08.11.2012 |
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Domäne Neubürgertum |
Von Pascal Beucker |
Die Grünen profilieren sich als Partei der
Besserverdienenden und profitieren von der wachsenden
Wahlabstinenz.
Die Spannung steigt ins Unermessliche. Vor Samstag soll
nichts aus den Uferhallen im Berliner Stadtteil Wedding nach
draußen dringen. Die 50 Auszähler mussten
Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben. Die Smartphones
sind weggeschlossen, es herrscht Twitterverbot. Wer macht
das Rennen bei der großen grünen Casting-Show: Jürgen
Trittin, Claudia Roth, Renate Künast, Katrin Göring-Eckardt
oder doch Werner Winkler, der vor Eloquenz nur so strotzende
Wunschkandidat der »Heute-Show«?
Die Grünen spielen Basisdemokratie. Per Urwahl bestimmen sie
das Duo, das die Partei in die Bundestagswahl im kommenden
Jahr führen soll. Mehr als die Hälfte der knapp
60 000Parteimitglieder beteiligten sich an der Auswahl
zwischen den vier Repräsentanten und Repräsentantinnen des
Parteiestablishments sowie elf mehr oder weniger skurrilen
Basis-Grünen, deren Namen schnell wieder vergessen sein
werden: vom »aktiven Christen« Thomas Austermann bis zum
Tiermediziner Peter Zimmer. »Objektiv sind diese komischen
Figuren, die gegen die Prominenten bei den Grünen antreten,
so chancenlos wie wir vor 25 Jahren – mit dem Unterschied,
dass wir das nicht wussten«, kommentiert süffisant der
frühere grüne Bundestagsfraktionsvorsitzende Thomas Ebermann
das lustige Schaulaufen, das die Grünen in den vergangenen
Wochen inszenierten.
Anders als zu jenen Zeiten, als bei den Grünen noch
Ökosozialisten wie Ebermann so leidenschaftlich wie
aussichtslos mit den »Realos« um Joschka Fischer um den Kurs
der Partei rauften, geht es allerdings auch längst nicht
mehr um eine Richtungsentscheidung, auch wenn sich von den
vier aussichtsreichen Bewerbern und Bewerberinnen zwei den
Parteilinken und zwei den Parteirechten zurechnen. Die einst
politisch konträren Flügel haben sich zu Seilschaften
transformiert, deren inhaltliche Differenzen marginal sind.
Ohnehin ist die Frage der Spitzenkandidatur bei den Grünen
nicht wirklich von besonderer politischer Relevanz. Egal,
wen die Parteibasis aufs Schild hebt: Da die Bundesrepublik
nicht Baden-Württemberg ist, kann es als eher
unwahrscheinlich angesehen werden, dass ein grünes
Parteimitglied ins Kanzleramt einziehen wird. Es geht also
nur um Symbolik, um eine Frage des Marketings. Oder um es
mit den Worten von Jürgen Trittin zu sagen: »Wir haben auf
diese Weise ziemlich viel Berichterstattung organisiert, und
das ist im Vorwahlkampf gut.«
Die Grünen können derzeit ganz zufrieden sein.
Nachdem die Stimmung wegen sinkender Umfragewerte etwas
abgekühlt war, hat sich ihre Laune in den zurückliegenden
Wochen wieder deutlich verbessert. Ihre Casting-Show
bescherte Medienpräsenz und die Oberbürgermeisterwahl in
Stuttgart auch wieder ein lang ersehntes Erfolgserlebnis.
Seit dem Sieg von Fritz Kuhn in der baden-württembergischen
Landeshauptstadt steigen auch die Umfragewerte wieder. Die
Selbstzweifel sind verflogen. »Die Grünen könnten aus dem
Sieg lernen, dass sie sich nicht als Anhängsel von jemandem
darstellen, sondern eigenständig und selbstbewusst ihren Weg
gehen sollten«, sagte Trittin nach der Stuttgarter Wahl. Als
»Kraft der linken Mitte« positioniert er seine Partei. »Die
Alternative zur CDU ist grün«, verkündete der grüne
Fraktionsvorsitzende im Bundestag mit der ihm eigenen
Bescheidenheit.
