22.08.2012 |
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Das Islam-Experiment |
Von Pascal Beucker |
MUSLIME Als erstes Bundesland führt Nordrhein-Westfalen
bekenntnisorientierten Islamunterricht ein. Noch gibt es weder
Lehrplan noch qualifiziertes Personal, trotzdem spricht
Schulministerin Löhrmann von einem "Signal" Wenn am heutigen Mittwoch an Rhein und Ruhr die
Schule beginnt, steht für einige Muslime ein neues Fach auf dem
Stundenplan, das sie bisher nur von ihren christlichen Mitschülern
kannten: Religionslehre. Als erstes Bundesland führt
Nordrhein-Westfalen den so genannten bekenntnisorientierten
islamischen Unterricht ein. Der Start ist überschaubar, vieles noch
ein Provisorium. Aber es ist ein Anfang. "Die Einführung ist ein
Signal für die Integration der Muslime in Deutschland", freut sich
die grüne Landesschulministerin Sylvia Löhrmann. An 44 von insgesamt 3.038 Grundschulen im Land
beginnt das Experiment, das im Dezember vergangenen Jahres von SPD,
Grünen und CDU im Düsseldorfer Landtag beschlossen wurde. "Wir gehen
bei der Einführung des islamischen Religionsunterrichts planvoll und
schrittweise vor", sagt Ministerin Löhrmann. So werden zunächst nur
2.500 der insgesamt 320.000 muslimischen SchülerInnen das neue
Angebot wahrnehmen können. Auch einen Lehrplan gibt es noch nicht.
Er soll bis zum Sommer 2013 fertiggestellt sein. Speziell
qualifiziertes Personal fehlt ebenfalls. Die ersten theologisch
ausgebildeten ReligionslehrerInnen werden die Universitäten erst
2019 verlassen. Zunächst einmal übernehmen 40 bisherige
IslamkundelehrerInnen den Job. Es ist ein Schritt zur Beendigung einer
Ungleichbehandlung. Erstaunlich aber wahr: Die konfessionsgebundene
schulische Glaubenslehre genießt in der Bundesrepublik besonderen
verfassungsrechtlichen Schutz. Nicht Deutsch oder Mathematik - nur
der Religionsunterricht findet im Grundgesetz besondere Erwähnung.
Dort ist festgeschrieben, dass er an öffentlichen Schulen ein
ordentliches Lehrfach zu sein hat und "in Übereinstimmung mit den
Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt" wird. Die
NRW-Landesverfassung schreibt vor, dass Lehrpläne und Lehrbücher "im
Einvernehmen mit der Kirche oder Religionsgemeinschaft" zu bestimmen
sind und auch die ReligionslehrerInnen "der Bevollmächtigung durch
die Kirche oder durch die Religionsgemeinschaft" bedürfen. Das
sichert der entsprechenden religiösen Vereinigung sehr weitgehende
Einflussrechte. Keine Anerkennung Das Problem für die Muslime: Ihren
Organisationen fehlt bislang die Anerkennung als
Religionsgemeinschaft - was bis heute als formalrechtliche
Begründung dient, ihnen nicht die gleichen Rechte zuzugestehen wie
den Kirchen. Da es jedoch gleichzeitig dem Staat
verfassungsrechtlich untersagt ist, ein bekenntnisorientiertes
Angebot nach eigener Fasson zu kreieren, fiel islamischer
Religionsunterricht bislang aus. In NRW setzten die jeweiligen Landesregierungen
darum auf Hilfskonstruktionen. Seit 1986 können muslimische
SchülerInnen im Rahmen des "muttersprachlichen
Ergänzungsunterrichts" an einer, meist in türkischer Sprache
gehaltenen "islamkundlichen Unterweisung" teilnehmen. 1999 wurde
zusätzlich das kulturwissenschaftlich orientierte Fach "Islamkunde
in deutscher Sprache" eingeführt, das auch nicht an ein Bekenntnis
zum Islam gebunden ist. Nun soll ein achtköpfiger Beirat das Dilemma
lösen, keinen adäquaten Ansprechpartner auf muslimischer Seite zu
