass die Proklamierung eines solchen »Kurses
der Eigenständigkeit« im anstehenden Bundestagswahlkampf
vermeidbare Stimmenverluste in der rot-grünen
Wechselwählerschaft bescheren könnte.
Das macht es den Realos schwer, trotz ihrer weiblichen
Personalnot Ansprüche anzumelden – wovon sich der Tübinger
Oberbürgermeister Boris Palmer jedoch nicht abhalten ließ.
Mitte Juli bezeichnete er Trittin und Roth zwar als »jeweils
für sich prominente und qualifizierte Persönlichkeiten«, die
jedoch die Partei »nicht in ihrer Breite repräsentieren«. Er
traue ihnen nicht zu, »auch bürgerliche Milieus in der
Mitte« zu gewinnen. Zwar ist auch Palmer nicht entgangen,
dass Trittin längst sein Bürgerschreckimage abgelegt hat und
sich in seinem staatstragenden Gehabe von keinem
Oppositionspolitiker übertrumpfen lässt. Doch das würde dem
Ex-KB-Mitglied nichts nützen: »Ich glaube, dass Menschen die
Bilder, die sie von Politikern haben, nicht schnell ändern.«
Palmer schlug die blasse Bundestagsvizepräsidentin Katrin
Göring-Eckardt als Alternative vor. »Mit ihr würden die
Grünen auch bürgerliche Wähler der Mitte oder kirchlich
orientierte Kreise gewinnen«, sagte Palmer in der
taz.
Göring-Eckardt, Präses der Synode der Evangelischen Kirche,
wurde nach der verlorenen Bundestagswahl 2005 gegen ihren
Willen als Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion
ausgemustert und befriedigt seitdem ihr Ego mit
Repräsentationsjobs.
Jenseits ihrer Christentümelei politisch
profillos, avanciert die 46jährige nun zur letzten
Hoffnungsträgerin der Realos. »Mit Katrin Göring-Eckardt in
einer grünen Spitzenformation könnten wir auch
wertkonservativere Wählerschichten stärker ansprechen«, hat
inzwischen auch der bayerische Grünen-Vorsitzende Dieter
Janecek entdeckt. Göring-Eckardt schweigt bislang.
Offenkundig wartet sie ab, wie sich die innerparteiliche
Stimmung entwickelt. Eine Niederlage gegen die an der Basis
beliebte Roth will sie nicht riskieren. Geht es nach den
bisherigen Planungen des grünen Bundesvorstands, hätte sie
noch bis Ende August Zeit, ihre Kandidatur anzumelden. Am
2. September entscheidet dann der Länderrat anhand der
Bewerbersituation, ob es zu einer Urwahl kommen soll. Das
grüne Sommerloch wird also noch eine Weile andauern.
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