Der Befund von Trittins früherem KB-Genossen Thomas Ebermann
fällt etwas nüchterner aus: »Dort, wo der Wohlstand ist,
haben die Grünen ihre großen Erfolge.« Das sei auch kein
Wunder, schließlich seien sie inzwischen »die Partei der
Sozialignoranten«, konstatiert der Ex-Grüne. »Wenn die
Behauptung, man sei Kraft der Mitte, nicht so ein
ideologischer Kampfbegriff wäre, wäre es mutmaßlich richtig,
den Grünen zu konzedieren, dass das zutrifft«, sagte
Ebermann im Gespräch mit der
Jungle World.
Die Grünen vergraulten die Wähler von den Urnen, denn sie
leiteten »aus ihren Prozenten einen angeblichen Auftrag zum
Umkrempeln der Politik ab, der massenweise Wähler der
unteren sozialen Schichten verprellt«, sagte
Forsa-Geschäftsführer Manfred Güllner unlängst kühn dem
Spiegel. Eine krude Behauptung: Es sind zwar tatsächlich die
Bildungsfernen, die Abgehängten und Prekarisierten, die den
Urnen überdurchschnittlich oft fernbleiben. Allerdings hat
das wohl kaum damit zu tun, dass beispielsweise der
baden-württembergische Ministerpräsident Winfried
Kretschmann aus seinem Wahlerfolg »ein Mandat für einen
radikalen Politikwechsel« herausläse, wie Güllner behauptet.
Nichts läge Kretschmann ferner. Auch wenn der rechte
Sozialdemokrat hier mal wieder Demoskopie mit Demagogie
verwechselt, ist der wahre Kern seiner steilen These, dass
die Grünen zumindest Profiteure wachsender Wahlabstinenz
sind. Dass ihr Stimmenanteil umso höher ist, je niedriger
die Wahlbeteiligung ausfällt, hat einen banalen Grund: Zur
Stimmabgabe können sich gerade diejenigen immer weniger
motivieren, bei denen die Begeisterung für die Grünen von je
her unterdurchschnittlich ausgeprägt ist. Würden allein
Menschen mit Hauptschul- oder ohne jeden schulischen
Abschluss wählen, »dann hätten die Grünen schlechte Chancen,
die Fünf-Prozent-Hürde sicher zu nehmen«, konstatiert der
Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter in seinem Buch
»Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der
besserverdienenden Mitte in Deutschland«. Zum Glück für die
Grünen geht jedoch genau jenes Klientel, das in den
Arbeiter- und Arbeitslosenquartieren der Republik beheimatet
ist, immer seltener zur Wahl.
In den »urbanen« Quartieren, in denen sich das besser
situierte Grünen-Klientel tummelt,
ist die Wahlmotivation dagegen weitaus höher. Die
Kernwählerschaft rekrutiert sich aus der Alterskohorte der
Babyboomer, aufgewachsen während der Bildungsexpansion der
sozialliberalen Ära und sozialisiert in den sozialen
Bewegungen der siebziger Jahre. Als die Partei 1983
erstmalig in den Bundestag einzog, waren zwar noch zwei
Drittel ihrer Anhänger berufslos. »Doch die meisten darunter
hatten Abitur, studierten, verfügten über
Mobilisierungserfahrung, waren artikulationsmächtig, besaßen
also die entscheidenden Ressourcen für einen späteren
Aufstieg«, schreibt Franz Walter. Mittlerweile in der Mitte
der Gesellschaft angekommen, seien die Anhänger der Grünen
»nunmehr die Besserverdienenden und Hochgebildeten in der
deutschen Republik schlechthin«. Das Rebellionsmilieu von
einst hat sich zum Elitenmilieu gewandelt, zu jenem
postmaterialistischen Neubürgertum, für das
Marketingstrategen und Zeitgeistsoziologen das Akronym Lohas
(»Lifestyle of Health and Sustainability«) erfunden haben.
