Die SPD glaubt nicht an einen
Sieg bei den nächsten Bundestagswahlen, sonst hätte sie
nicht Peer Steinbrück zu ihrem Kanzlerkandidaten gemacht.
Zum
Schluss wurde es hektisch. Mehr als eineinhalb Jahre führte
sie ihr Schmierenstück auf, dann nahm die selbst ernannte
»Troika« der SPD ihre schlechte Inszenierung endlich Hals
über Kopf vom Spielplan. Noch bevor irgendein SPD-Gremium
darüber befinden konnte, präsentierten der Parteivorsitzende
Sigmar Gabriel und der SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende
Frank-Walter Steinmeier auf einer eiligst einberufenen
Pressekonferenz am Freitag voriger Woche Peer Steinbrück als
den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten für die
Bundestagswahl im kommenden Jahr. Eigentlich hätte die
Nominierung des ehemaligen Finanzministers später bekannt
gegeben werden sollen. »Nun kommt das Leben aber manchmal
anders, als man es plant«, sagte Gabriel.
Der Zeitpunkt hätte kaum ungünstiger gewählt sein können.
In ihrem Chaos gelang es der
SPD-Führung nicht einmal mehr, sich mit dem ehemaligen
Parteivorsitzenden Kurt Beck abzusprechen, der ausgerechnet
am selben Tag seinen Rücktritt als rheinland-pfälzischer
Ministerpräsident ankündigte. Auslöser der überstürzten
Präsentation Steinbrücks: Steinmeier hatte sich nicht mehr
länger zurückhalten können. Beim Hintergrundgespräch mit
Journalisten in der »West Lounge« im Souterrain der
nordrhein-westfälischen Landesvertretung im Berliner
Tiergarten plauderte er am Donnerstagabend aus, was er und
Steinbrück eigentlich noch bis nach der Landtagswahl in
Niedersachsen im Januar 2013, zumindest jedoch bis zu einem
kleinen Parteitag Ende November für sich behalten wollten:
dass das Rennen um die SPD-Kanzlerkandidatur kein offenes
mehr ist. Damit war es raus. Gabriel sah sich zum Handeln
genötigt. Die Öffentlichkeit ließ sich nicht mehr länger
belügen.
Als das Magazin
Cicero
genau eine Woche zuvor vorab gemeldet hatte, die SPD habe
ihre Kanzlerkandidatenfrage zugunsten Steinbrücks
beantwortet, hatte Steinmeier noch so getan, als sei nichts
entschieden und auch er weiterhin möglicher Kandidat. »Die
Entscheidung selbst werde ich allein treffen«, sagte er in
der ZDF-Sendung »Markus Lanz«. »Wie wir das mit Blick auf
das nächste Jahr entscheiden, werden wir Ihnen und der
Öffentlichkeit in ein paar Monaten mitteilen«, behauptete
er. Auch Steinbrück dementierte. Ebenso Gabriel: »Die
Personalfragen kommen nach der Programmatik.«
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles verkündete: »Es gibt
definitiv keinen neuen Stand in der K-Frage der SPD.« Daran
änderten »auch die verschiedensten Medienveröffentlichungen
nichts«. Das war kräftig geflunkert. Tatsächlich hatten sich
Gabriel, Steinmeier und Steinbrück längst intern
verständigt, wer von ihnen gegen Bundeskanzlerin Angela
Merkel antreten soll. Ihr Leugnen war nicht mehr als ein
Bluff. Statt für ein transparentes und demokratisches
Auswahlverfahren entschied sich die Parteispitze im
Willy-Brandt-Haus für »Hinterzimmerpolitik in einer
Herrenrunde«, wie es Volker Zastrow in der
FAZ
formulierte.
Die Nominierung
Steinbrücks ist ein Novum. Von Kurt Schumacher über Willy
Brandt bis zu Gerhard Schröder: Aus der Opposition heraus
entschied sich die SPD entweder für ihren jeweiligen
Parteivorsitzenden oder wenigstens für einen erfolgreichen
Ministerpräsidenten. Aber noch nie machte sie einen
Bundestagshinterbänkler zum Kanzlerkandidaten. »Er hat
Talente, die ihn zu einem starken Wahlkämpfer machen«,
schreibt Heribert Prantl in der
Süddeutschen Zeitung. Empirisch
belegen lässt sich diese Behauptung nicht. Einen Wahlkampf
erfolgreich bestritten hat Steinbrück jedenfalls noch nie.
Ihm kommt vielmehr das historische »Verdienst« zu, als
nordrhein-westfälischer Ministerpräsident seine Partei 2005
in ihrem einstigen Stammland in die Opposition geführt zu
haben – mit dem schlechtesten Ergebnis seit 1954. Bei der
vergangenen Bundestagswahl gelang es ihm nicht einmal,
seinen Direktwahlkreis zu gewinnen.