haben und trotzdem eine Gleichbehandlung der Religionen zu
erreichen. Die eine Hälfte ist mit VertreterInnen der
Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib), des
Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD), des Verbands der
islamischen Kulturzentren (VIKZ) sowie des Islamrats besetzt. Die
vier anderen Mitglieder wurden vom Schulministerium im Einvernehmen
mit den im Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM)
zusammengeschlossenen Verbänden bestimmt. Für die Übergangsphase bis
2019 ist der Beirat als eine Art "Ersatzreligionsgemeinschaft"
sowohl an der Auswahl der LehrerInnen als auch der Lehrpläne und
-bücher beteiligt. Umstrittene Lösung Schulministerin Löhrmann spricht von einer
"Brücke". Wäre man der "reinen Lehre" gefolgt, hätte dies bedeutet,
dass es auf absehbare Zeit keinen islamischen Religionsunterricht
geben könnte. Der Landtag habe deshalb "zu Recht entschieden, nicht
abzuwarten, bis sich islamische Religionsgemeinschaften im Sinne des
Staatskirchenrechts gebildet haben". Die Lösung ist umstritten. Die
damals noch im Landtag vertretene Linkspartei stimmte gegen die
Novelle des Schulgesetzes. Die FDP enthielt sich, weil sie den
gewählten Weg für "rechtlich zu riskant" hielt. In der
vorangegangenen Landtagsanhörung hegten Verfassungsrechtler Bedenken
über den zu großen Einfluss des Schulministeriums, der die Gefahr
berge, einem Staatsislam Tür und Tor zu öffnen. Auch die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor sieht die derzeitige Beiratskonstruktion kritisch. Sie sei zwar "im Prinzip sehr erfreut" über die Einführung des islamischen Religionsunterrichts, der ein "längst überfälliger Schritt" sei. Aber der Einfluss der im KRM zusammengeschlossenen Islamverbände sei zu stark. Obwohl sie nur gerade mal 20 bis 30 Prozent der Muslime in Deutschland vertreten würden, werde ihnen "durch die Hintertür die Quasianerkennung als alleinige Repräsentanz der Muslime erteilt". Ditib, Islamrat, VIKZ und ZMD würden einen traditionell-konservativen Islam vertreten, der legitim und notwendig sei, aber alleine nicht die Mehrheit der Muslime ausmache. "Es gibt auch andere, zeitgemäßere Sichtweisen", sagt die Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes. Außerdem sei der Beirat rein sunnitisch zusammengesetzt. Damit werde er dem Anspruch nicht gerecht, alle islamischen Strömungen mit Ausnahme der Aleviten, die bereits einen eigenen Unterricht haben, zu erfassen: "Die Schiiten sind nicht direkt berücksichtigt."
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Religiöser Pluralismus Bei der Anerkennung religiöser Vielfalt nimmt
Nordrhein-Westfalen schon länger eine Vorreiterrolle ein - auch wenn
die Dominanz von Katholiken und Protestanten unangefochten ist.
Katholischen Religionsunterricht besuchten im vergangenen Schuljahr
995.370 SchülerInnen, den evangelischen 790.507. Die öffentlichen Schulen des Landes können
darüber hinaus jüdischen, christlich-orthodoxen sowie
islamisch-alevitischen Unterricht anbieten. Allerdings sind hier die
TeilnehmerInnenzahlen überschaubar. Den jüdischen Religionsunterricht besuchten 1.059 SchülerInnen an 40 Schulen. Das 1985 eingeführte Angebot für das ost- und südosteuropäisch geprägte orthodoxe Christentum nahmen 3.493 SchülerInnen an 67 Schulen wahr. Den 2001 eingerichteten altorientalischen syrisch-orthodoxen Unterricht absolvierten 1.503 Kinder an 63 Schulen.
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