Die Reaktorkatastrophe von Fukushima und die
Auseinandersetzungen um das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21«
mögen ihren gehörigen Beitrag zum hervorragenden Abschneiden
der Grünen bei der baden-württembergischen Landtagswahl 2011
geleistet haben. Aber ihr Erfolg im bürgerlichsten Teil der
Republik ist nicht nur ein Produkt kurzzeitiger
Erregungszustände und saisonaler Stimmungsschwankungen, wie
sich nicht nur an dem Sieg von Kuhn in Stuttgart im
vergangen Monat ablesen lässt. In den Groß- und
Universitätsstädten sind die Grünen seit langem schon auf
Augenhöhe mit der CDU, der über Jahrzehnte hegemonialen
Partei in Baden-Württemberg. Immerhin wurde mit Horst Frank
in Konstanz bereits 1996 erstmalig ein Grüner zum
Oberbürgermeister gewählt. Dieses Kunststück wäre im selben
Jahr wohl auch Rezzo Schlauch in Stuttgart gelungen, hätte
sich die SPD zu seiner Unterstützung durchringen können,
anstatt gleich zwei aussichtslose eigene Kandidaten in die
Stichwahl zu schicken. Mit Dieter Salomon sitzt seit 2002
ein Grüner im Freiburger Rathaus, seit 2007 amtiert Boris
Palmer in Tübingen. Wie Kretschmann und Kuhn gelten sie
allesamt als »Oberrealos«, sind politisch irgendwo zwischen
pragmatischen Liberalen und modernen Konservativen zu
verorten und jeglicher umstürzlerischer Ideen gänzlich
unverdächtig.
»Die Grünen sind breit ins Bürgertum eingedrungen«,
jubilierte Fritz Kuhn nach seinem Wahlsieg. Zumindest ist
das bürgerliche Lager vielfältiger geworden. Das klassisch
konservative Altbürgertum ist auch weiterhin eine Hochburg
der Union. Aber der Union ist der Anschluss an das neue
Bürgertum bislang nicht gelungen. Kuhn drückt das so aus:
»Die Atmung für das moderne großstädtische Lebensgefühl ist
bei der CDU verklebt.« Bei den Grünen sieht das anders aus:
»Das wohlhabende Bürgertum, das mit dem Porsche zum
Bio-Laden fährt, akzeptiert Bewerber wie Kretschmann und
Kuhn dank ihrer politischen Erfahrung und weil sie auch
grünen Kandidaten zutrauen, Ökologie und Ökonomie
miteinander zu versöhnen«, bringt es Hans Peter Schütz auf
Stern Online auf
den Punkt.
Das Neubürgertum ist die Domäne von Kretschmann, Kuhn und
Kumpanen, die schon vor mehr als zwei Jahrzehnten erkannt
haben, dass linke Traditionsreste, die einst zum
Gründungskonsens der Partei zählten, nur jene zu
verschrecken drohen, die mehr zu verlieren haben als ihre
Ketten. Sie hätten frühzeitig »angefangen, die neue Partei
in Baden-Württemberg strategisch auf Mehrheitsfähigkeit
auszurichten oder zumindest weit über linke
Langhaar-Studierende mit Sozialismusfaible hinaus«, schreibt
anerkennend ihr größter Fan, Peter Unfried, in der
taz. Auf jeden
Fall gehört zu ihrem Erfolgsmodell, den utopischen
Überschuss, der die Grünen in ihren Anfangsjahren prägte,
konsequent über Bord geworfen zu haben. »Es erscheint mir
geradezu aberwitzig, eine ökologische Partei mit den
Begriffen ›links‹, ›emanzipativ‹ oder ›fortschrittlich‹
geistig fundieren zu wollen«, befand Kretschmann bereits
1991. Mittlerweile ist der vom Maoismus zum Katholizismus
konvertierte erste grüne Ministerpräsident mit einer
Zustimmungsrate von 78 Prozent der beliebteste Politiker im
Schwabenland. Zum Glück ist Baden-Württemberg nicht überall. |
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