Deswegen konnte
Steinbrück 2009 nur über die nordrhein-westfälische
Landesliste der SPD erstmals ins Berliner Parlament
einziehen. Hier führte der 65-Jährige bislang eher das Leben
eines Politvorruheständlers. So rar er sich im
Bundestagsplenum machte, so umtriebig nutzte er die Zeit, um
jenseits des Politbetriebs seine kargen Abgeordnetenbezüge
aufzubessern. Eindrucksvoll bewies der ehrgeizige
Sozialdemokrat, dass er zumindest in eigener Sache
tatsächlich über jenen ökonomischen Sachverstand verfügt,
der ihm so gerne zugeschrieben wird. Kein anderer
Parlamentarier bringt es auf so viele gut dotierte Auftritte
wie der frühere Finanzminister. Von der Deutschen Bank über
die Citigroup bis zur Volksbank Geest: Kaum ein
Kreditinstitut ließ es sich nehmen, den vermeintlichen
»Bankenkritiker« einzuladen. Sie wissen, was sie an ihm
haben. Daran ändert auch sein in der vergangenen Woche
vollmundig vorgestelltes Papier zur »Bändigung der
Finanzmärkte« nichts. Süffisant bemerkte die
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
dazu: »Die Taten von früher beruhigen die Banker offenbar
mehr, als sie Steinbrücks Worte von heute beunruhigen.
Vielleicht wählen sie den Mann sogar.«
Steinbrücks veröffentlichungspflichtige
Nebeneinkünfte in dieser
Legislaturperiode summieren sich bislang auf knapp 600 000
Euro. Die reale Höhe der Zusatzeinnahmen dürfte indes
weitaus höher liegen, wohl deutlich über einer Million Euro.
Denn ein Bundestagsabgeordneter ist nur dazu verpflichtet,
seine Einkünfte ohne exakte Zahlenangabe in drei Stufen
anzugeben. Die von Steinbrück meist angegebene 3. Stufe
weist Einkünfte über 7 000 Euro aus und ist nach oben offen.
Hinter den einzelnen Posten kann sich also ebenso ein
Vortragshonorar von 7 001 Euro verbergen wie jene 50 000
Euro, die Steinbrück als feste Vergütung für seine
Aufsichtsratstätigkeit bei der Essener ThyssenKrupp AG
erhält. Zu seinen gewinnbringenden Aktivitäten gehört
darüber hinaus nicht zuletzt ein Autorenvertrag mit dem
Verlag Hoffmann & Campe. Mit seinem dort erschienenen
Bestseller »Unterm Strich« legte Steinbrück bereits 2010
eine Art Bewerbungsschreiben für die Kanzlerkandidatur vor.
In dem Buch prangert der gelernte
Diplom-Volkswirt die »ausgeprägte deutsche
Wohlfahrtsmentalität« an, beschwört die »Grenzen der
Transfergesellschaft«, verteidigt die Agenda 2010 und
spricht sich gegen eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze
aus. Außerdem plädiert er für eine noch restriktivere
Einwanderungs- und Migrationspolitik, die »zumindest dem
direkten Zulauf in das Sozialsystem einen Riegel
vorschiebt«. Scharf geißelt der rechte Sozialdemokrat den
»auch und gerade« in seiner Partei verbreiteten
»Sozialstaatskonservatismus«. Der bundesrepublikanische
Konsens habe lange Jahre »in dem Versprechen« bestanden,
»der Sozialstaat solle den sozialen Status jedes einzelnen
Bürgers erhalten und ihm einen durchschnittlichen
Lebensstandard garantieren«, schreibt Steinbrück. Doch das
sei »heute nicht mehr finanzierbar«. Der von ihm propagierte
»vorsorgende Sozialstaat« investiere hingegen »in die
Angebotsqualität seiner Bürger«. Seine Effektivität lasse
sich »nicht an der Größe seiner (Um-)Verteilungsmaschine und
der Höhe seiner Sozialsätze messen«.
Steinbrück beklagt, dass die SPD immer
noch vielfach als eine »Partei der Verlierer und
Zukurzgekommenen« wahrgenommen werde. Er setzt stattdessen
auf die »Mitte der Gesellschaft«, will eine Öffnung
»gegenüber dem aufgeklärten Bürgertum, dem der dumpfbackige
und konservative Teil der CDU zu viel und der
eindimensionale Liberalismus der FDP zu wenig ist«. Die in
den Souterrains der Gesellschaft beheimatete Wählerklientel
sei hingegen »höchstens um den Preis einer völligen
Verbiegung der Partei« zurückzugewinnen. Sein Vorschlag:
»Die SPD überlässt der Linkspartei ihre rund zehn Prozent
bundesweit, von denen sie ihr kaum etwas abjagen kann.«
Statt um jene Zurückgelassenen zu kämpfen, die »die
sozialdemokratische Reformpolitik der vergangenen Jahre als
fundamentalen und unverzeihlichen Angriff auf ihre
Interessen wahrgenommen« haben, sollten sich die
Sozialdemokraten lieber »auf die fetteren Weiden« verlegen,
beispielsweise auf Mittelständler oder die »disponierenden
Eliten«.
»Ihr müsst dem Kandidaten an der einen oder
anderen Stelle auch Beinfreiheit lassen«,
forderte Steinbrück am Samstag auf dem Landesparteitag der
nordrhein-westfälischen SPD in Münster. Die Parteilinke
dürfte die Drohung verstanden haben – und wird kuschen.
Schon seine überstürzte Nominierung ließ sie
parteisoldatisch über sich ergehen. Mehr als ein leises
Grummeln war nicht zu vernehmen. Statt aufzubegehren, hat
sie sich selbst ins Abseits gestellt. Für die schwächelnde
Linkspartei könnte sich die Nominierung Steinbrücks hingegen
als Glücksfall erweisen – wenn es ihr gelingt, sich nicht
nur mit sich selbst oder unrealistischen rot-rot-grünen
Koalitionsspielereien zu befassen. Der
rechtssozialdemokratische Egozentriker steht immerhin wie
kaum ein Zweiter für jene wirtschaftsfreundliche und
unsoziale SPD-Politik, die überhaupt erst Mitte des
vergangenen Jahrzehnts ein bundesweit spürbares Bedürfnis
nach einer linken Wahlalternative hat entstehen lassen, das
über die PDS-Hochburgen im Osten und ihre völlig
marginalisierten traditionslinken Verbündeten im Westen
hinausreichte.
»Wir setzen eindeutig auf Sieg und nicht auf
Platz«, tönt Steinbrück. Doch das
dürfte ein Wunschtraum bleiben. Denn dass sie sich für den
cholerischen Hanseaten entschieden haben, zeigt, wie tief
die Genossen weiterhin in der Krise stecken. Als
wahrscheinlichste Variante erscheint jedenfalls gegenwärtig
eine Neuauflage der Großen Koalition – mit der SPD als
Juniorpartner. Um nicht in die Steinmeier-Falle des
vergangenen Bundestagswahlkampfs zu gehen, hat das
Steinbrück zwar für sich persönlich ausgeschlossen, nicht
allerdings für seine Partei.
Die SPD beschäftige sich »nicht mit
Szenarien, die wir nicht anstreben und auch nicht wollen«,
verkündet er. Gleichwohl hat er bereits eine Zusammenarbeit
mit der Linkspartei oder der Piratenpartei definitiv
ausgeschlossen. Damit dürfte der Liebling des bürgerlichen
Politfeuilletons nur bei einem für die Sozialdemokraten
außergewöhnlichen und derzeit nicht absehbaren Wahlausgang
eine reale Chance auf die Kanzlerschaft haben. Derzeit noch
weit abgeschlagen hinter der Union rangierend, dürfte es für
die SPD nur dann zu ihrer rot-grünen Wunschkoalition
reichen, falls die Linkspartei, die FDP und die
Piratenpartei allesamt an der Fünfprozenthürde scheitern.
Schaffen die kleinen
Parteien hingegen den Sprung ins Parlament, gibt es für die
SPD nur noch die Hoffnung auf eine Ampelkoalition.
Steinbrück früherer Kommilitone Wolfgang Kubicki lobte zwar
bereits »die sehr kluge Entscheidung der SPD«. »Mit ihm
bietet sich für meine Partei eine weitere Koalitionsoption«,
sagte der schleswig-holsteinische FDP-Politiker. Allerdings
müssten dafür noch die Grünen mitspielen, die bei der
vergangenen Bundestagswahl noch ein Bündnis mit der FDP
ausschlossen. Im Fall einer Alternative zwischen
Rot-Grün-Gelb und Schwarz-Grün ist jedenfalls keineswegs
ausgemacht, wofür sich die Grünen entscheiden. Schließlich
erinnern sich nicht wenige in der Partei noch allzu gut
daran, wie kooperationsunfähig sich der Betonsozi Steinbrück
als Ministerpräsident während der gemeinsamen Regierungszeit
in NRW zeigte. Mit Merkel dürfte sich die Zusammenarbeit
jedenfalls nicht schwieriger gestalten als mit einem
SPD-Kanzler Steinbrück und der FDP.
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